Eingang zur Heilanstalt Lüben im Winter 1937 (Foto von Jürgen Velhagen)
Erinnerungen an den Winter in der Kindheit in Lüben
von Else Emmerich-Kirsch
Winterwelt, es schneit! Vor dem Fenster wirbeln große Flocken und bedecken die Gartenmauer mit einem dicken weißen Tuch. Bald kann man nicht mehr darübersehen, denn dicht wie ein Schleier verhüllt der Schnee den Blick ins Freie. Im Ofen knistert das Feuer und heimelige Wärme umgibt mich. Lange starre ich verloren in das Schneegeflimmer und die Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit.
Ganz von ferne vernimmt mein Ohr einen feinen Klang, noch verträumt leise... Sollte es Schlittengeläute sein? Wie viele Jahre liegen wohl schon zwischen Traum und Wirklichkeit? Zwanzig und noch mehr! Im Schneegestöber taucht ein starkes Pferd im Geschirr auf, hinter sich eine lange Kette von Rodelschlitten; ich höre Peitschenknall und helles Lachen. Die Schatten im Schnee gewinnen Gestalt, bekannte Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder. Plötzlich stehe ich mitten unter einer frohen Schar auf der Samitzer Straße.
Wir stehen um eine lange Schlittenkette und Heidrich-Paulchen ruft zum "Aufsitzen", das mit großem Hallo vor sich geht. Die Leute, die unserem Treiben von den Haustüren aus zusehen, meinen: "Das is ja 'ne scheene Bande, da geht's lustig zu!" "Ja, das ist doch der Tanzkreis, der sich jede Woche im Saal der ,Stadt Liegnitz' bei Grossern zum Volkstanz trifft!" "Na, eh die aber alle verschachtelt sind."
Schließlich übernimmt dann Lober-Erwin die Regie und bald sind alle Schlitten mit Jungs und Mädels besetzt. Die Gräfe-Jungen umschwirren den Zug auf ihren Brettln. Atemlos kommt da noch um die Ecke beim Neumann-Müller unser Gustl Fangohr gebraust. Da er so lang und dünn ist, wird er irgendwo noch dazwischen gequetscht und schon kann es losgehen. Vom Hofeingang winkt uns noch Mutter Gugsch lachend nach, Ernstel daneben ruft uns zu, auf den Gaul zu achten.
Mit lustigem Gebimmel geht es vorbei an der Eisbahn, die Schulpromenade entlang, herum in die Breitestraße, Hindenburgstraße, am Friedhof vorbei; die Anstalt und den Wasserturm hinter uns lassend, geht es an der Oberförsterei vorüber in den verschneiten Wald. Der Kutscher läßt das Pferd Schritt gehen, unsere Blicke gleiten über die verschneiten Schonungen. Winterwald im Sonnenglanz! Bald haben uns die "Brettler" eingeholt und eilen uns voraus. Die ersten Dächer von Koslitz tauchen auf. Am Waldsaum lehnt unser "Honig-Onkel", der einarmige Vater Wende mit der Pfeife im Mund, er schmunzelt übers ganze Gesicht.
Schnell sind wir durchs Dorf gerutscht, und wir halten vor dem Gasthaus von Schubert. Hier wird ausgespannt, wir lösen die Schlittenkette auf, jeder schnappt sich seinen Schlitten und auf geht's zum Rodeln auf den "Pilz". Dort geht es schon lustig zu. Mit mehr oder weniger Geschick versuchen wir zu zweit oder dritt die "tollen" Kurven zu meistern. Mit Mehwald-Hermann komme ich schon zum x-ten Male die Bahn herum. Achtung, die Doppelkurve mit der dicken Baumwurzel! Jetzt ist's passiert! Beide tollen wir im Schnee herum und kommen ohne Schlitten unter dem schadenfrohen Gelächter der anderen unten am Auslauf an. Auch das gehört dazu. Wir lassen uns aber nicht entmutigen und wandern noch ein Stück aufwärts zur "Todesbahn". Einige Jungen bringen schon die Trümmer ihrer Schlitten unter dem Arm daher, trotzdem aber wird ein Versuchs-Start gewagt. Wir sausen hinab, lassen uns samt Schlitten erst über die Buckel und dann hinein ins Schneeloch schleudern.
