Erinnerungen an die Flucht














Fluchtgespann der Familie Ernst Kuche aus Mühlrädlitz im Jahr 1945

Mit diesem Gespann flüchtete die Familie des Bauern und Gasthofbesitzers Ernst Kuche aus Ischerey am 26. Januar 1945 vor der heranrückenden Front nach Westen. Was sie dabei empfand und erlebte, hat bisher niemand aufgeschrieben. Aber es wird dem ähneln, was Bernhard Hilscher aus Kotzenau im Jahr 1970 als Gespräch zwischen Gustav und Wilhelm, zwei Männern aus einem Lübener Dorf, aufschrieb.


Gu'n Morgen, Gustav!

Grüß d' Willem! Nu erzähl mir ock glei, woas d' die Nacht wieder Schienes aus dar alen Heemte g'treemt hoast, denn doas weeß iech nu schunt, immer, wenn d' im Geiste wieder amoll derheeme g'woast bist, b'grißt d' miech murgens mit dem alen Heemtegruß.

Derheeme g'woast bist... - Gustav, hust schunt recht, aber g'treemt hoa iech diesmoal nie a biß'l, im zwee ei d'r Nacht bien iech uff eemoll munter g'wurn und woar glei su wach, doaß oa a Eischloafen nimmer zu denk'n woar, iech koam ei' s Griebl'n und do woard mier kloar, doaß mier heut genau vor fünfundzwanzig Joahr'n aus inserm Durfe furtg'macht sein.

Woas wis' de doa, fünfundzwanzig Joahre, ja, ist denn doas meglich - aber is stimmt, fünfundvierzig woars. Jetzt schreib'n mer sibzig und noam Kalender stimmt o's Datum, dan Tag woar iech o ei mem ganz'n Lab'n nie vergassen.

Ja, sig'ste Gustav, do koam immer e Bild noach'm andern und su kloar, als wenn's gestern arst g'wast wier. Zwee Tage d'rvier hurten wier, doaß d' Russ'n bei Steinau iber d' Oder gekumm woarn und doas kennt' mer ins ausrech'n, doaß 's 's letzte gruße Hindernis war und woas Schreckliches uff ins zukam. Uff eemoll hoatten olle dieselbe Arbeet, d' Koastenwag'n schmier'n, mit em oder beeden Fardn ei d' Schmiede, Weid'näste zurechtschneid'n, Hoaber eisacken und dann anne Liste vum Nötigst'n zu machen, d' Frau'n rannte wie behext von inner Stube ei d' andre und iberaal stoanden G'bindel rim. G'redt woard nie viel, denn jedes hoatte seine Uffgoabe, bis dann am Oabend dr Oartsbauernfiehrer mit'm G'meindevirsteher koam mit dem B'fahl: "Morgen früh um 10 Uhr steht alles abmarschbereit auf der Dorfstraße."

D' Wirfel woarn also gefoall'n und nu gings oas Uffloaden. Wenn iech doa droan denke, woas ma do oalles ei d' Hände g'numm hoat und dann wieder wegg'schmissen hoat, - immer nur's Nötigste, 's wird sowieso no zu viel. D' grißte Surge woarn ja Oma und Opa, doar woar d' letzten vier Toage schunt nimmer recht uff'm Pusten und nu sollt ar d' Reese ei's Ung'wisse mitmach'n. Mir hoan da beeden a weech Loager uben druff uff dam ganz'n Kroam g'macht, oalles schien mit Faderbetten ausg'stuppt, dann wurden d' Weidenäste im Bogen drieber festg'macht. Uff die wieder langdurch woarme Deck'n und ubendruff d' Ern'n Plane duppelt. Und no koam's Schlimmste, Oabschied nahm'n vo a Viechern. D' Raufe woard mit Hei vullg'stuppt, d' Krippe mit Riebenfutter vullg'fillt, a poar Schieten Struh zu a sauber'n Streu, anne Lust oanzusah'n, wenns nie su bitter arnst g'wasen wier. Und nu arst d' Grete, bei der woar ei drei Tagen d' Zeit rim, wie wird die nu aleen dermit fert'gwoarn? Dann ging's ei a Hiehnerstoal, a Futtertrog mit Kernern gefillt, frisch Woasser drzu, bluß gutt, doaß ma no keene Farkel eig'toan hoatte. Nu stoand iech fr dr Hundehitte, dr Rolf sah miech su treuharzig oa, im oalles ei dr Welt, dan kunnt iech nie do luss'n. Dann nomoal an wehmit'gen Blick iber oalles und schunt gings zum Hofe naus.

