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willen. Es ist so weit kommen, daß man nit allein für lebendige
und verstorbene Seelen, sondern auch für zeitliche Not, daß ich
nit sage, für unvernünftige Tiere Messen gehalten und des
Sakraments gebraucht hat...". Das war die Kehrseite der
glänzenden Außenseite des mittelalterlichen Kirchenwesens. Sie
fehlte gewiß auch in Lüben nicht. Aber die Zeit war nahe, wo
auch hier die Prophezeiung Schwenckfelds in Erfüllung ging:
"Es gehet eine neue Welt daher, die alte stirbet abe".
Die alte Pforte
nach einer in der evang. Kirche befindlichen kalligraphischen Tafel von 1745.
Das Gebäude rechts von der Kirche ist das alte Schloß, links das Rathaus. |
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IV. Kapitel
Das Jahrhundert der Reformation
Nicht in revolutionären Stürmen, auch nicht im radikalen
Bruch mit den bestehenden Formen hielt die Reformation in
Lüben ihren Einzug. Die Wittenberger Weise schob sich allmählich
in die bestehenden Ordnungen hinein, ohne sie niederzureißen.
Sie fand deshalb selbst bei denen keinen nennenswerten Wider-
stand, welche am alten Glauben festhielten. Deshalb geht es nicht
an, einen Zeitpunkt bestimmen zu wollen, an dem die Reformation
in Lüben ihren Anfang genommen haben soll. Die Jahreszahl
1524, welche am zweiten Pfeiler der Kirche, vom Altar aus, noch
bis in das XIX. Jahrhundert gestanden hat, kann höchstens die
Bedeutung gehabt haben, daß in der zweiten Hälfte dieses Jahres
das Mandat Herzog Friedrichs II. erging, durch welches für die
Herzogtümer Liegnitz-Brieg-Wohlau angeordnet wurde, "ut
absque ullius doctoris humani etiam ipsius Lutheri respectu ad
S. Scripturae normam et regulam doceretur" (ohne alle Rücksicht
auf einen menschlichen Lehrer, selbst auf Luther, ist nach der
Richtschnur und dem Maßstab der heiligen Schrift zu lehren309).
Ein Mann hat von Anfang an einen bestimmenden Einfluß
auf die Umgestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Lüben aus-
geübt, nämlich Kaspar von Schwenckfeld in Ossig310). Ende 1489
daselbst geboren, hatte er auf mehreren Hochschulen theologische
Studien getrieben, ohne indes die Weihen empfangen zu haben,
war dann nach der Sitte seiner Zeit in den Hofdienst getreten
und im Sommer 1515 nach Brieg zu seinem Landesherrn Georg I.
gekommen, als dieser sich mit der pommerschen Prinzessin Anna
vermählte. Dort schloß er sich schon im Winter 1517/18 der neuen
Lehre an und kam Ende 1518 als überzeugter Anhänger Luthers
309 Das Mandat existiert im Wortlaut nicht mehr; inhaltlich skizziert
ist es bei Fr. Hoffmann "Caspar v. Schwenckfelds Leben und Lehren"
Tl. I 1877.
310 cf. zum folgenden meinen Aufsatz "Schwenckfeld und die
Schwenkfelder in Lüben" im Korrespondenzblatt des Vereins für Ge-
schichte der ev. Kirche Schlesiens Bd. XI, 2. |