Ein Stein klagt an
Die durch den furchtbaren Krieg entfesselten Zerstörungskräfte in der Welt haben auch vor meiner Heimat nicht haltgemacht. Das Haus meiner Eltern in der Kasernenstraße 22, in dem ich von Geburt an gelebt habe, ist nur noch ein kümmerlicher, trauriger Trümmerhaufen.
Als ich 1945 nach dem Zusammenbruch des Reiches die Stätte meiner fröhlichen Kindheit wiedersah, ging ein wehes Gefühl durch mich. -
Ich sank auf einen vor dem Haus stehenden Stein, der schon immer mein Lieblingsplätzchen gewesen war, - blickte zurück in die Vergangenheit, und Bilder tauchten vor mir auf - - "Heinz 3 Jahre alt", so steht auf einer Fotografie. Dieses Bild zeigt mich auf dem gleichen Stein sitzend wie jetzt. Ich schlage eine andere Seite meines Albums in Gedanken auf: "Mein erster Schultag", steht unter dem Bild, und wieder sehe ich mich neben diesem Stein, fein angezogen: den Ranzen auf dem Rücken und eine Zuckertüte in der Hand, die zwar recht bescheiden war, denn Vater war seit einem Jahr arbeitslos.
Ich wurde älter und der Stein wurde Nebensache. Nun, nach Jahren, saß ich wieder auf dem Stein, traurig und verbittert.
Sein und seiner Mitmenschen Schicksal schildert mir der Stein, der 1890, als das Haus fertiggestellt war, gesetzt wurde. Er erlebte Freud und Leid, er sah die technischen Errungenschaften, sah Menschen, die er sich genau betrachtete und machte sich über sie seine Gedanken. An ihm dröhnte der Marschschritt der Soldaten, die mit frohem Soldatenlied vorbeizogen, vorüber. Den Leuten rief er zu: "Ich kenne die Welt, bin uralt, gebt acht! Vermeidet Haß und Zwietracht, meidet den Krieg!" Doch die Menschen hörten nicht das mahnende Wort. So mußte er mit ansehen, wie 1914 die Männer und Jünglinge blumengeschmückt auszogen! Er aber bemitleidete all diese Menschen, denn nur wenige würden gesund heimkehren, er wußte ans langer Erfahrung, daß Krieg Not und Elend mit sich bringt. Die Not der Heimat brachte ihm manche Begegnung mit den Menschen. Oft genug suchte ein altes Mütterchen oder ein kranker, schwacher Mensch bei ihm - dem Stein - Halt. Er sah in manches abgehärmte Gesicht, in manchen zur Erde abgestellten Einkaufskorb, der oft genug nur eine Kohlrübe enthielt. Der Kinderbesuch, seine besonderen Freunde. blieb nach und nach ganz aus. Sie waren schwächer und manches Kind krank geworden; die Lust zum Spielen fehlte. Das Ende des Krieges kam - Verwundete. Amputierte, Blinde zogen müde vorbei, anders als vier Jahre zuvor! Die Not wurde nicht kleiner. Sein Haus, vor dem der Stein schützend stand, krachte und ächzte unter der Last der Hypotheken. Die Bewohner des Hauses arbeiteten fleißig, aber das Geld zerrann. Er hörte die Leute Zahlen nennen, die ihm ganz fremd waren - Milliarden, Billionen... es war die Inflation. Dis Zeit der Krise kam, die auch in diesem Hanse Einzug hielt.