Uff dr Durfstraße reihte sich imme e Fuhrwerk oas andre. Etliche Bauern, die vier Farde hoatten, hoatten a zweetes Foahrzeug zur Verfigung g'stellt fr d' klinn Leute, die kee G'spann hoatten. Vo dan'n hoatten o welche ihr'n Kroam uff Handwoag'n g'loadt, die wurden hinge droang'bund'n. D' klinn Kinder wurden uff d' eenzelnen Treckwag'n verteelt und ma kunn schunt soan, s' woar oalles gutt organisiert. Und die Reese ging ei Richtung uff Kutz'n zu. Bis durthin ging oalles glatt, aber ei dr Stoadt hoatt'n mer Miehe, doaß mer z'samm'n blieb'n, zweeundvierzig Foahrzeuge woar anne ganz schiene Zuttel, und vo dr andern Seite koam'n d' Trecks vo Pulkwitz rieber. Beim Schietzenhause ging's naus uff Hingerheede zu, hinger am andern Treck har, dar ei Rickewal Quartier machte. Derwege mußten wir bis Greulich wetterfoahrn, durt hoan mier o ibernachtet, ei d' eenzelnen Gehefte uffgeteilt. D' Leute hoan sich goar nie viel im ins g'kimmert, denn d' woarn ja o beim Packen. Dr Opa meente, ar hätt' ganz schien g'lan. Frieh beizeeten gings wetter uff a Bunz'l zu. Und doas oalles eim Winte bei Schnie und Kälte.

Till'ndurf hinger'm Bunz'l woars zweete Quartier. Do woar d' Stimmung schunt merklich schlechter und Opa meente, ar wier a ganzen Toag ni richtig woarm g'wurn. Mier hoam'n gle ei anne woarme Stube gebett't. Frieh hoan mer'n wieder gutt verpackt - s' ging wetter. Aber 's ging nimmer su schnell vorwärts, d' Stroaße woar immer mehr verstuppt. Vr ins woar a Treck aus a Heedederfern mit ihr'n Uchs'ng'spoann'n, d' Uchs'n hoatten sich ei dam G'frist wundg'lof'n und a Woin nom andern blieb om Rande stiehn. Notmitt'gs schrie d' Oma vom Woine runder, dr Opa tät kee Wort nimmer red'n. Aber oahal'n kunnt iech nie und wie mer dann Quartier machten und iech wullt'n rundernoahm, do woar a - stoarr. Woas nu? Iech hoan ei anne Decke gewick'lt, ann Zeddel mit sen Noam und wu ar har war ei d' Toasche g'steckt und uff a Friedhof getroin. Do nutzt'n oalle Tränen nischt, aber 's woar a schwieres Erlabnis. Und 's zweete koam glei a andern Toag. Inserm Rolf hoatte de Reese a irschten Toag Spoaß g'macht, ar is viel zu viel am Treck hie und harg'rannt, a zweeten toat'n wull schunt d' Fisse weh und dann ho ich'n immer zeitweese uff a Woin nuffg'setzt, aber do mußt'n mer wieder amoll hal'n, weil oalles verstuppt woar, dr springt runder, vo hinge drängt sich a Loastauto durch und schunt woars g'schahn. Ar woa glei tut, iech hoan'n no amoll ibers Fall gestrichen und dann o a Stroaßenrand g'let. Aber iech scham mich nie, wenn iech Dir soi, im doas treue Tier hoa iech geflennt wie a klee Kind.

Su is's von Toag zu Toag wetter g'gang'n. Meine grißte Surge woar immer, doaß d' Farde durchhal'n möchten, se woarn ja gutt im Stande und 's is mier immer g'glickt, doaß se woas zu frassen hoatten. Aber wenn iech do zurickdenke, woas do oalles eim Stroaßengroaben loag vo dan Leuten, die nimmer wetterkunnten!

