Margarete Gottschalk (1879-1977)
Als Margarete Bannert wurde sie am 12. Juli 1879 in Breslau geboren. Sie verlebte mit ihren Brüdern eine sorglose Jugendzeit, in der sie auf Reisen mit den Eltern vieles lernen konnte. Eltern und Großeltern stammten aus wohlhabenden schlesischen Familien.
Im November 1902 verlobte sie sich mit dem Apotheker Franz Gottschalk und im Oktober des darauffolgenden Jahres wurde geheiratet. Sehr bald fand sich in Lüben am Ring eine Apotheke, die zum Verkauf angeboten war, die Stadtapotheke, die bisher Dr. Hentschke, einem Onkel des Dichters Klabund gehört hatte. In Bad Flinsberg gehörte der Familie ein Haus, das einer der Brüder, der als junger Architekt in Berlin bereits große Erfolge erzielte, gebaut hatte und den Sommersitz darstellte. Aus der Ehe stammten vier Kinder: Margarete 1905 geboren, Hans-Kurt 1908, Inge 1915 und Christian-Friedrich 1918.
Margarete Gottschalks Ehemann starb schon 1932. Sie lebte fast 45 Jahre als Witwe. Beide Söhne fielen im Krieg. Die Geschichte ihrer Familie - und ihre eigenen Memoiren - hat Margarete Gottschalk im Alter von fast 90 Jahren auf 109 Seiten aufgezeichnet und 1969 unter dem Titel "Gelebtes Leben" im Selbstverlag herausgegeben. Darin erweist sich die Verfasserin als hochgebildete, geistig bewegliche Persönlichkeit mit scharfer Beobachtungsgabe für Menschen und Umstände ihrer Umgebung. Ihre Gewandtheit im Umgang wie im Ausdruck, ihr ausgesprochener Sinn für Humor zeichneten sie aus. Ihr umfangreiches Wissen erweiterte sie auf vielen Reisen, die sie u. a. noch mit 80 Jahren nach Argentinien geführt haben. Geistig überaus rege und vielseitig interessiert, dazu wortgewandt und kontaktfreudig, war Margarete Gottschalk eine gern gesehene Gesprächspartnerin in jeder Gesellschaft.
Am 8. Juni 1977 ist sie in einem Altenheim in Forchheim vier Wochen vor ihrem 98. Geburtstag verstorben.
Aus ihren Memoiren "Gelebtes Leben":
... Doch nun zurück zu unserer Reise in unser Sommerhaus nach Flinsberg. Wir wollten eigentlich nur 4 Wochen bleiben und dann nach Bad Landeck reisen. Aber da das Wetter zu keiner weiteren Reise verlockte, blieben wir in Flinsberg. Das wurde mein Glück. Mütterchen hatte sich erkältet und ich ging in die Apotheke, die nur im Sommer als Filialapotheke von Friedeberg eröffnet wurde, und trug mein Anliegen vor. - Der Apotheker machte eine Medizin zurecht, obwohl er doch ein fertiges Präparat hätte geben können. Später gestand mir Franz, daß er es deswegen getan hätte, weil ich ihm so gut gefallen hätte. Da fing es zu regnen an, Petrus stand mit ihm wohl im Bunde. Er wollte mir seinen Schirm leihen, und ich wehrte ab. "Nein, danke, den brauchen Sie selbst, wenn Sie zu Tisch gehen, und es ist niemand in unserem Haus, der Ihnen den Schirm zurückbringen könnte." "Dann warten Sie doch wenigstens den Regen ab." "Der dauert doch hier stundenlang. Das bißchen Regen, wir haben ja doch alle eine wasserdichte Haut mitbekommen." Und draußen war ich. Zu Mutter aber sagte ich, der Apotheker scheint nicht viel zu tun zu haben. "Wieso", fragte Mutter. "Na, weil er sich mit mir unterhalten wollte."
