Der Wasserwald bei Kaltwasser
Oskar Hinke in "Führer durch die Lübener Landschaft",
Heimatbüchlein der Ortsgruppe des Riesengebirgsvereins Lüben, im Jahr 1928, S.67-70
Große Anziehungskraft auf Botaniker wie Entomologen übt der im süd-lichen Teil des Kreises liegende Wasserwald aus. Er liegt westlich von Kaltwasser und östlich von Buchwald, wird im Norden durch höher liegenden, sand- und kieferreichen Forst und im Süden durch die Chaussee, welche Vorderheide und Kaltwasser mit dem Haynauer Kreise verbindet, durch Kulturland und die Wohnung des staatlichen Försters begrenzt. Von hier aus wird gewöhnlich in den Wald eingetreten. Ein breiter Fahrweg führt in schnurgerader Linie bis an den Rand des Kiefernwaldes, also von Süden nach Norden; ein ebenso breiter Rasenweg durchquert den Wald von Osten nach Westen. Die dadurch entstehenden Waldflächen sind ziemlich gleich groß und bilden den Wasserwald im engeren Sinne. Wie schon der Name verrät, ist er reich an Feuchtigkeit. Alle Ehre macht er ihm besonders nach der Schneeschmelze und in regenreichen Sommern; dann können viele Partien überhaupt nicht betreten werden. Gewisse Teile, namentlich im Nordwesten, sind überaus reich an Moortümpeln, die vielfach mitein-ander in Verbindung stehen und nur in recht andauernd heißen Sommern völlig austrocknen, so daß sie dann gefahrlos durchschritten werden können.
Da der fast völlig ebene Wasserwald in vielen Lagen gar keine Abda-chung hat, so muß das Wasser hier durch Abzugsgräben fortgeleitet werden. In seiner Nordostecke hat er einen ziemlich starken Quell aufzuweisen, dessen Wasser jedoch den Wald bald wieder verläßt. Lehm und Sand bilden die diluviale Grundlage für Moore und Humus,
und letzterer ist die Grundlage für eine äußerst reiche und üppige Vegetation, die zum Teil einen stark ausgeprägten Vorgebirgscharakter zeigt.
Reichlichen Anteil an der Humusbildung nehmen, abgesehen von dem liegenbleibenden Laube der vielen Sträucher und Bäume, auch die stehenbleibenden Baumstümpfe, deren Entfernung unlohnend sein würde. Moose bekleiden die Basis der Baumstämme und deren zu Tage tretende Wurzeln; ihnen entwachsen zahlreiche Farnkräuter. Der Häufigkeit nach folgen dann Seggen (Riedgras), Gräser und Krauter, letztere oft so hoch, daß sie Schritte und Aussicht hemmen und hindern, darauf Unterholz, zusammengesetzt aus Haselnuß, Ahlkirsche, Faulbaum, Kornelkirsche und denjenigen Sträuchern, aus denen die eigentliche Baumflora des Wasserwaldes hervorgeht. Nadelbäume treten nur vereinzelt auf. Die ehrwürdigsten der Laubbäume - Eichen, Weißbuchen, Eschen und Birken - treten isoliert aus dem Unterholz empor. Doch auch fast alle übrigen einheimischen Holzarten sind, wenn nicht im Waldinnern, so doch gegen den Rand des Waldes hin vertreten, z. B. Linden, Rotbuchen, Ulmen und Pappeln. In den humusreichen Partien hat die Vegetation viel Ähnlichkeit mit der des Zedlitzbusches bei Striegau.
Da die tiefe allseitig geschützte Lage des Wasserwaldes, wie seine mannigfaltigen Boden- und Vegetationsverhältnisse vorteilhafte Vorbedingungen für die Entwicklung einer reichen Pflanzen- und Tierwelt sind, so ist der Wald in der Sommersaison das Stelldichein nicht nur von zahlreichen Pflanzen-, sondern auch Schmetterlings- und Käfersammlern. Ernste Forschertätigkeit unterstützt das staatliche Oberforstamt durch gütige Erlaubnis zum Betreten des Waldes stets auf das bereitwilligste. Und diesem fördernden Entgegenkommen verdanken denn auch die vier niederschlesi-schen Käfersammler die vielen lohnenden Entdeckungen, darunter eine ganze Reihe schlesischer Neuheiten. Von den 314 hier gefundenen selteneren schlesischen Käferarten beanspruchen zwölf allein den Wasserwald als alleinigen Aufenthaltsort in der Provinz.
