Zwei Karten mit Ansichten vom Schloss Groß Reichen, geschrieben 1903 und 1904 von Valentin J. an seinen Freund Fritz Letzner, Herrschaftlicher Diener in Lublinitz O/S im Kreis-Ständehaus.
Schloss Groß-Reichen Kreis Lüben
21.10.1903.
Bester Freund!
Trotzdem ich von Dir nichts höre, habe ich dennoch Deinen
Geburtstag nicht vergessen. Wenn ich auch weit entfernt
bin, sollen meine Wünsche nicht deshalb minder sein.
Ich wünsche Dir nun liebster Fritz zu Deinem neuen
Lebensjahr alles Glück der Erde und Gottes reichsten
Segen. Mögen alle Deine Wünsche in Erfüllung
gehen. Ein kleines Geschenk folgt in nächsten Tagen.
Ist zu Weihnachten ein Zusammentreffen nicht möglich?
Gib bitte auch ein Lebenszeichen von Dir. Mir gefällt es hier
großartig und würde nicht mehr nach ... wollen.
Nun sei gegrüßt von Deinem treuen Freund V. J.
Schloss Gross-Reichen Kreis Lüben
Am 16.II.1904.
Mein lieber Fritz. Vielen herzlichen Dank für das reizende
Geschenk. Ich freue mich wirklich sehr darüber. Es ist sehr
niedlich. Jetzt muß ich schon anfangen zu sparen. Ich
freue mich schon auf deinen Besuch, mußt aber kommen.
Also nochmals vielen Dank. Viele Grüße
allerseits. Bis dahin herzlichste Grüße
dein getreuer Freund Valentin J.
Gestern kam Frau Gräfin aus Breslau noch
8 wöchigem Krankenlager. Abends brachte
Herr K. seine Glückwünsche
mit. J.
Schloss Großreichen 1925
Spione im Schloßpark Groß Reichen
Seit es Groß-Reichen gab, gab es auch ein Schloß. Nun ist man ja in Schlesien nie kleinlich gewesen, und solcher Großzügigkeit ist es wohl auch zu verdanken, daß manches Bauwerk als Schloß bezeichnet wurde, das nach strengeren Maßstäben keines gewesen wäre. Aber unser Schloß war ein richtiges!
Neu erbaut erst kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, fehlte ihm, was sonst die alten Herrensitze mehr unsichtbar als dem Auge erkennbar umgibt: jenes feine Gespinst aus Verwitterung und langsamem Verfall, an dem Jahrhunderte weben müssen und darum sich dann der Kranz aus Sage und Legende wie von selbst windet. Immerhin wurde es auf demselben Platz errichtet, auf dem schon das alte Schloß gestanden hatte, und für die fehlende Patina sah sich der Guts- und Schloßherr Hensel gewiß reichlich entschädigt durch Lichte und Neuzeitlichkeit und Komfort. Die stilvollen Räume werden auch so manchem Fest im Ring des Jahres den Rahmen gegeben haben. Erntedankfeiern und Jagdgesellschaften zum Beispiel. Aber auch das Sommersingen am Lätare-Sonntag gehört hierher, zu dem sich alle Kinder in der großen Halle einfanden, die immer noch mit der Erntekrone des Vorjahres geschmückt war.
Doch, was wäre das Schloß ohne den weiträumigen Park gewesen, mit gepflegten Wegen und uraltem Baumbestand. Gruselecke nannten wir Kinder den Süd-Ost-Winkel, wo sich das Mausoleum der Hensel befand. Und wenn wir bei Dunkelheit durch das Gässel gingen, das sich zwischen Park und Friedhof hinzog, hörten wir dann nicht aus den hohen Eichenkronen der Eule Ruf: Komm mit, komm mit? Wie die meisten Schlösser der Ebene war auch das unsrige von einem breiten Wallgraben umgeben, auf dessen Eise sich zur Winterszeit die Kinder tummeln konnten. Freilich, Zugbrücken, so richtig nach Art alter Burgen, gab es nicht. Die Brücken der Ost- und Westauffahrt, die geradewegs zum Ober- bzw. Unterhof führten, waren aus harten Quadern. Wohl für Jahrhunderte erbaut, wie auch das Schloß. War es das wirklich?
Es will scheinen, als wäre das Schloß ein Jahrhundert zu spät erbaut worden. Denn kaum, daß es fertig war, begann der Krieg 1914/18, und sein Ende war auch das der Latifundien. Es folgten Inflation und wirtschaftlicher Niedergang, Notverordnungen und Zwangswirtschaft und schließlich die Übernahme des verschuldeten Gutes und Schlosses durch die Niederschlesische Siedlungsgesellschaft. Wahrend die etwa 600 Morgen Ackerland auf Siedlerstellen umgelegt wurden, erwarb Schloß und Wald ein oberschlesischer Industrieller namens Nowak. Nach dessen Tode verkauften es seine Erben der Deutschen Reichsbahn, der es bis zum 27. Januar 1945 diente. Von einer Begebenheit aus diesen letzten Jahren soll hier nun berichtet werden:
Es war im Winter 1942/43, dem vierten Kriegswinter. Die Finsternis jener Tage rührte nicht allein von der Jahreszeit und den Verdunkelungsvorschriften. Sie kam aus tieferen Bereichen.