Doch dann sah der Stein wieder marschierende Kolonnen, diesmal im braunen Hemd, an sich vorüberziehen. Seine Warnungen wurden auch jetzt nicht gehört, bis eines Tages wieder Soldaten mit Panzerwagen an ihm vorbeirollten. Krieg! Krieg! Krieg! so riefen es sich die Leute zu. Aus den geöffneten Fenstern ertönen die Fanfaren des Rundfunks, Sondermeldungen. Langsam aber verstummten auch diese Fanfaren, Mütter und Frauen gingen mit verweinten Augen daher, der Krieg forderte seine Opfer! Und eines Tages stand der Krieg vor den Toren der Stadt. Frauen, Kinder, Greise zogen mit Wagen und Wägelchen, mit Gepäck und Betten beladen, an dem Stein vorbei. Flüchtlinge! O welches Elend. Das Rollen des Geschützdonners war immer deutlicher zu hören. Auch die Bewohner seines Hauses packten ihr Hab und Gut zusammen. Am 27. Januar 1945 tobte der Kampf um die Stadt. Bald war ein Toben, Brausen und Donnern um den Stein. Die Stadt ging in Flammen auf, die Häuser zerbarsten in Stücke. Warum beging man diesen Wahnsinn und kämpfte in dieser schönen, sauberen Lindenstadt? Dem Stein wurde es nicht klar, denn.... über ihn erging ein Regen von Ziegeln, Holz, Glas und Staub, es wurde ganz warm um ihn herum. Sein Haus, das er 55 Jahre beschützt hatte, brannte aus, es wurde zu einem Trümmerhaufen! Er hatte es schützen wollen, er wollte in diesem Hause Glück und Frieden mit lachenden, gesunden Menschen erleben - nun war es aus! Dann hörte er fremde Laute, sah fremde Menschen.
Die Bewohner seines Hauses aber sind in alle Teile des restlichen Deutschlands zerstreut...
Heinz Gittig, Lübener Heimatblatt, 11/1953
Dr. Heinz Gittig 14. Juli 1923 - 2. November 2002
Nach schwerer Krankheit verstarb am 2. November 2002 der langjährige Mitarbeiter und stellvertretende Generaldirektor der Deutschen Staatsbibliothek Dr. Heinz Gittig. Sein Lebensweg war geprägt durch den 2. Weltkrieg und die nachfolgenden Umbrüche. Am 14. Juli 1923 wurde Heinz Gittig in Lüben (heute Lubin) in Schlesien als Sohn eines Sattlermeisters geboren. In seiner Heimatgemeinde hatte er nur die Möglichkeit die 8 Klassen Volksschule zu besuchen. Danach absolvierte er eine Verwaltungslehre bei der Stadt Lüben, wo er am 1. Oktober 1940 auch angestellt wurde. Im August 1941 musste er jedoch seinen Wehrdienst antreten, der ihn nach Polen, später an die Front auf dem Balkan (Jugoslawien) und am 6. Mai 1945 in englische Kriegsgefangenschaft führte.
Bereits am 20. Juni 1945 wurde er wieder entlassen und siedelte nach Wiederitzsch bei Leipzig über. Im Juli 1945 heiratete er. Zwei Söhne und eine Tochter vervollständigten nach und nach die Familie. Beruflich schlägt sich Heinz Gittig anfangs als Hilfsböttcher in Wiederitzsch, später als Angestellter der Gemeindeverwaltung durch. Doch sein Wissensdurst war groß. So besuchte er in den Jahren 1947 bis 1948 die Vorstudienanstalt der Universität Leipzig, um im Rahmen dieses zweiten Bildungsweges das durch den Krieg versäumte nachzuholen und die Hochschulreife zu erlangen. 1948 bis 1952 studiert er in Leipzig Geschichte, Geographie und Historische Hilfswissenschaften. Nach erfolgreichem Abschluss des Universitätsstudiums als Diplomhistoriker, begann er noch 1952 an der Öffentlich Wissenschaftlichen Bibliothek Berlin die Referendarausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar (3. Referendarlehrgang). Damit waren die beruflichen Weichen endgültig gestellt.
Heinz Gittig hatte seine Berufung als Bibliothekar und zugleich in der Deutschen Staatsbibliothek die Einrichtung gefunden, der er weit über sein offizielles Berufsleben hinaus verbunden blieb. Am 1. September 1954 begann er seine bibliothekarische Laufbahn als Fachreferent. Schon ein knappes Jahr später übernahm er die Verantwortung für die Lesesäle in der Benutzungsabteilung und baute dann die neu gegründete Gesellschaftswissenschaftliche Beratungsstelle auf. Am 1. Dezember 1957 fand Heinz Gittig als Leiter des Auskunftsbüros, des späteren ILZ (Institut für Leihverkehr und Zentralkataloge), einen dauerhaften Wirkungskreis. 18 Jahre lang leitete er die Abteilung, wirkte bei der Bearbeitung des GAZ mit und war federführend bei der Erarbeitung der Leihverkehrsordnung der DDR und der Meldeordnung für die Zentralkataloge der DDR beteiligt. Auch über die Deutsche Staatsbibliothek hinaus engagierte er sich für die Entwicklung des Bibliothekswesens und übernahm im Laufe seines Berufslebens zahlreiche Funktionen. So wirkte er im Beirat für Bibliographie der Deutschen Bücherei Leipzig tatkräftig mit; von 1965 bis 1968 war er Vorsitzender der Regionalen Arbeitsgruppe Berlin des Deutschen Bibliotheksverbandes. Ein besonderes Anliegen war ihm stets die Ausbildung des bibliothekarischen Nachwuchses. Als Dozent für Wissenschaftskunde an der Berliner Fachschule und bei zahlreichen Weiterbildungsveranstaltungen für die Mitarbeiter der DSB setzte er sein umfangreiches bibliothekarisches Wissen ein. Daneben trug er als Mitglied des Rates des Institutes für Bibliothekswissenschaft und wissenschaftliche Information der Humboldt-Universität auch zur weiteren Entwicklung der traditionellen Verbindung zwischen der Staatsbibliothek und der universitären Ausbildung bei.