In unserem Hause wohnte ein Ehepaar, der Mann war gelähmt und mußte im Rollstuhl gefahren werden. Zwei Tage vor ihrer Abreise bat mich die Frau, ihr ein Medikament aus der Apotheke für ihren Mann mitzubringen, "aber bitte nur eine halbe Flasche, weil wir ja abreisen". Ich schwänzelte also wieder zu dem ungenügend beschäftigten Herrn und brachte mein Anliegen vor. "Ich habe augenblicklich leider keine halben Flaschen da." "Ja, was mache ich denn da, es ist nicht für uns, und das Ehepaar reist übermorgen ab. Der Mann ist gelähmt und muß im Rollstuhl gefahren werden." "Dann werde ich Ihnen eine halbe Flasche abfüllen." "Wenn das geht, das wäre fein, aber behalten Sie bitte die andere Hälfte in der Originalflasche, dann werden Sie sie besser verkaufen können." So geschah es. Er fragte mich noch, ob ich übermorgen zu dem Kynast-Fest komme. "Davon habe ich noch gar nichts gehört", sagte ich, "für meine Eltern wäre es eine große Strapaze, da will ich erst gar nichts davon erzählen." "Gehen Sie hier nicht jeden Sonnabend zur Reunion?" "Nein, denn da kommt ein Herr auf zehn Mädchen, und wenn ich nicht tanzen kann, dann langweile ich mich." Neue Kundschaft kam und ich verschwand.
Zwei Tage vor unserer Abreise bat mich die Mutter einer 15jährigen Tochter, ich möchte doch ihre Tochter zur Reunion mitnehmen. Meine Mutter war nicht wohl und so opferte sich mein Vater. [Damals mussten die Mädchen bis zur Volljährigkeit durch eine erwachsene Person beaufsichtigt werden!] Im Saal selbst waren nur in den vier Ecken je ein Tisch, weitere Tische standen im Vorsaal. Da Vatel sehr für Pünktlichkeit war, bekamen wir noch einen von den Saaltischen und Vatel saß bald stillvergnügt bei einem guten Tropfen. Da kam der Apotheker in die Tür, schaute sich im ganzen Saal um, und als er mich in der Ecke sitzen sah, zuckte er zusammen und ging wieder hinaus. "Vatel, jetzt bin ich zur Polonaise engagiert." "Dummes Mädel, es war doch niemand da." "Nun, du wirst es gleich sehen!" Und richtig, kaum hatte der Badedirektor gerufen, bitte die Herren zur Polonaise engagieren, da erschien auch schon Herr Gottschalk und bat mich zum Tanz. Mein Vater verstand nicht, daß seine Tochter unter die Wahrsager gegangen war. Mein Partner tanzte wie ein junger Gott. Er aber sagte: "Gnädiges Fräulein, Sie tanzen doch zu schön Walzer." Und das sagte mir mein Franzl auch noch, als wir schon silberne Hochzeit gefeiert hatten.
Sein Urgroßvater war ein polnischer Adliger gewesen, hatte aber den Adel nach völliger Verarmung abgelegt. Die Polen sind sehr musikalisch und tanzen famos. Franz hat später versucht, den Adel wieder zu erlangen, hatte auch schon viel erreicht, da brach der 1. Weltkrieg aus und nachher war es fast unmöglich. Nach Franzls Heimgang wäre es der Zeit entsprechend leichter gewesen, aber mir lag nichts an dem Adelstitel, ich wußte auch ohne denselben, daß ich mir einen Edelmann geheiratet hatte...
Auf dem Heimweg, Vatel ging einige Schritte vor uns, erzählte ich ihm, daß wir übermorgen abreisen. "Ja, was wird denn dann aus mir, wenn meine beste Tänzerin und Unterhalterin mich verläßt, dann werde ich ganz verlassen sein." "Aber nicht doch, Flinsberg ist ja bekannt als Bad für junge, bleichsüchtige Mädchen und ich sagte Ihnen schon neulich, auf einen Herrn kämen zehn Mädchen." "Aber keine wie Sie", und damit nahm er meine Hand und führte sie zärtlich an seine Lippen. Da war es auch um mich geschehen, und Freund Amor triumphierte...
Am Abend des folgenden Sonntags gingen die Eltern ausnahmsweise ins Restaurant essen, da das Service schon für die Abreise eingepackt war. Als wir gegessen hatten, fragte uns Vatel, ob wir noch auf irgend etwas Appetit hätten. Mutter und ich verneinten und so zahlte Vater. Da fiel mir auf einmal ein, daß nun um 20 Uhr die Apotheke geschlossen würde und der liebe Herr nach hier kommen könnte. "Ach Vatel, ich habe doch noch Durst, bestelle mir bitte ein kleines Bier." Und so geschah es. Und welch ein Glück, noch vor dem Bier war Franzl da und strahlte vor Freude über das Wiedersehen. Wir saßen noch ein Stündchen zusammen, er bat um die Heimatadresse, und als er hörte, daß Vatel und ich Anfang September zu einer Wanderung ins Riesengebirge kämen, da fragte er, ob er sich uns anschließen dürfe. Denn am 1. September wurde die Apotheke in Flinsberg geschlossen, und da er eigentlich 14 Tage zu seiner ältesten Schwester auf ein Gut fahren wollte, hatte er sich erst für den 15. September für seine neue Stellung verpflichtet.