Die Dämmerung bricht herein, zurück geht es ins Dorf. Mutter Schuberten hat schon einen großen Kaffeetopp auf dem Küchenherd für uns bereitstehen. Im Saal ist es gemütlich warm, die Scheite knistern im Eisenofen, die Petroleumlampen schaukeln über unseren Köpfen und verbreiten so ein heimliches Schummerlicht. Nun wird bei Streuselkuchen und Mohnsemmel gevespert. Die Winterluft hat uns alle etwas müde gemacht, aber da plötzlich sitzt Werner-Ernst am Klavier und spielt uns die "Aufforderung zum Tanz". Und das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Nun folgen der Kaffeekannenwalzer, Windmüller, blaue Flagge, dazwischen klingt, von einigen Jungen vorgetragen, "Ich ging amol spazieren" von der kleinen Bühne herab, wir Mädel stehen ihnen nicht nach und singen die "schöne Lilofee", die "drei schönen Königstöchter", die auf ihren Jäger warten. Das Lied vom Schneegebirge aber vereint alle Stimmen und läßt uns mit "Kein schöner Land in dieser Zeit" den Ausklang finden.
Nun geht es wieder heimwärts durch den verschneiten Tannenwald; langsam verhallt das Schlittengeläut, wir sind daheim angelangt !
Plötzlich stehe ich allein auf der Straße, alles bleibt still um mich. Ich schaue hinauf zum Himmel, er hat sein klarstes, schönstes Sternenkleid angezogen - du solltest heimgehen, nein ... vielleicht kommt einmal der Tag, die Stunde, da du hier keinen Schritt mehr gehen kannst! Es treibt mich voran, ich sehe schon den Schatten unserer alten Windmühle vor mir und stehe bald vor ihr. Langsam streift meine Hand die Schneedecke von ihrem großen Flügel, an den ich mich nun lehne und auf die schlafende Stadt schaue.
Panorama im Schatten des Mondes: vor mir der Kirchturm, rechts davon der Rathausturm, im Vordergrund die Spitzen der katholischen Kirche, links der Fabrikschornstein, daneben die Zuckerfabrik - die Stadt schläft!
Else Emmerich-Kirsch in LHB 1/1954 S. 9
Winterfreuden - Erinnerungen an meine Kindheit in Lüben
Der Winter in der kleinen schlesischen Heide, also auch in unserem nach heurigem Maßstab idyllischen kleinen Kreisstädtchen Lüben kam planmäßig Ende November mit Schnee, der ohne Unterbrechung bis mindestens Ende Februar liegenblieb. Fahrbahnreinigung gab es nur auf Haupt- oder Durchgangsstraßen per hölzernem Schneepflug, einem rechten Winkel, ca. 1,20 m breit, davor zwei Kaltblüter-Pferde. Wir Kinder versuchten natürlich bei jeglichem Fahr- oder Gleitzeug als Anhänger mitzufahren. Da waren ja auch noch die vielen Kastenwagen voller Zuckerrüben, bis über den Rand vollgeladen, der Kutscher entweder obenauf oder - weil ihm kalt war - zu Fuß nebenher. Das war natürlich eine Doppelchance. Es fielen fast ständig einzelne Rüben herunter, die wir aufsammeln und der heimischen Küche zuführen wollten, damit Mutter Sirup kochen konnte, der für die Pfefferkuchenbäckerei dringend erforderlich war. Natürlich hatten die Kutscher etwas dagegen und langten mit ihren Peitschen kräftig hinter sich in unsere Richtung. Das waren stets Duelle mit offenem Ausgang.
Es gab ja damals kaum Autos in Lüben, so daß wir nach der Schule bis zum Einbruch der Dunkelheit mit unseren Schlitten und anderen Rutsch-Möglichkeiten auch das kleinste Straßengefälle für unsere Zwecke nutzen konnten. Außerdem wurde noch ein kleiner Abhang am Spritzenhaus genutzt. Dieser Weg führte auch zur Eisbahn und dann weiter in Richtung Windmühlenberg. Da herrschte immer Großbetrieb mit unvermeidlichen Rempeleien, es gab Beulen und manchmal auch Tränen.
Der Eisbahn sei ein Sonderkapitel gewidmet. Wenn man obengenannten Weg weiterging, kam nach wenigen Metern eine kleine Holzbrücke über den "Stänkergraben", er führte die Abwässer der Zuckerfabrik und roch wirklich nicht gut. Breite etwa einen Meter, 60 - 80 cm tief. Nach ungefähr 70 Metern kam eine weitere Brücke. Die führte über den Pfeffergraben, einen kleinen Bach mit klarem schnellfließendem Wasser. Er fror nur am Rand zu. Zwischen diesen Gewässern lag eine Wiese, ca. 300 m lang, die im Winter vom Pfeffergraben her geflutet wurde und so als Eisbahn diente. Pächter und Betreiber war Herr Beyer, der im Sommer auch das Schwimmbad hatte. Natürlich mußte er für seine Arbeit auch etwas verdienen, daher wurde Eintrittsgeld genommen. Wenn ich mich recht erinnere, zahlten Kinder bis 10 Jahre einen "Sechser", das waren fünf Pfennig, und die größeren einen "Böhm", das waren 10 Pfennig. (Um den Wert zu beurteilen, muss man wissen, dass damals die Stundenlöhne der Arbeiter unter einer Mark lagen.)
