Zum Gesamtüberblick Zur vorigen Seite Zur nächsten Seite Zur letzten Seite (Inhalts- und Abbildungsverzeichnis)
Konrad Klose, Geschichte der Stadt Lüben, Verlag Kühn Lüben, 1924, S. 452/453
- 452 -

ten. Da die Hypnose, wie wir heute wissen, bei gewissen Nerven-
krankheiten, wie z. B. der Hysterie, eine Heilkraft darstellt, so wandte
sie mein Vater in diesem Sinne an, und seine Erfolge hätten ihm
beinahe den Ruf eines Wunderdoktors verschafft, aber die Sache
wurde seiner ehrlichen Natur unheimlich, und er gab sie auf.
Schalm war es auch, der das Talent des Korkbildschnitzers
Fellnagel entdeckt und gefördert hat. Als ich diesen Mann kurz
vor seinem Lebensende in Neustädtel besuchte, und er mir seine
unverkauften Kunstschätze, den Kölner Dom, das Primkenauer
Schloß und eine ganze Idealstadt "Johannisburg" gezeigt hatte,
habe ich einen längeren Aufsatz über sein schlichtes Leben und sein
Werk in der "Schlesischen Zeitung" veröffentlicht, den ich hier
nicht wiederholen kann. Uns Kinder interessierte ja auch damals
nicht seine Kunst, sondern das bewegliche Krippel, das er alljähr-
lich in seiner Wohnung zur Schau stellte. Da sah man die Geburt
Christi, die Menge der himmlischen Heerscharen und die Weisen
aus dem Morgenlande, man sah aber auch einen Eisenbahnzug
dahinstürmen und in einem Tunnel verschwinden. Und um diesen
Gegensatz zu mildern, hatte er ein Kloster eingeschoben, zu dem
Nonnen in langer Reihe pilgerten. Das alles wurde von einer
Magd in Bewegung gesetzt, die unter den Tischen hinter einem
Vorhange verborgen war. Wenn einmal eine Stockung eintrat,
hob Fellnagel den Vorhang und rief in die Unterwelt hinab:
"Du, Guste, dreh ock! De Nunnen bleiben stiehn!" Das war
freilich ein arger Dämpfer für unsere kindlich-gläubigen Vor-
stellungen.
Jenseits des Pulverturmes führte die Glogauer Straße -
damals hieß sie noch nicht Breite Straße - über die tiefe Ein-
senkung des alten, nun zu gärtnerischen Anlagen benützten Wall-
grabens und hier, vor der Promenade, dort wo jetzt das Kaiser-
denkmal steht, befand sich das Akzisehäuschen. Die Akzise
- also wohl Mahl- und Schlachtsteuer - war aber längst abge-
schafft, und so hatten in dem kleinen altertümlichen Bau sich zwei
ältere Fräulein - ich glaube, sie hießen John - einen Laden
eingerichtet. Jetzt ist das alles "der Erde gleichgemacht".
Wir wollen aber die innere Stadt nicht verlassen, sondern
drehen um und gehen durch die Kirchgasse zur Schule. Welche
Erinnerungen erweckt dies Gebäude, das die neue Zeit nur wenig
verändert hat, in mir! In einem Jahre war ich von der Korn-Malchen
im Lesen, Schreiben und Rechnen so weit gefördert worden, daß
ich wohl die untersten Klassen der Volksschule überspringen konnte.
So steht mir als der erste meiner Lehrer im Gedächtnis Friedrich
Koschel, ein langer, hagerer Mann mit einer leisen, etwas heiseren
Stimme und schwarzen, eindringlich blickenden Augen. Meine
gute Handschrift verdanke ich ihm; in der Religionsstunde wußte
er uns oft zu Tränen zu rühren. Gewissermaßen sein Gegenstück
war der Organist, Günther, klein und rundlich; er war groß in
- 453 -

der Botanik, aber nur wenig ist davon in mir hängen geblieben.
Dann war der Kantor Klär, ein alter müder Mann, der viel
Unglück in seiner Familie zu tragen hatte. Wenn er im Gesange
uns auf der Geige begleitete, fielen ihm die Augen zu. Noch älter
war Knittel, der Mädchenlehrer - in den oberen Klassen waren
die Geschlechter getrennt -. Er war schon der Lehrer meiner
Mutter gewesen und schrieb, wenn ich nicht irre, noch mit der
Gänsefeder. - Die oberen Knabenklassen leiteten der Konrektor
Reiche und der Rektor Dausel. Beide waren "studierte" Männer,
eigentlich Theologen von Fach. Reiche war klein, sein Gesicht glatt
rasiert, schmal, sehr intelligent, mit einer stark gebogenen Nase
geziert: das borstige graue Haar trug er kurz geschnitten. Er
war ein ganz vortrefflicher Lehrer; besonders verstand er es gut,
uns an der Hand der Grammatik in die Anfangsgründe der
lateinischen und französischen Sprache einzuweihen. Er suchte be-
sonders den Verstand der Schüler auszubilden. - Sein Kollege,
Rektor Dausel, war älter und stand wohl nicht mehr recht auf der
Höhe; ein ziemlich großer Mann mit rundem bartlosen Gesicht
und goldener Brille, die Hand mit einer Sende bewaffnet, so steht
er in meiner Erinnerung. Ach diese Sende! - einst war sie ein
glattes Stück Rohr von der Rotang-Palme gewesen. Aber Dausel
hatte die Gewohnheit, im Herumgehen - peripatetisch - zu
lehren, vor dem Schüler stehen zu bleiben und jede Frage durch
einen Hieb zu bekräftigen, der das linke Ohr strich und auf die
Schulter niedersauste. Durch diesen, zwar harmlosen, aber oft
wiederholten Gebrauch löste sich die Sende bald in ihre einzelnen
Fasern auf, die dann durch einen umgewickelten Bindfaden not-
dürftig zusammengehalten wurden und das sonst gefürchtete
Instrument weniger gefährlich erscheinen ließen. Nur in der
Physikstunde blieb der Herr Rektor bei seinem Buche auf dem
Katheder sitzen; aber weil er auch da die ersprießliche Bekräftigung
seiner Fragen nicht entbehren mochte, hatte er sich eine etwa drei
Meter lange Sende angeschafft, mit der er wohl sein Opfer bis
auf die letzte Bank erreichen konnte. Trotz dieser Schrullen hat
aber auch er Anspruch auf meine lebhafte Dankbarkeit. Noch heute
betrachte ich es als ein großes Glück, daß ich eine solche klein-
städtische Elementarschule bis zu 12 Jahren, die erste Klasse zwei
Jahre lang, besuchen, und so die nützlichsten Kenntnisse mir viel
fester einprägen konnte, als viele meiner späteren Mitschüler auf
dem Gymnasium und der Universität. Und auch für die körperliche
Ausbildung hatte dieser Umstand seine Vorteile. Zwar Turn-
unterricht hatten wir nicht - der galt wohl damals zur Zeit der
Reaktion unter Mühler als ein demokratisches Erziehungs-
mittel -, aber wir hatten doch einen Turnplatz, die dreieckige
Wiese neben dem Schießhause, wo wir fast täglich dem Ballspiel
frönten und es darin zu einer Gewandtheit brachten, um die uns
mancher heutige Tennisspieler beneiden könnte. Oder wir zogen