Su sein mer denn durch ganz Sachsen bis eis Boirische getreckt. Und da sin mer o nie mit uff'nen Oarm'n uffg'numm wurn. Kammurken hoan se ins durt zug'wies'n zum Wohn'n, doaß iech g'meent hoab, wie schien hoans dergeg'n derheeme insre Viecher g'hoat ei d'n saubren Ställen. Aber wie dann 's Frijoahr koam und se sah'n, doaß mir arbeeten kunnten und o wullten, do is's o mit dr Zeet besser g'wurn. Bluß eene Frage blieb lange Zeet, wie warn ins d' beeden Jung'n amoll finden? Si hoan ins ja lange suchen miss'n, aber dann woarn se uff eemoll do, irst dr Fritze aus Amerika, dann dr Otto aus England. D' Oma hoats dann o nimmer lange g'macht, ohne ihren Friedrich woars Laben nischt mehr.

Mei lieber Willem, woas hust Du nur oagericht't, Du hust mich innerlich su uffg'wiehlt, doaß ich heul'n kennt wie a ales Weib, schunt wegen d'm Unglicke doazumal, wie meine Eldern Mitte sechz'ger Joahre su schnell hingereinander furtmußten, doas hoan mer oalle gesoit, die hätt'n ganz schien no zahn Joahre doableiben kinn, aber wie doas mit d'm Voater poassierte, doa war ich reene glicklich, doaß se dos o ni mit durchmach'n mußt'n. Aber eene Wunde hoaste wieder uffg'rissen, du kannst dir denken, im insern Kurt. Ar war schunt als Kind immer a wing weech und hoat halt die Strapazen als Gefangner ei Sibirien nie durchhal'n kenn. Dr Oskar woar immer schunt robuster, trotzdem koam ar wie a Wrack zurick. Na, er hoat sich ja wieder rausgemausert.

Ach ja, mei lieber Gustav, mier hoan ale Opfer bring'n missen und g'rade mir aus a Ostgebieten. Und do frei ich nun immer wieder, woas hoat denn doas nur oalles fr an Sinn und Zweck gehoat? Harr'n wullten se aus ins oallen machen und an Battelstoab hoan se ins ei d' Hand g'drickt. Mier wullten duch goar keene Harr'n woar'n, bluß inser Arbeet noachgiehn und friedlich lab'n wullten mier. Meenst nie o? Und wenn ma heut von unge ei Afrika liest, doaß ei Biafra d' oarm'n unschuld'gen Kinder haufenweise vahungern, wu bei ins is Brut ei Massen eim Rinnsteen und ei a Mülltunnen imkimmt, ob doas dar vielbered'te Varstand is, dan mier Menschen a Tiern voraus hoan sull'n? Do dank ich schien!

Mei lieber Willem, nu huste Dich aber richtig ei Hitze geredt, aber woas Du gesoit hust, hoatte oalles Hand und Fuß, aber wie d' wißt, ich woar schunt immer Optimist und sah d' Dinge moanchmoal o vo a andern Seute oa. Wißt d' no vo a G'schichtsstunden ei dar Schule har, wie ins dr Lehrer vo frieher arzahlte vo Leibeigenschaft und Folterungen vo a Bauernkriegen, vom Dreißigjihr'gen Rel'gionskrieg, do muß ma doch zugahn, doaß d' Welt im Ganzen a Stickel wetter g'kumm is und wenn ma vo dam G'sichtspunkt aus dro denkt, doaß a Mensch'nlaben bluß anne Hundertstel oder Tausendstel Sekunde uff dr Uhr des Kosmos ausmacht (oder dr Ewigkeit) und die Uhr a Joahr wird g'gang'n sein, d' Menschen dann endlich warn - Menschen g'wurn sein.

Aber, lieber Gustav, doas wird mer zu huch, aber wenn mer wull'n ihrlich sein, su wies uns jitze gieht, brauch'n mer ja keene Kloagelieder sing'n und sein zufrieden und oallzuweit wird ja unser beeder Wag o nimmer sein, und wenn mer d' letzte Strecke ei Ruhe und Frieden moarschier'n könnt'n, doas wier mei größter Wunsch und denner g'wiß o! Und nu wull'n mer ins d' Hände drücken und dr Menschheet aus ihrlicher und selbsterlabter Überzeugung, sowie vo ganzem Harz'n wünschen, doaß se wie mir beede je eher, je besser den festen Vorsatz faßt: Nie wieder Krieg!

Bernhard Hilscher aus Kotzenau (1898-1976), in LHB 10/1970