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Es ist kaum zu glauben, welche Zufälle und Fügungen dazu führten, dass ich Fotos und Briefe dem Vergessen entreißen kann, in die sie der Krieg scheinbar unweigerlich geworfen hat. Und dass es es Menschen gibt, die sich ohne jeglichen Eigennutz auf die Suche nach den Eigentümern solcher Zeitzeugnisse machen und sie am Ende der Öffentlichkeit anbieten. Einer der erstaunlichsten Funde soll hier vorgestellt werden!
Ein Sammler entdeckte in einem alten Schrank bei einem Gebrauchtmöbelhändler ein Fotoalbum mit Bildern und Dokumenten und bat darum, das Material mitnehmen zu dürfen. Er kannte zwar niemanden auf den Bildern, hatte auch die dort genannten Ortsnamen noch nie gehört. Aber es musste ja jemanden gegeben haben, dessen Leben sich darin spiegelte.
Das allein weckte sein Interesse. Und wenn wir auch noch so sehr über Google schimpfen... Für die Suche nach der Vergangenheit ist die Maschine unverzichtbar. Die wenigen Fakten, die in den Dokumenten zu finden waren, führten ihn schließlich zu mir. Ich kenne die Familie noch persönlich aus Begegnungen in meiner Kindheit. Tagelang habe ich die Zeitzeugnisse angeschaut, verglichen, durchdacht und kann sie jetzt geordnet als ein bewegendes Album über die Ziebendorfer Familie Schnabel vorstellen. |
Julius Schnabel, Bäckermeister in Reichenbach um 1875 |
Margarete und Rudolf Schnabel um 1924 |
Taufe des ältesten Sohnes Wolfram Schnabel 1925 in Ziebendorf. Direkt neben dem Schulhaus! Der Beweis, dass die Familie tatsächlich in dem kleinen Nebengebäude wohnte, das sie später um ein Stockwerk höher bauen ließ. |
Meine Großeltern waren eng befreundet mit Familie Schnabel. Sie besuchten sich, nahmen an allen Familienfeiern gegenseitig teil. Woher ihre Freundschaft rührte, weiß ich nicht. Beruflich hatten sie keine Berührungspunkte. Aber auch noch in der Nachkriegszeit pflegten sie einen engen Kontakt. Deshalb kenne ich sie sehr gut. |
Und was ist aus dem ältesten Sohn Wolfram geworden?
Ihn ereilte das Schicksal so vieler junger Männer, die ihr junges Leben einem Verbrecher auslieferten und dabei andere Menschen mit in den Tod rissen. Bis zuletzt waren Vorgesetzte bemüht, ihr sinnloses Sterben in einen Heldentod umzumünzen.
Lesen Sie, was die Dokumente ans Licht bringen!
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Neben den Dokumenten lag auch ein Zeitungsschnipsel mit diesem Gedicht von Hedda Zinner in dem Album. Jemand hat das Erscheinungsdatum der Zeitung darauf vermerkt. Ich bin sicher, dass es Rudolf Schnabel oder seine Frau Margarete gewesen ist. Das Gedicht muss sie auf tragische Weise an ihre Söhne, besonders den ältesten, Wolfram erinnert haben!
Tägliche Rundschau Nr. 115 / 25.9.1945
Ihr nicht!
Du wirst mal kein Hitlerjunge sein.
Dich wird deine Mutter nicht mehr verlieren.
Du darfst richtig spielen, darfst lachen, dich freu'n,
wirst nicht nur marschieren, marschieren, marschieren.
Du weißt nicht, was "Blut" und was "Rasse" ist - :
Du weißt es ja nicht, wie glücklich du bist!
Du zeigst deine Eltern, mein Junge, nicht an,
wirst Vater und Mutter lieben und ehren.
Dich lehrt man, was gut und was schlecht, kleiner Mann.
Du wirst dich um "Sippe" und "Stammbaum" nicht scheren;
du weißt es auch nicht, was ein "Ahnenpaß" ist - :
Du weißt es ja nicht, wie glücklich du bist!
Du wirst dich um deinen Vater nicht grämen,
kein Tuscheln einst hören: "Der sitzt im KZ!"
Dich wird nicht die Angst vor der Gestapo lähmen,
du weinst nicht, mein Junge, verzweifelt im Bett;
du ahnst nicht. was Auschwitz, was Buchenwald ist -
Du weißt es ja nicht, wie glücklich du bist!
Du wirst mal ein Mensch sein! Euch wird es gelingen,
daß Schmach und daß Schande von Deutschland weicht.
Ihr werdet die Achtung der Welt erringen,
doch das, mein Junge, das ist nicht so leicht.
An euch wird es liegen, daß Deutschland ist - :
Junge, du weißt nicht, wie glücklich du bist!
Hedda Zinner |
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