So versuchten manche Jungen den preiswerteren Eingang ganz hinten über den zugefrorenen Stänkergraben, dessen Eis aber nicht immer hielt. So trat mancher mit nassen Beinen bis über die Knie gleich wieder den Rückweg an und wußte, was ihn zu Hause erwartete.
An manchen Abenden wurden Laternen aufgehängt, und vom Grammophon gab's Musik dazu. Strom für Licht und Radio gab es noch nicht. Da traf sich dann die Jugend, um gemeinsam, oft im hinteren dunkleren Teil, "Bogenlauf zu üben".
Für Schlittenfans gab es noch den Rodelberg, einen künstlichen Hügel am Ende des Turnplatzes, vielleicht 15-20 m hoch, mit zwei Bahnen versehen. Die eine, mit normaler Neigung lag am Rande des Schillerparks, die andere, auch unheilverheißend "Todesbahn" genannt, lag an der der Stadt zugeneigten Seite. Da hat es zwar öfter mal Schlittenbruch und bei den Rodlern Beulen und blaue Flecken gegeben, aber größere Unfälle wohl nicht.
Ein weiteres kaum bekanntes Wintersportgerät waren "Tonnenbrettl-Ski" genannte Geräte. Man muß wissen, daß die Gurkeneinlegerei und Sauerkrautfabrik Hoffmann Holzfässer verwendete, meiner Erinnerung nach wohl knapp einen Meter hoch mit vielleicht 100 l Fassungsvermögen. So wie sie früher in jedem kleinen Lebensmittelladen standen. Damals gab es Kraut und Gurken frisch vom Faß, Gurken nach Anzahl, Kraut nach Gewicht berechnet. Die meisten Haushalte hatten aber eine eigene kleine Tonne im Keller stehen, worin sich diese Köstlichkeiten, selbst eingemacht, befanden. Ich kann mich erinnern, daß man beim alten Herrn Engel einen Krauthobel leihen konnte und die Krautköpfe zu Hause über einer Wanne schnitt. Das Ding sah aus wie ein Schemel mit einer Kreissäge, auf einer Seite zwei Wellenmesser, auf der anderen eine Kurbel. Das war Schwerstarbeit, zumal sich noch eine dritte Person als Gegengewicht auf ein Schemelende setzen mußte, damit die ganze Sache nicht ins Rutschen kam. Ich seh dies alles noch im Geiste vor mir.
Zurück zu den Fässern. Solche Tonnen gingen auch mal kaputt und einige Seitenbretter, die gewölbten Faßdauben, waren Abfall. Findige Köpfe nagelten also quer über die Mitte Stoffstreifen oder sonstige Gurtreste als Fußlasche, und fertig war die Sache. Damit umzugehen war eine Kunst, denn die Dauben waren ja gewölbt und trugen keinerlei Spurrillen für den Geradeauslauf. Also war der Benutzer, so er nicht gerade wieder auf die Nase gefallen war, bemüht ein Ziel anzusteuern, was er nie erreichte, weil die "Brettl" in alle anderen Richtungen wegrutschten. Absolut eine Vollbeschäftigung. Aber man hatte Spaß bei der Sache.
Die einfachste Sache allerdings war das "Koascheln", auf Hochdeutsch Schlittern genannt. Da die Wege nur mit Asche oder Sand abgestreut wurden und es meist bald wieder darauf schneite, waren solche glatten Flächen oft vorhanden und wurden von uns Kindern gleich entdeckt und benutzt, zum Ärger der Hausbesitzer, die ja nicht dauernd mit dem Ascheneimer zum Abstumpfen bereitstehen wollten. Koascheln war höchste Seligkeit, denn man konnte es ohne alle Vorbereitungen und Hilfsmittel machen. Es trug einem oft einen Rüffel ein, weil man die Zeit vergaß und zu spät zur Schule, nach Hause oder an seinen sonstigen Bestimmungsort gelangte.
