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Meine Mutti Grete Degenkolb geb. Michel wurde 1929 in Hummel/Kreis Lüben in Schlesien geboren. Leider ist sie im Jahr 2014 verstorben. Mit diesen Aufzeichnungen erhoffe ich mir Menschen zu finden, die mir noch etwas über das kleine Dorf Hummel, in dem meine Mutter aufgewachsen ist, berichten können.
Im September 2018 habe ich zum wiederholten Male die Heimat meiner Mutter besucht. Mein erster Besuch war im Jahr 1974, als ich noch Kind war. Damals fuhren meine Eltern mit mir und meiner Schwester das erste Mal in die Heimat meiner Mutter. In dem Dörfchen Hummel wurden wir liebevoll von einer polnischen Familie aufgenommen, die selbst Vertriebene aus einem ukrainischen Gebiet waren. Ihre Namen waren Dimitri und Maria. Beide konnten etwas deutsch sprechen und so konnten wir uns mit ihnen verständigen.
Dort zeigte uns Mutter ihre Heimat, wo das Wohnhaus einst stand, den Wald, die Kirche, wo sie zur Schule ging und vieles mehr. Die Reste vom kriegszerstörten Wohnhaus waren zwar von Pflanzen überwachsen, konnten jedoch im Wald gefunden werden. Die Kanäle waren noch vorhanden und mit Wasser gefüllt. Überall im Wald wuchsen Blaubeeren und Pilze.
Ich weiß noch, wie ich auf dem Hof von Dimitri und Maria gespielt habe und mich mit dem Hund anfreundete. Von Maria bekam ich sogar eine Puppe aus ihrer Kindheit geschenkt.
Unsere Mutter musste 1945 im Alter von 15 Jahren mit ihrer Familie aus ihrer Heimat flüchten. Es war fast schon zu spät, doch am 8. Februar wurden auch die Bewohner von Hummel und den umliegenden Orten von der Wehrmacht aufgefordert, die Heimat zu verlassen. Schnell wurde gepackt, das Nötigste, das Liebste zusammengerafft und so flüchtete auch die Familie meiner Mutter mit einem Pferdegespann aus dem dortigen Rittergut (siehe Bild Rittergut Hummel) in Richtung Südwesten. Ziel sollte Tetschen-Bodenbach sein. Die erste Nacht fuhren sie auf der Flucht vor der Roten Armee durch. Erst im Mai 1945 fanden sie eine Bleibe in der Sächsischen Schweiz. Als der Krieg beendet war, beschlossen sie, in die Heimat nach Schlesien zurückzukehren. Am 1. Juni 1945 waren sie dann wieder in Hummel in der Heimat. Das Gebiet war von den Russen besetzt und stand kurz vor der Übergabe an die polnische Verwaltung.
Ihr Wohnhaus fanden sie abgebrannt vor, so bezogen sie ein anderes Haus, dessen alte Bewohner nicht zurückgekommen waren. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie sich bei den Russen auf dem Rittergut in Hummel. 1946 kamen die Polen. Ebenfalls Vertriebene, aus dem ukrainischen Ostgebiet, die im Dorf angesiedelt wurden. In den Jahren 1946 und 1947 wurden die Deutschen endgültig aus Schlesien, das nun polnisches Gebiet geworden war, vertrieben. Somit musste auch Familie Michel an Weihnachten 1946 abermals die Heimat mit einem Flüchtlingstreck verlassen. Sie gelangten bis in die russische Besatzungszone nach Oelsnitz im Vogtland. Von dort wurden sie auf die umliegenden Dörfer verteilt.
Mutter hatte noch zwei Brüder gehabt. Der ältere Bruder Willi Michel war 7 Jahre älter als sie, geboren 1923 in Hummel. Er wurde zum Kriegsdienst an die Ostfront eingezogen und kehrte nicht wieder zurück. Man musste ihn irgendwann für tot erklären lassen. Der ein Jahr jüngere Bruder Günter Michel, geboren 1930 ebenfalls in Hummel, verstarb am 29.3.1946 im Alter von nur 15 Jahren in Kotzenau durch den Tritt auf eine von der Wehrmacht ausgelegte Mine. Dem Erzählen nach sollte er Zigaretten für die Russen holen und ist wohl nicht auf den Wegen geblieben, sondern über die verminten Wiesen, Wälder und Felder gelaufen. Er wurde in der Luft zerrissen. Es wurde nicht mehr viel von ihm gefunden.
Aufgewachsen waren die Geschwister idyllisch am Waldrand von Hummel-Karlsgnaden. Der Vater war Wald- und Forstarbeiter des dortigen Rittergutes und somit bewohnten sie ein Arbeiterforsthaus vom Rittergut. Sie erzählte oft vom Pilzesuchen nach einem Gewitter oder vom Hirschschuppen, wo wohl Futter zur Winterfütterung für die Wildtiere gelagert wurde. Oder aber auch von der Angst im Herbst, wenn die Hirschbrunft war, vom Röhren der nahen Hirsche. Auch die in der Umgebung angelegten Kanäle zur Wasserversorgung waren oft ein Gesprächsthema Auch die dort wachsenden Kastanien- und Akazienbäumen hat sie immer wieder erwähnt. Es war ihre Heimat, dort wo sie ihre Kindheit verbrachte und verwurzelt war.
Über Details von Flucht und Vertreibung und über den schrecklichen Tod ihres Bruders Günter hat sie nie gesprochen.
Ihre Mutter, also meine Oma Berta Michel geborene Kusch, wurde 1896 geboren und ist im Alter von nur 39 Jahren 1936 in Hummel verstorben. Dem Erzählen nach soll sie einen Schlaganfall gehabt haben, während sie gerade dabei war, eine Kuh zu melken. Sie wurde auf dem Friedhof an der Grenzkirche in Hummel beerdigt. Da war meine Mutter gerade mal 6 Jahre alt. Nach dem Tod der Mutter hielten sich die Kinder oft bei der Großmutter väterlicherseits in Groß Heinzendorf auf.
Die Aussicht, dass es noch Überlebende aus Hummel gibt, ist zwar gering, dennoch möchte ich es versuchen. Ich bin gerade dabei, für die Nachfahren meiner Familie Erinnerungen an unsere Mutter, Oma und Uroma aufzuschreiben und bin für jede Ergänzung dankbar.
Simone K. |
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