1970 hatte er selbst als Externer am Institut für Zeitgeschichte der Humboldt- Universität mit seiner Dissertation über "Illegale antifaschistische Tarnschriften 1933-1945" promoviert. (Darauf aufbauend erschien 1996 im Saur-Verlag seine Bibliographie der Tarnschriften.) Nach einer nur kurzen Tätigkeit als Direktor der Benutzungsabteilung (1. Mai 1975-31. Dezember 1976) wurde Herr Gittig am 1. Januar 1977 zum Stellvertreter des Generaldirektors ernannt. In dieser Funktion erstreckte sich seine Tätigkeit v. a. auf die Gestaltung der bibliothekarischen Geschäftsgangsprozesse in den Hauptabteilungen. Dabei konnte er seine persönlichen Fähigkeiten, Probleme der praktischen Bibliotheksarbeit neu zu durchdenken und zu bewältigen, für die Bibliothek einsetzen. Seine Einsatzbereitschaft, und seine bescheidene Freundlichkeit gepaart mit einem ausgezeichneten bibliothekarischen Sachverstand und einem Schatz praktischer Erfahrungen, brachten ihm das Vertrauen und die Sympathie der Mitarbeiter ein.
Zahlreiche Ehrentitel (Bibliotheksrat, Oberbibliotheksrat) und Auszeichnungen (Wilhelm-Bracke-Medaille in Silber, Johannes R. Becher-Medaille in Silber, Ehrenmedaille der Dt. Bücherei Leipzig) wurden ihm zuteil. Ganz wesentlich für Heinz Gittig war die "unwandelbare Treue zu unserem Haus [zur Staatsbibliothek]" wie es der damalige Generaldirektor Horst Kunze in einem Glückwunschschreiben formulierte. Diese Treue bewahrte Heinz Gittig auch gegenüber seiner gesellschaftlichen Überzeugung. Die eigenen Erlebnisse ließen in ihm die tiefe Überzeugung reifen: "Nie wieder Krieg und Faschismus". Aus seiner Sicht führte ihn dies noch 1945 in die Reihen der KPD. Später als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung des FDGB und von 1963 bis 1968 als Parteisekretär der Betriebsgruppe der SED sah er sich v. a. im Dienst der Bibliothek und ihrer Mitarbeiter. Hinzu kam ein ausgeprägtes historisches Interesse. Schon während seiner aktiven Dienstzeit engagierte sich Heinz Gittig in der Historischen Kommission des Börsenvereins der deutschen Buchhändler in Leipzig. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 1988 betreute er bis zum Sommer 1991 das historische Archiv der Deutschen Staatsbibliothek. In den folgenden Jahren erschienen seine Kataloge der Berliner, Brandenburger und mecklenburgischen und pommerschen Zeitungen und Wochenblätter, mit denen er die Bestände der regionalen Archive, Bibliotheken und Museen erschloss.
Heinz Gittig hat die Entwicklung der Deutschen Staatsbibliothek über fast vier Jahrzehnte nachhaltig geprägt. Ausgezeichnete bibliothekarische Sachkenntnisse, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit prägten sein Handeln. Er blieb der Bibliothek auch nach der Vereinigung zur Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz verbunden und nahm bis zuletzt regen Anteil an ihrer Entwicklung. Die Staatsbibliothek wird Heinz Gittig stets ein ehrendes Angedenken bewahren.