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Konrad Klose, Geschichte der Stadt Lüben, Verlag Kühn Lüben, 1924, S. 428/429
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habe er ihr dann gedient? Übrigens habe er auch nicht alles gut
gemacht; die ihm anvertrauten Wege hätten sich verschlechtert,
selbst auf der Polkwitzer Chaussee sei ein Wagen in den Löchern
versunken. Trotzdem habe Schäffer die Gratifikationen der
Regierung ruhig eingesteckt. - Der Hieb saß, Schäffer wußte
nichts zu erwidern und begnügte sich mit der Erklärung: "Mein
Weg ist der, den die Revolution Berlins, die Revolution Deutsch-
lands mir vorschreibt". Vorsichtigerweise hielt er sich aber fortan
mehr im Hintergrunde. Die Volksversammlungen wurden zu
einer ständigen Einrichtung, bereiteten aber selten ungemischte
Freude. Wohl war meist Volk da, aber die Redner fehlten. Ge-
legentlich geschah es, daß der zweite Redner lediglich Variationen
der Rede des ersten lieferte, dafür aber seine Worte mit heftigem
Fuchteln des Stocks bekräftigte. An einem Sonntage stellte sich
eine Menge Leute aus Stadt und Land ein, aber kein Redner
erschien. Ein andres Mal bekam das Publikum eine gelehrte
Auseinandersetzung zu hören, die alle langeweilte, ein drittes Mal
waren wohl drei Redner vorhanden, aber der eine, ein jüdischer
Herr, bot, wie der Berichterstatter meldet, "die Persiflage einer
Volksrede im jüdisch-mauschelnden Dialekt". Schon die Anrede:
"Hauches Publikum", "Hauchgeehrte Bergerschaft" bildeten keinen
Ohrenschmaus.* Allmählich schliefen die Volksversammlungen ein;
die Hörer blieben weg, da sie selten auf ihre Rechnung kamen.
Statt dessen bildeten sich Vereine, um die Bürger überhaupt erst
politisch zu schulen. Die radikaldemokratische Strömung fand in
Lüben wenig Boden. Der gesunde Sinn der Bürgerschaft war im
Grunde allem aufhetzenden Treiben abhold. Anfang Mai entstand
ein vaterländisch-konstitutioneller Verein, dessen Leiter Burkmann,
später Rechtsanwalt Kretschy war; am 9. September 1848 wurde
der Bürgerverein unter Burkmanns Leitung begründet. Er wollte
der Förderung der städtischen Interessen dienen, allerdings nicht
ohne politischen Einschlag.
Die mit großem Enthusiasmus im März gebildete Bürger-
wache wurde nachgerade zum Gespött. Ein Schankwirt, der am
ersten Osterfeiertage zum Wachdienst beordert war und von 11 Uhr
ab in der Steinauer Vorstadt patrouillieren sollte, legte sich
schlafen. Darob große Entrüstung, zumal es sich herausstellte,
daß er es immer so zu machen pflegte. Bei anderer Gelegenheit
erschienen von 6 Männern nur 3, die sich zudem noch allerlei
Jokus leisteten. Um mehr Zug in die Sache zu bringen, ver-
öffentlichte man die Namen der Säumigen und der Radaubrüder.
Als aber das Stadtblatt einen Bürgersmann bloßstellte, der auf
der Wache Lärm und Unfug verübt hatte, regte sich der Korpsgeist
der andern; der eine verschwand nach der ersten Patrouille, der
andre erklärte, er ließe sich nichts befehlen, der dritte gab seine
Armbinde ab usw. Notgedrungen wurden die Wachen eingestellt.
Uneingeschränkte Freude bereitete den Lübener Bürgern

* Beschämend, dass Pastor Klose hier antisemitische Tendenzen bedient. Besonders unangenehm fällt auf, dass er sich nicht mit dem Inhalt der Rede auseinandersetzt, sondern ausschließlich die jiddische Sprache lächerlich macht. Heidi
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damals die Presse, für die keine Zensur bestand. Unter dem
Schutze der Anonymität konnte jeder seinem Herzen Luft machen.
