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Konrad Klose, Geschichte der Stadt Lüben, Verlag Kühn Lüben, 1924, S. 454/455
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im Herbste hinaus auf die abgemähten Felder und übten Kriegs-
spiele mit allen Mitteln kindlicher Strategik, oder wir verfertigten
uns selber große Papierdrachen und ließen sie - eine Vorahnung
der Fesselballons - stundenlang in der Luft verharren, die physi-
kalischen Gesetze vom Parallelogramm der Kräfte ins Praktische
übertragend, oder, unsere Schützengilde nachahmend, gaben wir
dem Tischler - er hieß Dobrolow und wohnte im letzten Hause
der Breslauer Chaussee links - genaue Anweisungen, wie er uns
mit dreifach übereinander gelegten Bogenschienen aus Eschenholz
eine Armbrust konstruieren sollte, die unsere kleinen Bolzen -
der Schlosser Petschke auf der Tiefen Gasse stellte sie her - bis
zum Reservevogel der hohen Vogelstange werfen konnte. Man
sieht, die neuesten Bestrebungen der kriegerischen Jugenderziehung
sind garnicht so neu; nur lagen sie damals vor 60 Jahren "unter
der Schwelle des Bewußtseins". Und alljährlich, am 28. August,
feierte die Schule, dank dem Vermächtnis eines Kinderfreundes,
das große Kinderfest. Alle Klassen zogen, festlich geschmückt, unter
Trommelschlag und Musik hinaus zum Schießhaus. Wir Jungens
mit der Armbrust oder dem Blaserohr auf der Schulter, daran
ein "Pukettel" befestigt war. Die Mädchen spielten wohl Ringel-
reihen, Blindekuh und Topfschlagen; darum kümmerten wir uns
aber nicht; wir übten die Künste Wilhelm Tells, schossen mit dem
Blaserohr nach der Scheibe, mit der Armbrust nach dem grell-
bunten Holzvogel auf der Stange, und den besten Schützen kürten
wir zum König. Er wurde zum Einzuge mit einer Guirlande
schräg über die Brust geschmückt. Und wenn aller Kaffee getrunken
und alle Würstel - Stasinowsky machte sie - verzehrt waren,
zogen wir heim: "Jetzt, Trommler, frisch voraus - Und trommle
uns nach Haus!" sangen wir, und zum Schluß: "Die Freude ist
entflohn, - Doch wie ein heller Ton; - Er schwingt sich durch
das Leben fort, - Begleitet uns von Ort zu Ort - Und macht
die Seele munter, - Ja munter".
Im Jahre 1858 beschlossen die Stadtväter, an die Elementar-
schule, deren oberste Klasse ein Schüler, wie ich selbst an mir
erfuhr, schon mit 10 Jahren erreichen konnte, eine "höhere
Bürgerschule" anzugliedern. Zur Organisation dieser Anstalt
berief man einen außerordentlich tüchtigen Pädagogen, den Dr.
Eduard Schmidt. Dieser noch junge Mann war für Lüben eine
ungewohnte Erscheinung. Eine feine, biegsame Gestalt, ein glatt
rasiertes Gesicht mit goldener Brille, das schlichte Haar sorgsam
über die Ohren gekämmt, so daß es hier auf jeder Seite - wie
bei unsern heutigen Modedamen - einen Buckel bildete, - so
trat er eines Tages in unsere Rektorklasse ein. Sein Anzug war
untadelig nobel. Er trug einen braunen, gutsitzenden Rock vom
feinsten Tuch, die hellen Beinkleider wurden von Strippen unter
den Sohlen faltenlos stramm gezogen, auf der Straße bei
rauherem Wetter umfloß ein weicher Havelock - das erste Klei-
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dungsstück dieser Art in Lüben - würdevoll seinen Körper. -
Mit Feuereifer ergriff er sofort seine Aufgabe. Auf riesigen
Papierbogen entwarf er mit seiner charaktervollen Handschrift
Lehr- und Stundenpläne. Sein Ziel war, die Sexta, Quinta
und Quarta eines humanistischen Gymnasiums zu bilden. Zu
diesem Zwecke prüfte er eingehend das vorhandene Schüler-
material. Da ergab sich - es war etwa Michaelis 1858 -, daß
er nur meinem etwas älteren Mitschüler Killmann und mir die
Qualität von Quintanern zusprach, die die Aussicht hätten, nächste
Ostern nach Quarta versetzt zu werden, und um das zu erreichen,
gab er uns beiden - unentgeltlich - in seiner Wohnung täglich
mehrere Privatstunden, die sich oft bis in den späten Abend aus-
dehnten. Bald lasen wir fließend unsern Cornelius Nepos und
fingen an, griechische Buchstaben zu malen.
Ein zweiter wissenschaftlicher Lehrer für Geographie, Ge-
schichte, Französisch wurde in der Person des Konrektors Heinrich
berufen, ein hagerer, sanfter Herr, aus dessen blassem, falten-
reichen Gesichte man gar keinen Schluß auf sein Alter machen
konnte; eine stille, poetische, nachgiebige Natur. Ostern 1859
wurde die neue Schule mit allen möglichen modernen Lehrmitteln
eröffnet. Die erste Klasse war Quarta, aber da wir beiden Be-
vorzugten sie doch nicht füllen konnten, so bildeten wir die
erste Abteilung, und in die zweite wurden noch etwa 10 Schüler
aufgenommen. Es war eine Lust, unter Dr. Schmidt zu lernen.
Die erste Abteilung machte reißende Fortschritte; wir erledigten
in dem einen Jahr nicht nur das Pensum der Quarta, sondern
auch fast das ganze der Tertia; am Schluß lasen wir Cicero und
Ovid, Xenophon und sogar Homer; dabei wurden Fächer wie
Deutsch, Literaturgeschichte, Geschichte, Mathematik keineswegs
vernachlässigt. Der Lehrer wollte eben zeigen, was er leisten
könnte; im März 1860 begleitete er uns persönlich nach Liegnitz,
um uns beim Direktor Müller zur Aufnahme in die Obertertia
prüfen zu lassen. Vielleicht hätten wir sogar die Prüfung für die
Sekunda bestanden, aber ich wenigstens war ein so kleiner Knirps,
daß mir die vorzeitige Beförderung sicherlich nicht zum Vorteil
ausgeschlagen wäre. Während dieses Schuljahres wurde der
hundertjährige Geburtstag Schillers durch einen Festaktus
gefeiert, bei dem ich als Prämie Schillers Gedichte erhielt. Ich
besitze das Buch noch heute, und wenn ich es erblicke, denke ich mit
inniger Dankbarkeit zurück an die Lübener Schule und ganz be-
sonders an meinen großen Wohltäter, Dr. Eduard Schmidt, der
dann später - Gutsbesitzer in der Gegend von Hansdorf ge-
worden ist.
Schule und Kirche gehörten in Deutschland noch immer inner-
lich zusammen, und in Lüben sind sie auch äußerlich benachbart.
Das große evangelische Gotteshaus, in dem ich getauft bin, sah
in meiner Kindheit etwas verwahrloster aus als jetzt, aber zu-