Die Flucht aus Lüben in Tagebuchnotizen von Käte John














Die Flucht aus Lüben

Die Nacht zum 28. Januar 1945 haben Großmutter und Mutter mit mir und der 10 Tage alten Schwester gemeinsam in der Wohnung in der Kasernenstr. 13 verbracht. Es gibt keinen elektrischen Strom mehr, der Flugplatz war gesprengt worden, es brennt und Artilleriegeschosse schlagen immer näher ein. Für die beiden Frauen steht fest: Wir müssen weg! Die Russen stehen vor der Stadt. Bei eisiger Kälte und Schneetreiben schieben sie jede einen Kinderwagen quer durch die Stadt zum Bahnhof. Am liebsten würde die Großmutter noch einmal nach dem Laden sehen. Sie hat ihn am Vortag mit einem unguten Gefühl verlassen. Aber jetzt muss sie die Führung der kleinen Gruppe übernehmen. Und sie legt fest: Auf schnellstem Wege zum Bahnhof! Noch immer haben nicht alle Frauen und Kinder die Stadt verlassen. Überall Weinen und Wehklagen. Offene Viehwaggons sind die einzigen Züge, die die Bahn noch stellen kann. Es ist bitterkalt und es gibt nur noch Katastrophenmeldungen. Es ist, als ob der Weltuntergang bevorstünde...


Immer wieder habe ich später Großmutter und Mutter gebeten, ihre Erlebnisse aus diesen Tagen aufzuschreiben. Sie konnten es nicht. Sie hatten keine Worte für das Chaos, das Elend und den Verlust all dessen, was ihnen Heimat war.

Dafür habe ich auf überraschende Weise Kenntnis von den Tagebuchaufzeichnungen eben jener Käte erlangt, bei der meine Mutter in der Dragonerstraße 7 Quartier bezogen hatte. Sechzig Jahre später fanden sich die Kinder der beiden Frauen über das Internet, ohne voneinander gewusst zu haben. Kätes Sohn Michael lebt in den USA. Seine Mutter war 1954 nach Kanada emigriert. Mit tiefer innerer Bewegung las ich die Aufzeichnungen aus den Tagen vom 26. Januar bis zum 25. Februar 1945. Käte John war Angestellte bei der Bahn in Lüben. Sie kochte und wusch nicht nur für ihre Kollegen, sondern half während der Evakuierung auch den Flüchtlingen.

Ich gebe hier einige Auszüge wieder, die in einem inneren Zusammenhang mit meiner Familie stehen. Ich danke Kätes Sohn Michael für die Erlaubnis, diese mich tief berührenden Auszüge aus dem Tagebuch seiner Mutter zu veröffentlichen.

Tagebuchaufzeichnungen 26.1.1945 27/26 Januar 1945.

Früh 8 Uhr ein Flüchtlingszug nach
Forst, das Einladen war eine Ka-
tastrophe. Am ganzen Tag auf weitere
Züge zum Verladen gewartet. Keine
Lok, unendlich viele Menschen auf
dem Bahnsteig. Gegen 23 Uhr für die
G. K. mot eine Lok, unsere Wagen wur-
den angehängt. - Beinah Zugun-
glück, kurz vor dem Prellbock den
Zug zum halten gebracht. x
Tagebuchaufzeichnungen 26.1.1945
x Friebe (Posten 169) meldet gegen 22 Uhr
russischen Spähtrupp, er wurde vom deut-
schen Offizier weggeschickt. Gegen 23 Uhr
kamen die ersten Granaten auf den Flug-
platz, anschließend wurde er von uns
gesprengt. Versagen der Partei in
jeder Beziehung.
Tagebuchaufzeichnungen 28.1.1945 28/27. Januar 1945

Früh 1 Uhr losgefahren, bis Vorder-
heide. Kaffee für alle gekocht.
Wir haben die Bahnhofswirtschaft in
Beschlag genommen. Mittags Kar-
toffeln und gemischtes Gemüse ge-
kocht. Abends gefriert! - Auf Stroh im
Fahrdienstleiterraum geschlafen.
Tagebuchaufzeichnungen 30.1.1945 30/29. Januar 1945.
Die Omnibusfahrer von Görlitz wieder ein-
getroffen, die fahrt nach dort muß
entsetzlich gewesen sein, früh der Panzerzug
nach Lüben gekommen. 1 russ. Panzer
abgeschossen bei Posten 167-166, der andere
hinter den Schießständen verschwunden.
Tagebuchaufzeichnungen 31.1.1945 31. Januar 1945 Nach-
mittags nach Lig gefahren. Verwundete
mitgenommen, ebenso Flüchtlinge,
eingekauft. - Nach Angaben des Offz.
vom Panzerzug hat der Russe den
Flugplatz, die Anstalt und die Kaserne.
1.2. Abends mußte man sehen, wie
Lüben brennt.
Tagebuchaufzeichnungen 1.2.1945 1.2. wieder nach Lig gefahren. - Wehrmachts-
verpflegung empfangen. - Unsere Män-
ner sind mit der Lok nach Lüben ge-
fahren. Sie haben furchtbare Nachrichten
mitgebracht. Das Siedlungsviertel
Kotzenauerstr. ist restlos ausgebrannt.
In Vh. heute einen Hauptver -
bandsplatz eingerichtet. - Lüben brennt
wieder, der Himmel ist ganz rot.
Tagebuchaufzeichnungen 2.2.1945 Panzerzug meldet, daß der Russe
aus Mallmitz fast weg ist. Bäumert
u. Baier Ernst waren in Lüben. Von
Dragonerstr. 7 aus wurden die russ.
Scharfschützen im Hause gegenüber
bekämpft.