Es entstand ein wahrer Sport, sich gegenseitig unangenehme
Dinge zu sagen und seinen privaten Ärger vor der Öffentlichkeit
breitzutreten, ob man sich nun über die neuen Lesebücher in der
Schule oder die Privilegien der Schützengilde empörte. Am
24. Juli tagte im Gasthof zum [gelben?] Löwen eine Versammlung
von 172 Lehrern aus Niederschlesien, um Anträge bezgl. der Schule
und des Lehrerstandes zu beraten. Zum Abgeordneten für die
Provinzialkonferenz wurde Kantor Rosemann in Mühlrädlitz ge-
wählt, der mit Tränen der Rührung die Wahl annahm. Ein
Nebenbuhler und Gegner griff die Sache auf und erklärte im
Stadtblatt der Gewählte möge bei der Konferenz lieber schweigen
als "flennen", oder die Vertretung dem Konrektor Reiche über-
lassen, "der sein Herz nicht in den Augen, sondern auf der Zunge
trage". Dem also Geschmähten standen die Kollegen mit kräftigen
Worten bei, und massive Grobheiten hagelten auf den Angreifer
nieder. - Übler erging es dem Buchdrucker Ende und dem Glaser
Warmbrunn, welche einer Volksversammlung in Seebnitz bei-
wohnten. Ein junger jüdischer Handelsmann Perls im schäbigen
Sommerrock und niedergetretenen Schlafschuhen, ohne Halstuch,
war Redner, Schriftführer und Leiter in einer Person und erging
sich in wüsten Ausfällen gegen Regierung, Polizei u. dergl. Die
beiden Lübener sprachen dem Wirte ihr Erstaunen darüber aus,
daß sich die Seebnitzer solch einen Versammlungsleiter gefallen
ließen. Ihre Bemerkungen hörte die Mutter des Perls; sie be-
gann sofort in kreischendem Ton zu schimpfen, andere stimmten
ein, schließlich kam es zu einer regelrechten Attacke, sodaß die
Lübener mit Mühe und Not ihren Wagen erreichten.
Aber auch scherzhafte Dinge liefen unter. Das Stadtblatt
war Organ für Lüben, Steinau, Raudten und Polkwitz und
meldete auch die welterschütternden Ereignisse aus den Nachbar-
städten. In Raudten bestand ein Freikorps und ein National-
verein, die aufeinander eifersüchtig waren. Der Verein gönnte
dem Korps nicht die deutsche Kokarde und störte dessen Fest durch
eine Katzenmusik. Infolgedessen entbrannte eine lebhafte Zeitungs-
fehde über die Frage: "Geht Deutschland in Raudten unter?" -
Die Meinungen blieben geteilt. - Steinauer Bürger regten sich
darüber auf, daß das dortige Kirchengewölbe an den Händler
Kohnstädt vermietet sei und verlangten mit Bezug auf Luc. 19
eine Tempelreinigung. Umgehend erfolgte die geharnischte Er-
klärung, das Gewölbe sei seit 600 Jahren verpachtet, ohne daß
in dieser Zeit die Geistlichkeit verdächtigt worden sei. Dazu der
kraftvolle Schluß Esther 7, 10: "Also hängte man Haman an den
Baum". -
So ging der Sommer unter allerlei Reibungen dahin; das
Gleichmaß der Arbeit sorgte aber dafür, daß die Köpfe sich nicht allzu-

* Pastor Klose beklagt sich, dass die 1848er Revolution in Seebnitz mit "wüsten Ausfällen" gegen Regierung und Polizei einherging. Das ist lächerlich. Wie ein evangelischer Pastor den Auftritt des Redners für antijüdische Stimmungsmache benutzt, lässt ahnen, welchem Hass die Lübener Juden zehn Jahre nach dem Erscheinen der Chronik unter den Nazis ausgesetzt waren. Heidi