Am anderen Morgen fuhren wir bei der Apotheke vorbei, mein Franzl - es war ja schon damals mein Franzl - warf mir eine Kußhand zu. Der Handkuß ist ja fast ganz verschwunden, dabei drückt er so vieles aus, was dem Kuß auf den Mund, dem Kuß der Liebe, des Rausches, versagt ist. In unserer Ehe gab es kein Guten-Morgen-, kein Gute-Nacht-sagen ohne Handkuß. Manche Unstimmigkeit, wie sie in jeder Ehe vorkommt, wurde dadurch beseitigt. Die folgenden Wochen im Riesengebirge waren wunderschön. Genau wie das Wetter, das Petrus uns bescherte und der seitdem mein Freund ist, der mich bei Ausflügen und auf Reisen nie im Stich läßt. Auf dem Kamm des Gebirges erklärte mir Franz seine Liebe. Und unser Gebirgsgeist "Rübezahl" freute sich, einen neuen Schlesier zu bekommen, denn mein Liebster stammte aus Westpreußen. Unserem Vater sagten wir nichts, da ich es so romantisch fand, heimlich verlobt zu sein. Bevor Franz seine neue Stelle antrat, hielt er offiziell bei meinem Vater um mich an, und erzählte mir dann, wie schwere Eheprüfung er hätte durchmachen müssen, die viel schlimmer gewesen wäre, als alle Examinas der Schule und des Berufes:
"Sind Sie ganz gesund?" "Ja."
"Haben Sie Schulden?" "Nein."
"Haben Sie irgendwelche Verpflichtungen einem anderen jungen Mädchen gegenüber?" "Nein."
"Wie gedenken Sie weiter beruflich Ihr Leben zu gestalten?" "Ich werde eine Stellung als Verwalter einer Apotheke annehmen, und werde sie auf Grand meiner guten lückenlosen Zeugnisse auch bekommen."
"Warum taten Sie das nicht schon bis jetzt?" "Weil ich bei meinen verschiedenen Arbeitsstätten ein Stück Welt zu sehen bekam." "Das wäre nicht meine Absicht, meinen Schwiegersohn in abhängiger Stellung zu wissen, ich bin vermögend und werde eine Apotheke kaufen." "Das ist sehr schön von Ihnen gedacht Herr Bannert, aber das möchte ich nicht."
"Warum nicht?" "Weil ich nicht der Mann meiner Frau sein, sondern aus eigener Kraft unseren Hausstand bestreiten will."
Dieses Thema wurde dann das Haupttagesgespräch zwischen den Eltern und uns, die ich natürlich auf seiner Seite war. Aber schließlich sah Franz ein, daß er Vaters Angebot nicht zurückweisen konnte.
Auch die Aussteuer, die ich mitbekam, in keiner Verwalterwohnung Platz gehabt hätte. Sie bestand aus einem Salon, der mußte in jedem besseren Hausstand sein, in Moor-Eiche, so heißen die Eichenstämme, die jahrhundertelang im Wasser gelegen hatten und durch und durch schwarz und sehr weich sind, so daß man sie nur für Zimmer verwenden kann, die sehr wenig strapaziert werden. Dann kam mein herrliches Mahagoni-Zimmer, der Salon von Großmutter Bannert. Als Herr Kimbel, der eine der beiden größten Breslauer Möbelfabriken hatte, die Wohnung abnahm, meinte er: "Alles kann ich Ihnen machen, aber Mahagoni-Möbel erhalten ihre volle Schönheit erst nach 50 Jahren." "Die hier sind fast hundert Jahre alt", ergänzte ich. "Daher auch dieser bezaubernde Farbton." Außer den Polstermöbeln, die neu mit rotem Sammet überzogen wurden, war noch ein Schreibsekretär vorhanden und ein sogenannter Glasschrank, der bald meine gesammelten Altertümer und Raritäten barg. Daran schloß sich das in Tiroler-Zimmer-Gotik gehaltene Speisezimmer mit seinen blitzenden, bunt unterlegten Zinnbeschlägen, einer Baldachin-Sitz-Couch und einer Vitrine, unten offen, in die meine Zinnsammlung kam. Die Vorhänge, in naturfarbenem Leinen mit bunter altdeutscher Kreuzstichstickerei, schlossen einen kleinen Erker ab, so daß dieser ein "chambre separee" wurde, das später von Verliebten oder jungen Eheleuten bei unseren Abendgesellschaften gern als Flüsterecke benutzt wurde. Dann kam das Schlafzimmer in Rüster und Moiree-Esche, eine helle Holzart mit entzückender Maserung, 2 Kleiderschränke mit Wäschefach und ein Schrank für Tisch-, Bett, Küchen- und Apothekenwäsche, sowie eine 2 Meter breite Frisiertoilette, ein zweischüsseliger Waschtisch, alles hatte in dem großen Raum gut Platz.