Georg Böer (1924-2013), aufgeschrieben im Winter 2012
Winter daheim in Reichen
Trübe und grau waren auch bei uns daheim die meisten Spätherbsttage, zuweilen gab es schon starken Bodenfrost oder es lag eine zusammenhängende Schneedecke über dem Lande. Um diese Zeit begegnete man auf den Landstraßen den Wagenkolonnen der großen Güter, welche die letzten Rüben nach der Zuckerfabrik nach Lüben fuhren. Auf den abgeernteten Feldern und großen Saatschlägen suchten Rehe und Hasen nach Nahrung, und die kahlgewordenen Baumkronen bevölkerten große Schwärme Schwarzkrähen. Die Natur hatte sich in ihrem ewigen Kreislauf wieder einmal zur Ruhe begeben, auch die Menschen waren um diese Jahreszeit stiller und besinnlicher als sonst. Die Feldarbeiten wurden durch den Einzug des Winters beendet, so daß sich die Tätigkeit des Landvolkes nunmehr wieder mehr ins Dorf verlagerte. Jetzt wurde gedroschen, Dünger gefahren und Schweinschlachten gefeiert. Auch die großen Treibjagden fielen in diese Zeit, und wenn wir als größere Jungen daran teilnehmen konnten, dann brachte uns dies - abgesehen von dem begehrten Treiberlohn - stets eine willkommene Abwechslung. Das "Liegnitzer Tageblatt" veröffentlichte immer die Abschußresultate, und ich kann mich entsinnen, daß Ergebnisse bis zu mehreren Hundert Hasen - besonders in der Liegnitzer Gegend - keine Seltenheit waren.
An den langen Abenden kamen öfters eine Anzahl von Frauen im Dorf zusammen, um Gänsefedern zu schleißen. Bei dieser Gelegenheit wurden natürlich auch sämtliche Dorfereignisse und Neuigkeiten einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Eine Anzahl von Kleinbauern arbeitete die Wintermonate über im nahen Walde als Holzfäller, währenddessen die Frauen im Hause Zuckerrübensirup kochten. Die Liegnitzer Hausfrauen waren seinerzeit stets gern Abnehmer dieses schmackhaften Produktes.
Im Gegensatz zu dem milden Winterwetter z. B. im westlichen Zipfel Deutschlands hatten wir in Schlesien oft langanhaltende kalte und schneereiche Winter. Dann waren Straßen und Wege wegen Schneeverwehungen für Pferde- und Kraftfuhrwerk nicht zu passieren, so daß Post- und Zeitungssendungen ausblieben. Wenn dann noch die scharfen Ostwinde über die öde Winterlandschaft fegten, litten das Wild und die Vögel besonders große Not.
Im Winter 1929 z. B. kamen auch tagsüber Hasen bis an die Fenster meines Häuschens, um Schutz vor der grimmigen Kälte und Nahrung zu suchen. An einem derartig kalten Wintertage ging ich einmal auf der Landstraße von Krummlinde nach Groß-Reichen, als plötzlich aus dem unweit gelegenen Walde rechts der Straße ein Rudel von mehreren Hirschen herausgejagt kam. Kochend und dampfend setzten diese kurz vor mir in einem einzigen Sprunge über die Straße, um schon nach wenigen Augenblicken in dem Gelände in Richtung Fauljoppe zu verschwinden. Diese Tiere kamen anscheinend aus den Mühlrädlitz-Gugelwitzer Forsten, um in die ausgedehnten Brauchitschdorfer Waldungen überzuwechseln.
Für die Männer brachten die meist im Februar stattfindenden Holzversteigerungen auch stets eine willkommene Abwechslung in das stille Landleben, man sah sich jedenfalls wieder einmal. Zu diesen Holzverkäufen kamen viele Interessenten, besonders aus den Dörfern des Liegnitzer Kreises, um ihren Bedarf zu decken. Die Preise für das wertvolle Kiefernholz waren meistens sehr niedrig, so daß man vielfach Holz statt Kohle zum Heizen gebrauchte. Das Zerkleinern des nun abgefahrenen Holzes war jetzt die nächstfolgende Hauptbeschäftigung, und der Wohlstand der Heidebewohner
wurde damals bei uns sehr oft an der Anzahl der schön
und sauber aufgeschichteten Brennholzstapel gemessen.
Die Sonne stieg aber doch täglich immer höher, und wenn noch dazu ein lauer Südwind einsetzte, war die Macht des Winters endlich wieder einmal gebrochen. Menschen und Tiere atmeten nach der überstandenen Not wieder auf, und die Schulkinder sangen mit frisch-fröhlicher Stimme: "Winter ade, scheiden tut weh!"
Erinnerung und Zeichnung: Martin Sperling in LHB 2/1958