Oasen in der Heide
Von Oskar Hinke
Aus: "Führer durch die Lübener Landschaft", Heimatbüchlein der Ortsgruppe des Riesengebirgsvereins Lüben, 1928/1931
Wenn der wunderschöne Monat Juni mit seiner Blütenpracht und seinem Vogelgesang einzieht, dann regt sich in der Brust jedes Naturfreundes der Wandertrieb. Mit Rucksack und Wanderstab ausgerüstet, zieht er in Gottes freie Natur, um die herrlichen Wunder zu beschauen und Aug' und Herz fesseln zu lassen. Auch unsere oft geschmähte Heidegegend hat derartige aufzuweisen, die oft tief eingebettet in den blühenden Schluchten des Katzengebirges liegen.
Laß dich, verehrter Leser, einmal eine Fußwanderung durch diese Talgründe nicht verdrießen, ich will dir gern Führer sein. Von unserer Kreisstadt Lüben führt der Weg durch das schmucke Dörflein Mallmitz in die Kleine Heide. Die hinter dem langgestreckten Dorfe liegenden Felder zeugen von des Landmannes fleißiger Tätigkeit, und nach kurzer Wanderung durch dieselben gelangen wir in das Waldesdunkel der Kleinen Heide. Unter gemischtem Waldbestand von Nadel- und Laubholz wächst gleich am Eingang in den Wald eine Seltenheit unserer Ebene, die Felsenbrombeere, die mit ihren weichen, biegsamen Stacheln und dem glänzenden Dreiblatt im Spätsommer ihre reifen, aber roten saftigen Früchte zeigt. Im Frühling begegnen wir hier auch der vielbeliebten Speisemorchel, und vom Sommer bis Herbst hinein findet der Pilzsammler Pfifferlinge, Steinpilze, Grünreizker, Blutreizker, Rehpilze u. a.
Ausschnitt aus der von Oskar Hinke gestalteten Kartenbeilage zum Heimatbüchlein des RGV 1928/31
Nach kurzer Wanderung gelangen wir zu den auf der linken Seite liegenden "Damentischen", einer geräumigen, aber jetzt der Tische und Bänke beraubten Laube, die im Gegensatz zu den früheren "Herrentischen" der Großen Heide ein beliebter kurzer Spaziergang waren. Hier steht am Wege eine vom Riesengebirgsverein errichtete Bank. Ein breiter Querweg, vom Dorfe Guhlau kommend, bildet ein Stückchen weiter die Grenze des städtischen Besitztums. Mit einem Schlage ändert sich das Bild. Schritten wir vorher durch wohlgeratenen Waldbestand, so umgibt uns jetzt ein einförmiger, zum Teil kümmerlicher Kiefernbestand. Durch tiefen Sand watet unser Fuß, und das erklärt uns auch den Unterschied. Nach kurzer Wanderung erklimmen wir einen kleinen Hügel und sehen von da aus in naher Ferne das kleine Dörflein Koslitz, das wir nach ungefähr 10 Minuten, den Bahndamm kreuzend, erreichen. Wer, von weitem her kommend, hier Einkehr halten will, findet in dem einfachen, aber sauberen Landgasthaus gute Verpflegung und kann den als Naturdenkmal an der Kolonnade des Gasthauses stehenden starken Holunderbaum bewundern. Wir biegen von da aus links ab, und an einigen, vom Zahn der Zeit arg mitgenommenen Häuschen vorüberschreitend, führt uns eine Allee blühender Pflaumen- und Sauerkirschenbäume talwärts in eine breite Schlucht, deren mooriger Boden dichtes Gebüsch von Eichen, Buchen und Erlen trägt. Links winkt uns der hier als höchster und schönster Punkt dastehende Pilz, ein Berg von 215 Meter Höhe. Du magst ihn einmal ganz allein zum Ziel deiner sonntäglichen Ausflüge wählen, und du wirst sicher nicht ohne das Gefühl eines hohen Naturgenusses von dannen gehen. Wir aber wollen für heut weiterschreiten.
Ein dichtes Gebüsch von Eichen, Buchen, Erlen und Sumpfahorn durchschreitend, übersteigen wir eine kleine Anhöhe und erblicken von der mit Sauerkirschenbäumen bepflanzten Allee das Dörflein Groß-Rinnersdorf. Sein Name trügt, denn die Zahl der Häuser, die aus einem Walde von Obstbäumen herausschauen, ist nicht so groß, als man bei dem Namen des Ortes vermuten könnte. Ein großer Gutshof mit Brennerei und Mühle bildet den Abschluß dieser uralten Besiedlung. Wir versäumen nicht, dem kleinen, alten, mit großen Linden umwachsenen Kirchlein einen Besuch abzustatten und durchschreiten den im Rücken des schlichten, aber stilvollen Schloßgebäudes liegenden hübschen Park, in dem als Naturdenkmal die Wunderbuche steht. Die ganze Umgebung trägt ein eigenartiges Gepräge: Zahlreiche Baumgruppen vervollständigen den Wechsel von Ackerland und Saatengrün, und im weiten Bogen dehnt sich mit einem Kranze lichtgrüner Birken der dunkle, hochstämmige Nadelwald. Auf anfangs breitem Feldweg, der später in einen schmalen Fußpfad übergeht, kommen wir, zu einer mäßigen Anhöhe hinführend, an den vier Franzosenlinden vorbei, bei welchen, nach überlieferten Erzählungen, in den Befreiungskriegen eine französische Patrouille gefangengenommen worden sein soll. Der Hügel gewährt einen zwar engbegrenzten, aber recht lieblichen Ausblick auf die zu Füßen liegenden Fluren.