Vater bestimmte, daß Franz seine Stellung zum l. Januar 1903 aufgeben solle, um sich ganz der Suche nach einer eigenen Apotheke widmen zu können, was damals nicht einfach war, denn die meisten waren in festen Händen. Aber wie so oft im Leben kam uns der Zufall, oder war es Schicksal, zu Hilfe. Uns gegenüber wohnte eine Familie Schöntür, die ein großes Hotel in Breslau besaß. Mit der Tochter sprach ich manchmal auf der Straße, wodurch sie von unserer Apothekensuche erfuhr. "Ach", meinte sie, "vielleicht kann ich Ihnen helfen. In unserem Hotel steigt ein paarmal im Jahr ein Vertreter der großen chemischen Fabrik "Gehe"-Dresden, ab, vielleicht weiß er, wo eine Apotheke zu kaufen ist." Es dauerte gar nicht allzu lange, da kam sie zu uns, und brachte Empfehlungen von dem Vertreter und die frohe Botschaft, daß eine gutgehende Apotheke in Lüben in Schlesien zum Verkauf stände, weil es dort nur eine Volksschule gäbe, die beiden Söhne des Besitzers mit dieser fertig wären und die Mutter die Jungens noch im halben Kindesalter nicht aus dem Hause entlassen möchte.
Das Städtchen lag zwischen Liegnitz und Glogau, hatte nur 6000 Einwohner, aber die Apotheke war erst vor ca. 6 Jahren neu erbaut und enthielt viele schöne und große Räume. Das Haus hatte eine Tiefe von 24 m bis zur nächsten Straße. Franz und ich reisten zur Besichtigung und waren bis auf einen Punkt begeistert, das war der verlangte Preis: 330.000,- RM. Allein die beiden Privilegs, die darauf lasteten, waren mit 180.000,- RM bewertet, dazu das Haus mit 84.000,- RM, die restlichen 65.000,- RM gingen für Inventar und Warenbestand auf. Der Besitzer, Dr. Henschke, übrigens ein Onkel des Dichters Klabund (eigentlich Alfred Henschke 1890-1928), war sehr tüchtig in seinem Beruf und seine Buchführung unantastbar. Das bewog meinen Vater zum Ankauf, denn er wollte es nur mit reellen Menschen zu tun haben.
...Daß mein geliebter Vater vor meiner Hochzeit starb, habe ich schon erzählt. Sie sollte im September sein, an dem Geburtstag von Großmutter Hiescher. Als ich die Stufen zu dem Papiergeschäft hinaufging, um den Druck der Einladungskarten zu bestellen, kam mir auf einmal der Gedanke, daß man die Hochzeit nicht auf den Geburtstag einer Toten legen sollte, verwarf ihn aber gleich wieder. Wie oft mußte ich daran nach Vatels Heimgang denken. Was mich bewegte, kann ich nicht beschreiben. Für das tiefste Leid, für das höchste Glück gibt es keine Worte. Die Hochzeit wurde auf Ende Oktober verschoben und dann nur im engsten Familienkreis gefeiert, wenn das Wort feiern überhaupt noch angebracht ist. Für den Tag legte ich die Trauer ab und ging neben Franz im weißen Brautkleid zur Kirche, der alten Maria-Magdalena-Kirche, in der ich schon getauft und von demselben Geistlichen eingesegnet war. Derselbe war Subsenior Schwarz. Natürlich waren, wie ja immer, viele Zuschauer erschienen, und Franz hörte, wie eine Frau zur anderen sagte: "Die Braut wird reich, es regnet ihr in den Kranz." Ja, reich bin ich auch geworden, reich an Liebe neben meinem Herzensmann. Als der Geistliche in der Rede erwähnte, daß Vater zu dieser Stunde bei uns wäre, und seine einzige, so sehr geliebte Tochter mit seinem Segen bedenke, erschien auf einmal für wenige Minuten die Sonne, trotz des düsteren Regentages. Es waren wirklich Strahlen vom Himmelszelt, die mich unsagbar trösteten. Es war eigenartig, Franz sah mich liebevoll an und drückte mir stumm die Hand. Viele sagten mir später, daß der Einbruch der Sonnenstrahlen erschütternd gewesen wäre.