Die meisten Männer waren im Krieg, und wer zu Hause war, hatte vielfältige, oft drückende Pflichten. Überall war Unruhe! Diese jedoch ließ sich nun nicht mit der allgemeinen Bedrohung erklären, die über uns schwebte. Sie kam groteskerweise aus der Eitelkeit jener, deren kleines Nest plötzlich nicht mehr ganz so unbedeutend erschien. Seit ein paar Jahren bestand nämlich im nahegelegenen Vorderheide ein größerer Industriebetrieb, der die geheimnisumwitterte Bezeichnung WIFO führte, und nur Eingeweihte durften wissen, daß diese vier Buchstaben die Abkürzung von ,,Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft" bedeuteten. Dann waren in das mehr oder minder verwaiste Schloß hohe, höhere, ja allerhöchste Gäste gekommen. Damals wurden bekanntlich zahlreiche Verwaltungsstellen aus der von Luftangriffen immer ärger bedrohten Reichshauptstadt in ländliche Bezirke verlegt. Nach Groß-Reichen kamen hierbei Teile eines Reichsministeriums, wobei es sich um die Eisenbahnabteilungen des Verkehrsministeriums handelte. Und - es war einfach nicht zu fassen: Im Schloß wohnten Ministerialdirigenten!
Als nun eines Tages im Park eine trefflich verborgene Hütte entdeckt wurde, in der man außer einem Revolver Gerät fand, das offensichtlich der Funknachrichtentechnik zu dienen geeignet war, lag es nicht in der Luft, sondern auf der Hand, daß hier Spione am Werke waren. Schließlich gab es ja genügend der Spionage würdige Objekte. Die Kunde von dem Agentennest verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und Frau X, die es über den Gartenzaun von ihrer Nachbarin zugetragen bekam, quittierte diese Nachricht so: "Sattersch, sattersch, a su woas hoa iech lange kumm saan." Dann ging alles sehr schnell. Der Gendarm wurde benachrichtigt, und dieser ordnete an, daß die Landwacht (nicht zu verwechseln mit dem Volkssturm, den gab's erst ab 1944) das Nest zu bewachen habe, bis sich eben die mit Sicherheit zurückerwarteten Agenten wieder einfanden. So vergingen ein paar Tage und ein paar Nächte! Doch das Nest blieb leer.
Noch heute erfaßt mich ehrliche Reue, denke ich an die braven Landwachtmänner, die nach schwerer Tagesarbeit sich nun noch die Nacht um die Ohren schlagen mußten, in Erwartung der Spione, die niemals kamen. Irgendwo muß "es" dann undicht geworden sein, einer konnte das Geheimnis nicht mehr für sich behalten, und so war's dann schnell heraus und herum, daß nicht Feinde am Werke waren, sondern, "doaß die verflischten Jungluder wieder amoal woas oagestallt hottn". Drakonische Urteile erwarteten uns, die wir im Grunde nichts weiter getan hatten, als im Stile der damaligen Zeit zu spielen. Weil wir aber vor der "Obrigkeit" noch genügend Respekt hatten, erfüllten wir widerspruchslos die gemachten Auflagen. Danach war das Nest abzubrechen und aus dem Park zu entfernen. Weil aber nun die ganze Geschichte für manchen zum Ärgernis geworden war, und jene, die so schnell den Kopf verloren hatten, nicht auch noch ihr Gesicht verlieren wollten, sollte wenigstens das Verfahren für uns demütigend sein. Nicht etwa im Abenddämmern durfte "abgerüstet" werden. Die Missetäter sollten gesehen werden, sogar den Transportweg schrieb man uns vor. Nicht etwa das schmale Gässel durften wir benutzen, sondern den Ostausgang des Schloßparkes und damit durchs halbe Dorf, damit der Weg der Schande auch lang genug wurde. Aber - Verärgerung und geplatzte Eitelkeit gebaren wohl nie weise Urteile, und auch hier lag ein Fehler im Kalkül. Denn als wir unseren Handwagen, beladen mit Brettern und Latten, Telefondrähten und zerrissenen Zeltplanen (der Revolver, dessen Trommel sich längst nicht mehr bewegen ließ, wurde eingezogen!) durchs Dorf zogen, wurde allgemein gelacht, und zwar sehr herzlich, was zu damaliger Zeit nicht oft geschah. Frau X. hatte uns nicht gesehen. Auch des Rätsels Lösung erfuhr sie von ihrer Nachbarin, die sie mit Mutterwitz quittierte: "Nu sattersch, doas hoa iech mer doch bahle geducht!"
"Seitdem es Groß-Reichen gab, gab es auch ein Schloß .. ." Ich wünschte, daß der geneigte Leser spontan frage, ob es denn Groß-Reichen nicht mehr gebe? Selbstverständlich gibt es unser Dorf noch: sogar zweimal! Einmal als steinernen Zeugen in Schlesien und zum andern in unserem Herzen und Sinnen! Aber da ich Dorf und Schloß im ersten Satz meines Berichtes zusammen erwähnte, mußte ich das Perfekt wählen, weil es das Schloß nicht mehr gibt. Monate nach der Besetzung Groß-Reichens wurde es - nachdem die Weinvorräte verzehrt waren - in Brand gesteckt. So sah ich es im Sommer 1945 zum letzten Male...
Oskar Sperling (1929-2000) in LHB 17/1971