Die Kinder des Fleischermeisters Paul John, aufgenommen im Jahr 1928 als die künftigen Fleischermeister.
Von links: Erich, Alfred, Gerhard, Käte, Annemarie.
Meine Geburtsstadt Lüben
Es ist eine kleine Stadt. Sie ist angelegt wie die vielen der gleichen Art im schlesischen Raume. In der Mitte der Marktplatz, von dem aus die Straßen abgehen. Sie erreichen jeweils die Stadtmauer. An dieser Stelle steht ein Torturm. Vierzehn solcher Türme hatte diese Stadt, die zum Ausgangspunkt unserer Erzählung wird, weil in ihren Mauern der Mann geboren wurde, dem wir auf den folgenden Seiten durch sein Leben folgen wollen.
Die Stadtmauer, an vielen Stellen noch erhalten, war ein Ring, der einer weiteren Ausdehnung hindernd im Wege stand. So sprengte denn die kleine Stadt diesen Panzer und schob sich in späteren Jahrhunderten weiter über diesen Ring hinaus. Die Tortürme fielen dem Zahn der Zeit zum Opfer, bis auf drei.
Der eine von ihnen war zum Glockenturm der evangelischen Stadtpfarrkirche geworden. der andere, am Glogauer Tor, hatte den Namen Pulverturm und diente als Stadtmuseum.
Allerdings war er zu den Zeiten der Jugendjahre unseres Mannes mehr der Friedhof von Legionen Fliegen als eine Stätte von kultur-historischer Bedeutung. Der dritte und letzte endlich fristete sein Dasein als eine von Efeu umsponnene Ruine und führte den Namen "Efeuturm". Er war das Ziel jungenhafter Streifzüge, bis eines Tages krachend ein paar Balken herniederbrachen. Daß niemand dabei zu Schaden kam, lag wohl daran, daß dies Geschehen zur Nachtzeit eintrat. Jedenfalls prangte noch im Verlaufe der ersten Vormittagsstunden nach dieser Nacht ein Schild am verwachsenen Eingang des Turmes, das besagte, ein Betreten sei lebensgefährlich wegen der Baufälligkeit des Gemäuers und aus diesem Grunde von der Stadtverwaltung verboten. So waren denn die in der Umgebung wohnenden Jungens eines ihrer beliebtesten Spielmittelpunkte beraubt.
Wo die alte Stadtmauer gefallen war, zogen gepflegte Promenaden jetzt einen grünenden Ring um den Kern der kleinen Stadt. Ein Teil der Anlagen zog an der alten Volksschule vorüber und an dem 1908 gebauten Gymnasium. Folgerichtig hatte er den Namen "Schulpromenade" erhalten. Seinen Abschluß fand er vor dem Portal der katholischen Kirche in einem mit Rosen bepflanzten gartenähnlichen Teil. Dies war natürlich der "Rosengarten". Hier war die Stätte aller jungen Paare gewesen, seit der Rosengarten angelegt worden war. Und das war auch schon einige Jahrzehnte her, als unser Mann daselbst den Weg derer ging, die vor ihm hier gegangen waren.
Der andere Teil der Promenade zog entlang dem Wasser, das seinen Lauf durch die Stadt nahm. Obwohl ein Nebenfluß der Oder, hat es dieser Fluß nie zu einem ordentlichen Fluß gebracht. So besagte es auch sein Name, den er schlicht und einfach als sein Firmenschild führte: "Kalte Bach". Im Volksmund allerdings hörte man ihn nie anders als kalte Bache benannt. Dieser Promenadenzug hatte den Namen Wasser-Promenade.
Ein Teilstück dieser Promenade erinnerte an die große Textilvergangenheit der Stadt. Hier gab es einen Bleicherdamm. Das war die Stätte der Tuchmacher gewesen. Der letzte dieser Zunft lebte noch als ein alter Mann in den Jugendjahren unseres Mannes. Er war für die Jungen wie ein Stück lebender Geschichte. Als er im Jahre 1927 im Alter von 92 Jahren starb, da gab es in der Heimatzeitung noch einmal einen Rückblick auf die einst große Textilindustrie der kleinen Stadt. In den Schulen wurden daraufhin noch einige Aufsatzthemen derselben Art geboren.
Dort, wo sich auch die neuen Wohnviertel mit dem flachen Lande verwischten, stand der große Kasernenbau. Am Ende des 19. Jahrhunderts für ein kaiserliches Kavallerieregiment erbaut, wurde es 1934 erweitert und war die Unterkunft für die Reiter des modernen Heeres, die motorisierten Aufklärungsabteilungen. Flach zog sich das Land hinter dieser Kaserne nach dem Nordosten, dem Walde zu. Ein großer Exerzierplatz des alten Regimentes war über eine kurze Zwischenrolle als "Heldenhain" zu einem Flugplatz geworden. Und hier donnerten die Motoren ihr Lied und hämmerten der kleinen Stadt immer wieder ein, daß die neueste Zeit auch von ihr Besitz ergriffen habe. In den Straßen der Stadt wuchsen neue Häuser. Das vertraute Bild schwand mehr und mehr. Dem Verkehr, bis zum glorreichen Einfall des Baues einer Umgehungsstraße für den Lasterverkehr, fielen im Zuge der Straßenverbreiterung die alten Linden zum Opfer, die Linden, die der kleinen Stadt auch den Namen "Lindenstadt" eingetragen hatten. Ja, die 900 m lange Bahnhofstraße war nicht nur verbreitert und mit einer Straßenbeleuchtung versehen worden, die der in Berlin "unter den Linden" ähnelte, sondern man hatte hier auch junge Linden angepflanzt. So hatte die Stadt nun auch "ihre Linden".
Nach Südwesten, wo sich das Gelände einer großen Zuckerfabrik erstreckte, war auch eine Erhebung. Auf diesem "Berg" erhob sich eine alte Windmühle, die noch immer ihre Pflicht tat. Gegen Ende der 1930er Jahre aber waren die Flügel nur noch ein Tribut an die stolze Vergangenheit. Die Mühlsteine drehte ein Elektromotor.