Gut, daß ich im neuen Heim auch gleich sehr viel Arbeit vorfand, denn die beiden Mitarbeiter in der Apotheke waren beide in voller Kost mit 5 Mahlzeiten, wie es damals üblich war. Wie hat man das eigentlich verkraften können? Nun war ich wohl in allen Zweigen des Haushaltes gut unterrichtet worden, aber wie sollte man fremde Menschen richtig beköstigen? Zum Mittagessen kamen sie nach oben, die anderen vier Mahlzeiten wurden ihnen auf dem Zimmer serviert. Die ersten Wochen bat ich Franz jedesmal zur Besichtigung um sein Urteil, wenn ich besonders das Abendbrot angerichtet hatte, und immer wieder sagte er, daß es mehr als gut wäre und er es nie so gut bekommen hätte. Nun, ich wollte es ja auch recht gut machen, denn der Apothekendienst war damals wirklich nicht leicht. Im Sommer von 7 bis 20 Uhr, im Winter von 8 bis 19 Uhr. Besonders taten mir die jeweiligen Eleven leid, die - der Schule entronnen - nun an ein besseres Leben dachten. Ja, Pleite! Nur alle 14 Tag einen freien Sonntag nach der harten Arbeitswoche. Manches Muttersöhnchen hat sehr umlernen müssen, da Franz, sonst die Güte selber, in bezug auf Pflichtgefühl sehr streng war, zumal er in die Prüfungskommission berufen worden war...
Das erste Weihnachten im eigenen Heim. Weil Franz wußte, wie sehr ich an der Sitte des Tannenbaumes hing, neckte er mich wochenlang vorher und meinte, daß es sich für uns eigentlich nicht lohne. Bis ich anfing, ihm zu glauben, aber auch traurig wurde. Natürlich erfreute mich am 24. der Lichterbaum. Am ersten Feiertag fuhren wir nach Breslau, wo meine Brüder auch waren, und Franz war ganz beglückt über den Familienkreis. Die Brüder hatten ihn alle lieb gewonnen, wie wäre es auch anders möglich gewesen... Das zweite Weihnachtsfest nahte und die selige Gewißheit, daß wir bald zu dritt sein würden. Am 21. Januar 1905 wurde unser erstes Kind geboren und erhielt - auf Franzens Wunsch - meinen Namen, Margarethe. Es wog nur 5 ¾ Pfund, war also zart und blieb es auch. Ich fragte einmal unseren alten Hausarzt, Sanitätsrat Dr. Dietrich in Breslau, wieso das käme, da Gretel doch die beste Pflege durch mich erhielt, keinen Löffel Essen bekam, den ich nicht zubereitet hätte und viele, viele Stunden an der Luft wäre. "Machen Sie sich deswegen keine Sorgen", meinte er, "die erste Ausgabe ist immer schwach." Und er hatte recht, denn das zweite Kind, geboren im Mai 1906, nach meinen beiden jüngsten Brüdern Hans-Kurt genannt, war viel kräftiger. Übrigens war Gretel auf Wunsch meiner Mutter in der Klinik des berühmten Frauenarztes, Geheimrat Küstner, zur Welt gekommen. Da ich mich vor der Rückreise noch ein wenig erholen sollte, blieb ich noch drei Wochen bei Mutter. Wie schön war die Heimkehr! Den Gabentisch im Wohnzimmer hatte Franz ringsherum mit Schokoladenherzen geschmückt, die an rosa Seidenbändern hingen. Wahrlich, ein "herzlicher" Empfang...
