Irgendetwas passierte in so einer Schule täglich... So schlug bei einem schweren Gewitter der Blitz in eine Akazie ein! Mechthild Tscharntke, die Tochter unseres Direktors, fiel beim Spielen im Hof vom Baum (!) und brach sich den Arm... Unser Zwerghahn mopste in den Pausen den Schülern die Brote, aber er fraß sie nicht. Mich mußte Muttel jedesmal nach den Pausen aus irgendeiner Klasse rausholen, dort schien es mir besonders gut zu gefallen. Meine Schwester Gertrud schwärmte für die schönen bunten Mützen der Schüler (wer wohl nicht?); Elsa spielte gern im Sand, der auf diese Weise verstreut wurde, und war immer böse, wenn all ihre Sandbauten zerstört waren - ja, das war Lüben, das war auch die Kinder- und Jugendzeit der Siebenhaar-Kinder - denn der Schulhof stand ab Mittag für uns Mädchen zur freien Verfügung!
Wir erinnern uns noch an die Trauerfeier für den verstorbenen Direktor Dr. Caspari. Sie war der erste ernste Anlaß in der Geschichte der Schule. Später folgte die Enthüllung der Gedenktafel der gefallenen Schüler. Auch die Trauerfeier für den beliebten Bürgermeister Faulhaber wurde in der Aula abgehalten und viele Jahre später für den in Stadt und Landkreis beliebten und geschätzten Oberlehrer Gustav Zingel.
Nach dem Hinscheiden des ersten Direktors des Lübener Gymnasiums kam Direktor Erich Tscharntke. Wir alle hatten mit ihm und seiner Familie guten Kontakt, wir Kinder waren etwa gleichaltrig, wir spielten zusammen und stellten natürlich auch so manchen Unsinn an. Die Absicht, gemeinsam ein Theaterstück zu spielen, wurde von allen begeistert aufgenommen. So suchten wir uns zu diesem Zweck den Zeichensaal aus, rückten die Tische zu einer Bühne zusammen und versuchten nun unsere Kunst, verkleidet mit Kostümen aus Muttels Schrank.
Im Garten des Direktorhauses wurde ein Stall gebaut. Wir hielten ein Schwein und Hühner, die von unserer Muttel versorgt wurden. Die Hühner wurden eines Nachts gestohlen. Aber der Hahn weckte mit seinem Geschrei die Nachbarschaft, bei Baumgärtners wurde es lebendig, und so konnten die Diebe in die Flucht geschlagen werden. Einer der Diebe wurde sogar erkannt.
Eine Ziege gehörte zu unserem Viehbestand, die bei Vater Heinzel im Stall stand, sie war viele Jahre der beste "Milchmann". Als sie einen Haken im Heu verschluckt hatte, mußte sie notgeschlachtet werden. Da gab es, wie es so manchem Tierliebhaber geht, Tränen. Ein Erlebnis blieb auch noch haften: Unsere Enten fraßen gern Schnecken, wir suchten diese überall zusammen. Aber wehe, wenn uns Lehrer Eilert dabei erwischte, er zankte uns jedesmal sehr aus. Unsere "Muckeln" (Kaninchen) hatten wir im Keller untergebracht, um sie vor Diebstahl zu sichern. Unser Vatel hatte uns eine Dohle aus der Feueresse geholt, sie war so gelehrig, sprach sehr bald einige Worte, aber sie pickte und zwickte uns vor allem dann gern, wenn wir barfuß herumliefen. Ihr Tod war grausam: sie kroch ins Feuerloch, wurde im Ofen nicht bemerkt und verbrannte. Meiner Schwester Gertrud passierte das, sie war natürlich untröstlich und hat dieses Erlebnis bis heute nicht vergessen können.
Wer würde unter den Lehrerkollegen den Hausmeister vermuten? Und doch ist Erwin Siebenhaar auf dem Bild von 1941!
Wir Kinder wissen es, der Name Siebenhaar war in Lüben bekannt, und so konnte einst ein bei uns zu Besuch weilender Neffe, der sich im Städtel verlaufen hatte, dem Polizeibeamten (es war Herr Münster) sagen, daß er bei Onkel Erwin in der Schule sei. Sehr schnell hatten wir den Bengel wieder daheim - das war eben unser Lindenstädtchen Lüben!
Für unseren Vater galten die Schüler als "meine Jungs" - das sagte einfach alles! Eines Tages, als Vater Siebenhaar zur Post ging und zurückkam, lief das Wasser so ganz leicht über den Brunnenrand, hatte aber kein Unheil angerichtet. Da stopfte doch so ein Quartaner die Löcher des Trinkbrunnens im Eingang des Gymnasiums mit kleinen Korkstücken zu und drehte die Wasserhähne leicht auf. Vater Siebenhaar stellte den Sünder, hielt ihm eine Strafpredigt, wobei er dessen "Wascheln" (Ohren) nicht losließ und sicher dadurch dem Quartaner die Angst verstärkte. Aber Vater Siebenhaar hat das nie dem Klassenlehrer gemeldet, auch wenn er Schüler erwischte, die selbst im Heizraum Zuflucht suchten, um Arbeiten schnell abzuschreiben. Vor allem, da er wußte, daß es oft auch schwer war, trotz Fleiß. Und er versagte nie Hilfe; er stand sogar "Schmiere", um "seine Jungs" zu warnen, wenn Gefahr nahte. Vor allem, wenn Dr. Krusche Aufsicht hatte. Wehe, wenn der jemanden erwischte!
Immer wieder könnte man erzählen, so wie es sicher jedem geht, der an seine Kindheit zurückdenkt. Bei uns "Siebenhaars" war es vielleicht lebhafter, abwechslungsreicher. So manches Mal erzählte uns Vater Schulstreiche, wir alle haben herzlich gelacht. Er selbst mußte sich oft, wenn er einen Schüler bei etwas erwischte, das Lachen verbeißen, er zeigte nur seine - sicher von so manchem gefürchtete - Miene. Wir wissen, daß er von manchem Schüler mit Absicht geärgert wurde. Wie oft sauste Vatel aus der Wohnung den langen Gang entlang und nirgends war ein Übeltäter zu sehen. Aber er selbst war im Grunde genommen eine heitere, frohe Natur, und so nur konnte es kommen, daß er von 1911 ab bis zum Weggange von daheim - 1945 - als Hausmeister an der Lübener Schule war - und er, wie auch seine Familie, sich mit allen Lehrkräften die Jahre hindurch irgendwie besonders verbunden fühlte. Er sagte so gern : "Ich und der Herr Direktor !" - das war nie böse gemeint, aber es wurde oft genug sichtbar, wie wichtig auch das Dasein eines Hausmeisters sein kann. - Er tat sehr gern seinen Dienst an der Schule, und das haben wohl auch die Direktoren Dr. Caspari, Erich Tscharntke und Erwin Vetter, wie sämtliche Herren und die letzten Jahre Damen des Lehrerkollegiums festgestellt.
Der ehemalige Gymnasiast Wolfgang Abramowski (1926-2013) ergänzte am 5.2.2009:
Ich kann mich noch gut an den Hausmeister Siebenhaar erinnern!
Er war es, der uns Fahrschüler am 1.9.1939 mit den Worten nach Hause schickte:
"Geht nach Hause, es ist Krieg und die Schule ist geschlossen".
Mit freundlichen Grüßen Wolfgang Abramowski