Ein Stück Nadelwald verbirgt das vor uns liegende, 73 Einwohner zählende Dörfchen Klein-Rinnersdorf. Entzückend ist das Landschaftsbild, wenn wir das Wäldchen umgangen haben. Wie ein wirklich echtes Gebirgsdörflein schaut es mit seinen kleinen Häuschen aus enger steilwandiger Talschlucht zu uns empor. Hier umfängt stiller Frieden den Wanderer. Kein Hämmern und Stampfen, kein Rollen und Rasseln dringt an unser Ohr. Nur das leise Plätschern eines schmalen Wässerleins, das in geringer Entfernung vom Dörflein dem Berge entquoll, unterbricht die lautlose Stille. Die ehemals am dortigen Kretscham vorbeiführende alte Straße von Lüben nach Glogau wird nur noch wenig befahren und liegt in ihrer ganzen Breite verrast da. Wagen und Stahlroßreiter eilen auf der glatten Kunststraße von Groß Rinnersdorf nach Eisemost, und selten benutzt ein eiliger Wanderer noch den auf und ab führenden Saumpfad dieses herrlichen Eilandes. Und diese Weltabgeschiedenheit hat ihres Einflusses auf das Wesen der Menschen nicht verfehlt, ihr freundliches, bescheidenes Wesen heimelt an.
Jenseits des Hügels wird das von dichtbewaldeten ansehnlichen Höhenzügen eingeschlossene Tal breiter. Das freundliche Dörflein, das sich in diesem Tal in sanfter Steigung aufwärts zieht, ist das Dörflein Eisemost, mit 251 Einwohnern. Das Eisemoster Tal muß in der Eiszeit der Schauplatz einer riesigen Gletschertätigkeit gewesen sein, wovon die vielen Findlingssteine Zeugnis geben. Das freundliche Eisemost unterscheidet sich äußerlich erheblich von dem vorigen Gebirgsdörflein. Das breitere Tal ermöglichte eine größere Ausdehnung der modernen Baulichkeiten, die von umfangreichen Obstgärten umgeben, zur Blütezeit Auge und Herz erfreuen. Links erstrecken sich bis über die Mitte des Dorfes quellfeuchte Wiesen und Grasgärten, reichlich von Erlen, Haseln und Weiden eingefaßt. Im oberen Teil erhebt sich auf mäßiger Höhe das alte Holzkirchlein, das gewiß schon eine große Reihe von Jahrzehnten an sich vorüberziehen sah und ehedem eine selbständige Pfarrei gewesen sein soll, zu einer Zeit, als die ersten Züge der Wallfahrer ihren Weg nach dem nicht allzuweit gelegenen Hochkirch nahmen.
Auf der durch das Dorf führenden Straße weiterwandernd, gelangen wir am Ausgange desselben auf eine Anhöhe, von wo wir einen lohnenden Fernblick auf die Umgebung werfen können. Hinter uns winkende Höhen, an deren Fuß die Oder ihre Fluten wälzt; vor uns dehnt sich fast unabsehbar die schwarze Heide. Regungslos wie ein weiter See in tiefer Windstille liegt sie vor uns. Wo dicke Rauchsäulen aus dem Waldozeane aufsteigen und rote Ziegeldächer leuchten, da verraten sie menschliche Niederlassungen: Zu unseren Füßen liegen die kleinen Ortschaften Gühlichen und Buchengrund, weiter noch das von Friedrich dem Großen geschaffene Lübenwalde und rechts auf ansteigender Höhe Petersdorf. Aus dem Dunkel der Kieferwaldungen ragen die Schlote der Lübener städtischen Ziegelei, der Ziegelei der gräfl. Ballestremschen Verwaltung und der Friedrichswalder Ziegelei hervor. Sonst, soweit das Auge reicht, Wald und wieder Wald!
Ein Hauch schöpferischer Unendlichkeit strömt uns aus dieser einförmigen Weite entgegen. Gegenwärtig lagert noch der Schnee duftender Baumblüte über dem Tale. Aber hie und da brechen schon die gelben Blumen des Besenginsters aus dunklem Grün hervor. Bald gluten sie überall und wetteifern mit dem Himmelsblau der rundköpfigen Bergjasione und dem fahlen Blaurot der Skabiose, die neben dem goldigen Katzenpfötchen, der hochstrebenden Dürrwürz, der wilden Cichorie und vielen anderen Heidekräutern Raine und Wegränder schmücken. Währenddessen wirft auch die Robinie ihr weißes Federkleid über und ladet aus der ganzen weiten Gegend die Bienenvölker zu gastfreier Tafel. Später duften Klee und Raps, Lupine und Phazelia dazwischen. Ein Blühen und Duften ohne Ende! Unser Weg wendet sich nun links und rechts dem Walde zu. Bald durchschreiten wir, an Brombeergebüsch und Ginsterbusch vorüberkommend, dichtes, kräftiges Kiefernholz und herrliche Eichenbestände.
Kurz vor der städtischen Ziegelei können wir, rechtsseitig den Taufsteinweg fortschreitend, einen Abstecher nach den Taufsteinen, der Sage nach einer alten, heidnischen Opferstätte, machen, um dann, zurückgehend die Rinnersdorfer Kunststraße bei der Ziegelei überschreitend, im Gasthaus zur städtischen Oberförsterei zu landen, oder aber gleich weitergehend, an unsern Ausgangspunkt Lüben wieder zurückzukommen.