In Lüben hatten wir Gelegenheit, einen Garten zu pachten, der nur wenige Minuten von der Apotheke entfernt war. Der Weg war in sieben bis acht Minuten zu schaffen. Ganze 30,- Mark kam die Pacht, dafür ernteten wir zehn bis zwölf Zentner Äpfel und Birnen, dazu das Beerenobst und das Gemüse. Eine Laube war schon drin und Turngerät wurde angeschafft. Eines Tages, als ich in den Garten ging, merkte ich, daß Diebe darin gewesen waren, die u. a. einen großen Kürbis zerschnitten hatten, der ihnen zum Transport wohl zu groß gewesen war. Der oder die Diebe mußten über den Zaun geklettert sein, denn das Türschloß war unversehrt. Ich kam heim und erzählte es meinem Gatten, fragend, was man da machen könnte. "Gar nichts ist da zu machen", meinte er. "Wozu ist denn die Polizei da", meinte ich, "ich werde es melden." Und wanderte zu unserm tüchtigen Kommissar Kressin, einem sogenannten Zwölfender, wie der Volksmund es sagt. Er fragte mich, ob ich irgendwelchen Verdacht habe? "Bis jetzt nicht, aber nun habe ich einen." "Wieso?" "Als ich kam, saßen die beiden Jungen im Vorzimmer ganz ruhig und still da, kaum hatte ich mich gesetzt, fingen sie lebhaft zu tuscheln an. Das kann nur mit dem Einbruch zusammenhängen, denn an meiner Person können sie kein Interesse haben." "Wenn das stimmt, dann ist an Ihnen eine Diplomatin verdorben." Er rief die Jungen herein und fragte: "Wann seid Ihr im Apothekergarten gewesen?" "Donnerstagnachmittag, Herr Kommissar." Dieser drehte sich auf den Absätzen kurz zu mir um und grinste mich an. Durch vielerlei Fragen stellte es sich heraus, daß sie sich die zahme Dohle holen wollten, die sie im Garten glaubten. Die Kinder hatten sie vom Direktor der Heil- und Pflegeanstalt geschenkt erhalten, sie lebte bei uns im Hof, aber wenn die Kinder in den Garten gingen, dann nahmen diese sie mit. Sie saß dann gravitätisch auf einer Schulter. Da die Flügel gekürzt waren, konnte sie nicht fliegen. Für sie war der Garten mit seinem grünen Rasen viel schöner als der gepflasterte Hof. Der Kommissar fragte, ob sie die verdienten Prügel von ihrem Vater oder von ihm haben wollten. "Lieber von Ihnen", war die einstimmige Antwort. "Wenn Ihr mir versprecht, nie mehr in den Garten zu gehen, dann werde ich den Herrn Kommissar bitten, euch die Strafe zu erlassen." Sie versprachen und hielten es. Wenn sie mich später auf der Straße trafen, dann zogen sie ihre Mützen bis tief auf die Erde. Ich habe oft nach ihnen gefragt, aber immer nur Gutes von ihnen gehört, was uns sehr freute, schon der Eltern wegen...
Die Jahre vergingen, im Winter in Lüben und im Sommer in Flinsberg. Einmal war daselbst wieder Reunion, am Vorabend meines Geburtstages. Wir hatten für mehrere Wochen lieben Besuch, Fräulein Vierung aus Lüben, und gingen alle mit den Kindern ins Kurhaus und tanzten jeden Tanz. Um Mitternacht spielte die Kapelle einen Tusch und der Ober erschien an unserem Tisch mit einem großen Rosenstrauß und zartem rosa Briefchen. Ich las die Anschrift, konnte aber die Handschrift nicht erkennen. Vor Aufregung wurde ich rot. Da sagte Franzl zu Fräulein Vierling: "Sehen Sie nur, wie meine Gattin rot wird, nun bin ich aber neugierig, wer der Verehrer ist." So ein Witzbold, dabei war er es selbst, und freute sich diebisch, mich in Verlegenheit gebracht zu haben. Die Adresse hatte der Ober schreiben müssen, die konnte ich natürlich nicht erkennen...
Ein junger Finanzbeamter in Lüben wollte sich die Sporen verdienen und setzte meinem Gatten sehr zu. Bei einer dieser Auseinandersetzungen kam ich zufällig ins Kontorzimmer, sah, wie Franz sich erregt hatte, weil der Beamte ihn nicht direkt, aber doch indirekt falscher Angaben beschuldigen wollte, was für meinen grundehrlichen Gatten eine unerhörte Beleidigung war und an seine Ehre ging. "Ich kann nicht mit ansehen, wie diese Beschuldigungen meines Gatten Gesundheit schaden, bitte verlassen Sie das Zimmer, Sie werden von uns hören." Zu Franzl aber sagte ich: "Du darst dich nicht mehr mit diesen jungen Dachsen herumärgern, nimm einen Steuerberater und übergib ihm alles. Da ist z. B. Herr Tschinke, der früher Finanzbeamter war, in die Materie eingeweiht, nun selbständig ist, er wird für dich alles regeln und du hast keine unnötige Aufregung. Das ist mehr wert, als das bißchen Honorar, das du dafür ausgeben mußt."
