  
     
     
      
     
     
   
    
     
     
        
     
     
    
  | 
 
Im Jahr 1946 beschrieb Gertrud Otto (verh. Krauß), die wie meine Großeltern in der Lübener Kasernenstr. 13 gewohnt hatte und als Schneiderin des Brautkleids meiner Mutter an der Hochzeit meiner Eltern teilgenommen hatte, in einem  Brief an meine Mutter die Flucht ihrer Familie aus Lüben: 
 
   | 
 
Sulzbach-Rosenberg-Hütte, d. 16.1.46
 Liebe Ursel!
 Vielen herzlichen Dank für deinen Brief und die Wünsche für das
 neue Jahr. Auch wir wünschen Euch alles Gute vor allem Gesundheit.
 Ich hatte schon vor an Lottes Adresse zu schreiben, weil ich annahm, daß
 Ihr in Taucha seid. Durch Grete Meywald erfuhr ich daß Ihr in Leipzig
 gelandet seid. Liebe Ursel wir haben uns auch oft Gedanken gemacht,
 wie Ihr alle raus gekommen seid. Durch Frau Berndt die uns in Görlitz
 aufsuchte, hatten wir erfahren, daß Ihr noch Sonntag früh im Haus wart.
 Wir sind wie du annimmst nicht am 27.1. mittags weggefahren. Wir
 sind doch von der Bahn noch mal zurück, weil doch durch den Lautsprecher
 Studienrat Fiedler verkündete, daß der Ru. 80 km zurück gedrückt
 worden ist. Vater wollte darauf hin doch nicht fort. Als es abends
 um 22.30 los ging, waren wir doch noch in unserer Wohnung. Daß der
 Flugplatz in die Luft ging und daß es in Mallmitz brannte haben
 wir noch mit erlebt. Wir sind Nachts ½ 2 Uhr aus dem Haus.
 Kamen bis auf die Breitestraße da wurden wir von unseren
 Soldaten von der Straße gejagt. Aus dem Hitlerpark schossen
 sie mit Maschinengewehren. Wir wollten im Anker* in den Luft-
 schutzkeller da wurden wir aber nicht rein gelassen wegen
 Überfüllung; dann sind wir zur Frau Liebe. Das Haus war offen
 und eine junge Frau aus dem Hinterhaus stand vor der Tür.
 Die sagte uns, daß Fr. Liebe mit Selters schon fort ist. Bei dieser
 Frau haben wir die Nacht verbracht. Ein Mann aus Guhrau
 wohnte bei ihr. Der ging ab und zu mal sehen wie es auf der
 Straße aussah um ½ 5 Uhr hörte doch die Schießerei etwas auf.
 Ich habe der Frau noch helfen packen denn die hatte auch viel zu
 viel eingepackt auch ein kleines Kind von ¾ Jahr und 14 J.
 Um 6 Uhr bin ich dann mit den Eltern zur Bahn. Da stand ein
 unendlich langer Güterzug da, aber schon alles überfüllt. Als
 wir fragten hieß es schon alles überfüllt. 2 Wagen die ganz
 offen ohne jeglichen Rand waren noch zur Verfügung. 2 Soldaten
 Bewachung für den ganzen Zug. Diese beiden haben den Eltern
 geholfen daß sie rauf kamen. Der Zug setzte sich schon in Bewegung
* Lübener "Gasthof zum gold'nen Anker"
   | 
 