Und wenn draußen auf den Wiesen das Schneeglöckchen geläutet hat, die Pestwurz ihre rötlichen Kelche öffnete und die goldig prangende Blüte des Scharbockskrautes, des Goldsterns und des Gold-Milzkrautes im Sonnenlicht erglüht, dann entwickelt sich tief drinnen im Waldesschatten eine Pflanzenwelt, wie sie sonst nirgends im ganzen Kreise zu finden ist. Aus den Lichtungen leuchtet mit seinen pfirsichfarbenen Blüten im März der unter Naturschutz stehende giftige Seidelbast oder Kellerhals hervor, und massenhaft schauen die lieblichen blauen Leberblümchen, das violette Lungenkraut, der weißblühende niedrige Sauerklee, die saftig strotzende Goldnessel, das kleine bescheidene Moschuskraut, das Zweiblatt und das Christophskraut aus dem Grün des Bodens. Später wechseln Hexenkraut, Waldmeister, die wunderbare glöckchentragende Weißwurz, auch Salomonssiegel genannt, und Knabenkräuter oder Orchideen, die auch unter Naturschutz stehen, mit dem hier blau-, da weißblühenden Lerchensporn ab, weiße und gelbe Anemone oder Osterblume und mancherlei Labkräuter bedecken weite Flächen. In auffallender Menge hat sich hier neben der blaßrosafarbenen Schuppenwurz, die auf den Wurzeln von Eichen, Hainbuchen, Pappeln, vorzugsweise aber von Haselsträuchern schmarotzt, auch die in manchen Gegenden unseres Vaterlandes fehlende Vogelnestwurz angesiedelt. Ihr höchstens zwei Spannen langer Stengel trägt keine eigentlichen Blätter, sondern nur Schuppen, und die ganze Gestalt ist vom Fuß bis zum Scheitel in ein helles Braun gekleidet, von dem sich nur die goldgelben, da und dort aus der Blütenähre hervorschauenden Paketchen von Blutenstaub abheben. In dieser Farbe sticht sie von der schwarzen Farbe des Waldbodens merklich ab und wird für den Beschauer sichtbar. Graben wir das seltsame Gewächs sorgfältig aus dem Boden, und das muß man sehr tief tun, so zeigt sich, daß es keine Wurzeln besitzt, die wie diejenigen grüner Pflanzen geeignet wären, die Nahrung aus dem mineralischen Boden aufzunehmen. Viele wurmartige, unverzweigte und haarlose Gebilde stellen in ihrer Gesamtheit ein Nest dar, woher der Name Nestwurz rührt. Und aus Mangel an grünen Blättern ist die Pflanze auch nicht imstande, die Kohlensäure der Luft zu spalten und den Kohlenstoff zu assimilieren. Sie ist daher auf die Fäulnisprodukte angewiesen, die das Regenwasser aus den die Bodendecke des Waldes bildenden alten Blättern, Nadeln und Holzteilchen ausgezogen hat, weswegen sie wie die obengenannte Schuppenwurz zu den Verwesungspflanzen oder Saprophiten gehört. Auch das stark riechende Maiglöckchen oder Springauf gedeiht im Wasserwald in großer Menge. Der Sanikel, der als Heilmittel angewendet wird, steht dort reichlich, wie auch die echte Brunnenkresse, ein Kind des Vorgebirges, durch ihr häufiges Auftreten überrascht. Die Einbeere, das Bingelkraut, die Haselwurz, die Frühlingsplatterbse, die Waldwicke, das nickende Perlgras, das Sumpfblutauge, die Sumpfsternmiere, die Citronenmelisse, Hunds- und Waldveilchen, Rattenschwanz und viele, viele andere sind Kinder dieses segenreichen Waldgebiets.
Auch volkskundlich ist der Wasserwald interessant. Hier knüpfen sich Sagen an den Siegfriedbrunnen, wo vor vielen Jahrhunderten ein Raubschloß gestanden haben soll, das eines Tages in dem moorigen Untergrund verschwand. Noch jetzt soll, nach altem Volksglauben, in der Geisterstunde der alte Vogt des Schlosses umgehen. Und nicht allzuweit von dieser Stelle hat man einst mit der Wünschelrute nach einem großen Schatz gesucht und ihn gefunden. Als man ihn nach tiefem Graben freigelegt hatte, soll ein dreibeiniger Hase darüber hinweggesprungen sein und im gleichen Augenblick war der Schatz verschwunden. Ostwärts auf dem Wege, der den Wasserwald von der Kiefernheide trennt, lag der Galgenberg, auf dem in alter Zeit die Verbrecher am Galgen ihr Leben ließen. Im sandigen nördlich gelegenen Kiefernrevier lag der "Heidenfriedhof", an dem man bei forstwirtschaftlichen Arbeiten alte Urnen gefunden haben soll.
Wer mit der genossenen Sammellust auch die Sammellast einer längeren Exkursion getragen und wohlverdienter Ruhe bedarf, der findet in den beiden Kaltwasser Gasthäusern, oben am Anfang des Dorfes bei König und am Ende desselben bei Reisner, gute körperliche Stärkung und Erquickung.