Als wir einmal zur Beratung bei ihm waren, sagte er zu Franz: "Ich betreue viele Apothekenbesitzer, aber keiner hat es so weit gebracht wie Sie. Ich muß immer wieder staunen, zumal Sie vier Kinder großgezogen haben." "Vergessen Sie meine Gattin nicht", meinte Franz, mich liebevoll ansehend. Herr Tschinke wurde uns Freund, fiel im Zweiten Weltkrieg bei Breslau. Mit seiner lieben Frau - leider in der Ostzone - stehe ich noch heute brieflich in Verbindung.
Wieder einmal waren wir in Flinsberg im Kurhaus zur Reunion, diesmal ohne Kinder. Wir hatten miteinander einen Walzer getanzt und gingen zu unserm Tisch. Franz trank mir noch zu, dann wurde er plötzlich sehr blaß, so daß ich ihn fragte, ob ihm nicht gut wäre. Das hat er schon nicht mehr gehört. Aus war ein Leben von unsagbarer Liebe und Güte. "Nun hast du mir den ersten Schmerz getan, der aber traf, du heißgeliebter Mann." So heißt es in Robert Schumanns Frauenliebe und -leben.
Ich sagte schon bei meines Vaters Heimgang, daß es für das tiefste Leid - für das höchste Glück - keine Worte gibt und kann es jetzt nur wiederholen. Nächst meinem Glauben und der christlichen Gewißheit auf ein Wiedersehen tröstete und tröstet mich ein Wort von Paul de la Garde: "Wie kann man die Toten lebendig machen? Indem man mit ihnen lebt."
Über meinem Bett hängt sein Bild, und wenn der Tag mit seinen Anforderungen und seiner Unruhe verklungen ist, dann spreche ich mit meinem Herzensmann, erzähle ihm alles, was mich bewegte, erfreute oder bedrückte, und in seiner ernsten oder heiteren Miene finde ich die Antwort. Wie könnte ich sonst leben und fröhlich sein. 29 Jahre waren wir einander zu eigen, nun wandere ich schon fast 40 Jahre allein - und doch nicht allein - immer zu zweien. Ein Trost, daß er den Tod unserer beiden Söhne nicht mehr erlebte.
Unser Sommerhaus in Flinsberg verkaufte ich nach einem reichlichen Jahr, denn ich hatte eingesehen, daß unser Idyll ohne ihn zu einer Stätte der Qual geworden war. Die Erinnerung überwältigte mich, denn gerade dort hatten wir mehr voneinander, da der Apothekenbetrieb ihn nicht in Anspruch nahm. Nur ganz persönliche Andenken entnahm ich dem Haus, alles andere übernahm der Käufer. Damit die Kinder einen Ersatz für das Kinderparadies erhielten, kaufte ich ein Auto. Gretel und ich lernten fahren, und sie konnte es bald ausgezeichnet. Das zeigte sich, als wir im Herbst, ein Jahr nach Franzens Heimgang, mit einem befreundeten Ehepaar und deren zwei Kindern die Ferien im Waldenburger Bergland verbrachten. Die erste Nacht blieben wir in der Andreasbaude, wo die Zimmer nicht mit Nummern, sondern mit kleinen Bildern bezeichnet waren. Z. B. zwei Tannen, Heidekraut, ein Waldvogel usw.
Am nächsten Tage fuhren wir nach Bad Reinerz. Auf dem Wege kamen wir an einem kleinen Haus vorbei, das mit seinem Plakat: "Die mechanische Geburt Christi" - unsere Neugier, ja unser Lachen erweckte. Dies aber verstummte bald, als wir die Stube betraten, in der an der Längswand das Leben unseres Herrn von der Geburt bis zum Tode dargestellt war, und zwar alles mit beweglichen Figuren, angetrieben durch die Kraft eines kleinen Bächleins, das am Haus vorbeifloß, und das sich der Künstler, so muß man ihn auf Grund seines Werkes wohl nennen, zunutze gemacht hatte. Es war eine erschütternde Darstellung, man kann für den Mann, einfacher Waldarbeiter, nur Bewunderung aussprechen. Oft habe ich an ihn gedacht, wie es ihm wohl in seiner zweiten Heimat ergangen sein mag.