    | 
 
lag Vater auf dem Bauch Muttel auf dem Rücken alles voll Schnee. Und dazu
 diese grimmige Kälte es war wohl also der letzte Zug der aus Lüben
 raus ging. Hätte ich nicht als wir auf dem Bahnhof ankamen
 bei einer Schwester aus dem Säuglingsheim geholfen, einen
 Säugling in den Zug tragen, wären wir mit dem Zug nicht
 mit gekommen; denn dadurch habe ich die leeren Wagen gesehen.
 Es war ein furchtbares Elend die Mütter waren schon in den Waggons
 und schrien nach ihren Kindern und Schwester Berthen  raste immer
 hin u. her ob die Schwestern nicht mit den Säuglingen kommen.
 Der Lokführer wollte fahren die Soldaten schrien wieder dazwischen
 wenn der Hund abfährt schießen wir ihn übern Haufen. Nach 3
 stündiger Fahrt sind wir in Liegnitz gelandet die ersten Verwundeten
 von der Nacht sind mit diesem Zug auch befördert worden. Ohne
 jegliche Hilfe Schwester-Verbandszeug war nichts vorhanden. In
 Liegnitz hatten wir dann Glück. Ein Offizier und 1 Feldwebel  haben
 uns dann abgeholfen bis in die Halle denn der Zug war ganz
 aus Liegnitz rausgefahren die Eltern waren vollkommen steif
 von der Kälte. Um Muttel hatte ich große Sorge sie schlug am ganzen
 Körper . Der Offizier machte mich aufmerksam, daß um 12 Uhr 2 Züge
 in Liegnitz eingesetzt würden 1 Zug Berlinerstrecke der andere Dresden.
 Ich wußte im Moment nicht zu was ich mich entschließen sollte.
 Wir sind dann der Eltern wegen nach Görlitz. Dort kamen wir
 dann am 28.1. Nachts 1 Uhr an. In Görlitz auf dem Bahnhof
 trafen wir mit Petaris, Feiges und Jantke aus der Kaserne
 und Dr. Riesebeck zusammen. Riesebecks erzählten sie hätten
 alles stehen lassen die hatten nicht einen Koffer bei sich.
 Wir sind dann 3 Wochen in Görlitz geblieben die lachten uns
 aus daß wir nach Mecklenburg wollten, weil noch jeder glaubte,
 es muß wieder anders kommen. In Görlitz haben mich die Berthner
 Mädel besucht die waren auch alle 3 mit Großmutter und den Kindern
 dort. Die sind mit dem selben Güterzug und von Liegnitz mit dem
 selben Zug da haben wir uns aber nicht gesehen. Irma Ermlich
 habe ich auch noch getroffen. Von Görlitz sind wir nun am | 
 
    | 
 
18.2. früh mit einem Lastauto geflüchtet und zwar bis Seifhennersdorf.
 Dort haben wir übernachtet. Dann mußte jeder sehen, wie er weiter
 kommt. Bei uns waren Sorges und Schaffmanns. Durch dass wir mit
 dem Lastauto gefahren sind kamen wir ganz von unserer Strecke ab.
 Wir fuhren dann mit dem Zug bis Warnsdorf. Dort wurde ein
 Flüchtlingszug zusammengestellt. Überall hieß es schon: Sieh zu daß
 Sie über die Elbe kommen. Mit diesem Flüchtlingszug ging es nur
 im Schneckentempo  über Tetschen-Bodenbach, Aussig, Teplitz-Schönau
 Brüx Komotau Karlsbad Eger Bayreuth Amberg Sulzbach
 Rosenberg-Hütte. Diese Fahrt war eine Qual Hunger Kälte 8 Tage
 ohne eine warme Suppe oder einen Tropfen Kaffee. Nachts blieb
 der Zug oft Stunden lang auf freier Strecke stehen. Als wir hier an
 kamen mußten wir 5 Tage in Baracken die Verpflegung war
 gut wurden vom Werk aus verpflegt. Dann wurden wir in
 Quartiere verteilt. Da hatten wir wieder Glück allerdings sehr klein
 und kalt. aber allein. 1 Schlafzimmer, 2 Betten, Küche mit 1 Sofa. Der Mann
 dem die Wohnung gehört ist im Osten vermißt und die Frau vor 4
 Jahren gestorben. Seine Eltern haben die Wohnung zur Verfügung
 stellen müssen. Da wir keine Kinder hatten wurde uns diese W.
 zugedacht. Im Sommer haben wir uns auch ordentlich geplagt. Alle
 Tage in den Wald oder dann später nach Beeren oder Pilze. wir haben
 50 Pfund Blau und 30 Pfund Preißelbeeren geholt. Die Eltern sind derart
 mager es ist furchtbar. Als ich mal in Lützbach war, traf ich Frau Kühn
 e. Kusine von Magda Laubner Du glaubst nicht, wie wir uns gefreut
 haben. Sie wohnt bloß weit von uns entfernt. Sie muß 2 Stunden mit dem
 Rad fahren bis sie hier ist. Am Sonnabend vor dem Heiligen Abend
 kam sie mal auf 2 Stunden. Sie sagte, sie muß sich noch
 schnell ein Stückchen Heimat holen. Durch Frau Kühn erfuhr ich
 daß im Kreis Lützbach Schneidermeister Phillipp aus Lüben ist.
 Im Kreis Amberg auch nicht weit von uns der Opitz und Zahnarzt Meyer.
 Liebe Ursel du schreibst gar nicht wo Laubners sind? Ist die Berndt in
 Leipzig? Frau Kühn hätte so gern Grete Laubner auch gegrüßt. | 
 