Ein Erlaß der Regierung zwang mich - wie alle Apothekenwitwen - die Apotheke zu verpachten, meine Wahl fiel auf Herrn Apotheker Köhler, der nicht nur ein tüchtiger Fachmann, sondern auch ein reeller, liebenswürdiger Mensch war, so daß in den Jahren bis zur Flucht keinerlei Unstimmigkeiten auftraten. Eins möchte ich noch erwähnen, was ich zu Franzens Zeiten nicht erreichen konnte, das Ausbrechen eines Schaufensters! Und freute mich, welchen Erfolg diese Neuerung hatte. Heute ist es etwas Selbstverständliches. So ändern sich die Zeiten und wir mit ihnen.
Am 23. Januar 1945 flohen Gretel, Hans-Jürgen und ich aus Breslau nach Schleswig-Holstein. Inge mit Tochter und Schwiegereltern flohen zum Bruder der Schwiegermutter, kamen aber später zu uns. Wir wurden bei einer Witwe untergebracht, deren Mann eine Schafzucht besessen hatte. Das Dorf hieß Mönkhagen und war von Lübeck 9 km entfernt. Busverbindung gab es nicht, nur die sogenannte "Rummelkutsche", deren schwaches Pferdchen uns mühsam bis in die Stadt zog. Ich zog es vor, am Wegrand um Fahrgelegenheit zu bitten, und es geschah nur einmal in den fast zehn Jahren, daß ich vergebens bat. Mit nur 185,- RM war ich geflohen. Warum sollte ich viel Geld zu Hause haben? Alles, von der Miete angefangen, wurde von der Bank überwiesen, und als ich am Fluchtmorgen von diesem Geld abheben wollte, hieß es: Breslau ist über Nacht zur Festung erklärt worden, und alle Banken sind geschlossen. - Das war ein herber Schlag für mich, die ich im 66. Lebensjahre stand, auf dem Lande, noch dazu im Winter keine Verdienstmöglichkeit bestand, irgendwelche Hilfe vom verarmten Staat nicht zu erhoffen war. Gretel und ich schliefen in einem Zimmer, das nur mittags zur Bereitung des Essens geheizt wurde mit ein paar Brocken Torf. Außerdem war es feucht, da Mönkhagen teilweise Mooruntergrund hatte. Zwei Grad Wärme, das war alles. Wenn man abends Licht anzündete, so glitzerten die Wände wie in einem Eispalast, dazu die mangelhafte Ernährung. Sechsmal in der Woche Steckrüben mit Kartoffeln ohne Fett, denn das viertel Pfund Butter pro Woche und Kopf mußte für Frühstück und Abendbrot bleiben...
Nicht lange, nachdem wir in Mönkhagen gelandet waren, erhielt ich die Nachricht, daß auch unser ältester Sohn, Hans-Kurt, gefallen sei. Am 6. Mai 1945 war er 39 Jahre alt geworden, am 7. Mai fiel er, am 8. Mai war der Waffenstillstand. Er war also eines der letzten Opfer in dem unseligen Kriege. Wenige Tage später klopfte es an meiner Tür. Auf mein "Herein" erschien ein kleines blondes Mädchen, machte einen Knicks und sagte: "Ich bin Ingrid von Borcke, Mutter läßt sehr herzlich grüßen und ich möchte Ihnen dieses hier übergeben." Das war je eine Tüte mit Kaffee und selbstgebackenen Plätzchen. Damals kostbare Gaben, zumal von einer mir ganz Fremden. Es waren auch Flüchtlinge, Gutsbesitzer aus Ostpreußen, Herr und Frau von Borcke mit 2 Töchtern. Der kleine Sohn war auf der Flucht gestorben. Nach einigen Tagen machte ich meinen Dankbesuch, aus der Viertelstunde, die ich bleiben wollte, wurden 2 Stunden. Bald entstand eine herzliche Freundschaft, die heute noch nach 23 Jahren besteht und bleiben wird. Ja, September 1960 flog ich zu ihnen nach Südamerika, wohin sie 1951 ausgewandert waren. - Doch, davon später...
P. S. Franz Gottschalk gründete um 1923 den Lübener Tennisclub. Er war Vorsitzender und Sponsor des Vereins. Konrad Klose listet in seiner Chronik alle Lübener Apotheker auf.