    | 
 
An dich und deine beiden kleinen Würmchen haben wir schon oft gedacht.
 Ich glaube es gern, daß es eine große Plage ist. und nur hoffentlich bleiben
 sie gesund. Am 4.1. bekamen wir Post von unserer Lotte Frau Klipsch und
 Grete waren bei ihr. Wir hofften immer, daß sie aus Rechlin raus sind.
 aber nun teilt sie uns mit, daß sie geblieben sind Das Herz blutet einem
 wenn man diesen Brief liest. Aus ihrem Haus mußten sie raus. Sie durften
 nur mitnehmen was sie auf dem Hals hatten. Es ist ihnen alles genommen
 worden die Möbel abtransportiert. In dem Haus ist russische Besatzung.
 Sogar ihren Trauring haben sie ihr nicht gelassen. Sie schreibt, das einzige
 was ihr geblieben ist, daß wir nicht vergewaltigt worden sind
 und davon haben uns die Kinder geschützt. 100 Menschen sind gleich
 in den See gegangen. Sie haben auch schon oft ihrem Leben ein Ende machen
 wollen aber 4 Kinder umbringen dazu fehlt ihr der Mut. Giselher
 bittet immer wieder Mutti laß uns weiter leben vielleicht wird es
 noch gut. Ach Ursel, wenn man das liest, brichts einem das Herz.
 Brigitchen die Jüngste hat gebeten Mutti, möchte doch an Vatis
 Weihnachtsmann schreiben, ob er nicht ein Püppchen für kleine Mädchen
 hat oder wenigstens etwas zu essen. Sie haben nur trocken Brot und Kartoffeln
 Sie schreibt wie lange wir es noch aushalten wissen wir nicht. Lotte und Grete müssen
 Landarbeit machen erst 14 Stunden jetzt 8. Von Hellmuth* hat Lotte jetzt auch Post.
 Hellmuth ist noch mal als Kompanieführer an der Front gewesen Er
 hat als Hauptmann an der Oderfront das ganze "Ende" miterlebt und
 ist in englischer Gefangenschaft gewesen. Wir bekamen am 13.1.
 Post aus Schleswig-Holstein von ihm. Er schreibt eben entlassen stehe
 ich als Heimatloser auf der Straße. Was sollen bloß die Männer mal
 anfangen. Das Elend ist riesengroß. Hellmuth schreibt auch er hatte
 sich das Jahr 45 anders gedacht. Wir hofften doch alle die goldene Hochzeit
 der Eltern im Kreise der Familie nett zu feiern. Und nun waren wir so
 fern von unserer Heimat. Für solch alte Leute ist es auch furchtbar.
 Wir hoffen nun daß Hellmuth zu uns kommt. Lotte möchte dort
 auch gern weg denn eine Exsistenz kann sich Hellmuth dort nie mehr
 aufbauen. Nun will ich für heut schließen hoffentlich kannst das
 alles lesen man ist so aufgeregt dir deinen Eltern und den
 beiden Kleinen alles Gute und recht herzliche Grüße
 von deiner Trudel nebst Eltern
 Hoffentlich kommt der Brief gut an.
* Hellmuth Otto war Trudels Bruder, Lotte vermutlich seine Frau.
  | 
 
  
 
Gertrud Otto und ihre Eltern, LHB 4/1963. Gibt es Nachfahren der Familie Otto?  
  |