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Zoe Droysen am Eingang zu ihrem Garten in der Liegnitzer Straße 29, links die Brücke über den Pfeffergraben
Der alte Garten Wenn Juliane von einem Gang in das Städtchen heimkehrte, erfüllte sie immer von neuem die Freude, wieder in ihrem Garten zu sein. Dieses warme und gute Gefühl strömte ihr mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu, mit der sie atmete, sah und hörte. Es war ihr im Lauf der Jahre zum Teil ihres Wesens geworden: zu einer heimlichen Festlichkeit. Sie wurde ihr immer erneut geschenkt, ohne daß sie sich um sie bemühen mußte. Die sie nicht missen mochte, noch aus ihrem Leben fortdenken konnte. Sobald das große Lattentor hinter ihr zuschlug, verfiel sie der fröhlichen Verzauberung. Die steigerte sich noch, wenn sie durch dichtes Gebüsch, welches die Sicht von der Straße her ausschloß, tiefer in den Garten hineinschritt. Und sicherlich war diese Verzauberung darum von besonderer Freude, weil sie nicht in Traumgebilden ihre Nahrung fand, sondern die Wurzeln in die grünende und blühende, von Vögeln durchsungene Wirklichkeit des Gartens senkte. Jetzt brachen wieder einmal an den alten Zentifolienbüschen die Knospen auf. Die Holunder trugen ihre weißen Tellerdolden in reicher Fülle. Und die großen Linden vor dem Wohnhaus waren mit den bernsteingelben Blüten dicht behängt. Der Duft von Linden und Rosen ging wie Segnung durch den Garten. Und das Summen der Bienen, die von allen Bienenständen im Städtchen hierher kamen, um Honig zu sammeln, gab den Grundton zu Vogellied und Gezwitscher: als ob der Sommer seine schönste Melodie leise und unablässig vor sich hinsänge. Heute ging Juliane wieder einmal durch die vertraute Umgebung, die ihr in Bäumen, Büschen und Blumen eine schöne Sicherheit gab: weil alles Werden und Wachsen in diesem Frühsommer des Jahres 1944 wieder das Gleiche war wie schon in den Jahren vor Julianes Lebenszeit. Diese stetige und heitere Gewißheit hatte ihrem Denken und Fühlen von jeher eine große Ruhe gegeben. Denn ein jeder Schritt führte ja schon das Kind in den tiefsten und geheimsten Sinn ihres Daseins, weil es in dem alten Haus und Garten Heimat hatte. Der Heranwachsenden war die Aufgabe ihres Lebens zugeteilt worden, ohne daß sie in schwieriger Wahl sich für die rechte hätte entscheiden müssen. So stand Juliane nun inmitten des Gegebenen wie die Pflanzen ihres Gartens, täglich von neuem bereit, diesen Erdenfleck zu hegen und zu pflegen, damit über ihre eigene Erdenzeit hinaus die gute und sichere Heimat den Späteren erhalten bleibe. Jene, für die sie in solcher Weise zu sorgen hatte, waren die beiden Kinder ihrer Schwester. Der Vater war gefallen, die Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Nur die Fünfjährigen waren übrig geblieben und nun in Julianes Hut gegeben. Und während hier im Garten die Friedlichkeit ungeschmälert herrschte, als sei sie unverletzlich, ja von ewiger Dauer, war der Krieg im Wissen der Menschen. Keine Macht der Erde konnte es auslöschen. Auch die im Städtchen lebten, hatten schon vielerlei Not und Herzeleid durch ihn erfahren: geliebte Menschen waren verloren, andere verstümmelt und zu Krüppeln geworden. Und wenn auch das Städtchen selbst keinerlei äußere Kriegszeichen trug; wenn es sich nach wie vor zwischen Äcker und Wiesen duckte, die der Fluch der Zerstörung noch nicht getroffen hatte, so beherbergten die Häuser doch etliche Flüchtlinge, welche Haus und Hof und Habe eingebüßt hatten. Aber vielleicht gerade deshalb, weil Juliane bereits gleichfalls ein Opfer gebracht hatte, liebte sie die Schönheit des alten Gartens mehr denn früher, als solche Unberührtheit eine selbstverständliche war, an der man sich freute, ohne nur einen Gedanken daran zu verschwenden, es könne anders sein. - Vom Haus her hörte sie jetzt die Kinder lachen. Die Zwillinge spielten anscheinend auf ihrem Sandhaufen unter Aufsicht der Flüchtlingsfrau, einer ruhigen älteren Person. Sie hatte bei Juliane gute Aufnahme gefunden und machte sich in der Wirtschaft, bei der Wartung der Kinder gern nützlich. So war Juliane zu einer kleinen Familie gekommen, nachdem sie seit dem Tod ihrer Eltern etliche Jahre allein in Haus und Garten verbracht hatte. Obwohl sie im Städtchen manchen ihre Fürsorge zuteil werden ließ, auch manchen herzlich befreundet war und niemals nur sich selbst, ihren eigenen Bedürfnissen und Wichtigkeiten gelebt hatte, war sie es zufrieden, sich nun noch mehr austeilen und ihr Scherflein dazu beitragen zu können, die Not der argen Zeit, wenn auch nur im engsten Kreis, ein wenig zu lindern. Ein Weiblein trat aus einem Seitenweg auf sie zu. Es hatte das Kopftuch zum Schutz gegen die Sonne tief in die Stirn gezogen. Unter ihm sahen zwei blanke Mausaugen auf Juliane. Das runde Gesicht, vom Alter ein wenig gefurcht, von der Hitze gerötet, trug einen Ausdruck der Erregung, der nicht recht zu ihm passen wollte.
Pavillon in Zoe Droysens Garten
Denn Juliane setzte sich gern zwischen der Arbeit oder in Feierstunden vor ihm nieder und ließ es tönen, so wie es vor ihr hier schon viele getan hatten. Vor allem jener Musiker. Darum blieb die Tür des Pavillons tagsüber unverschlossen: damit sie jederzeit ungehindert eintreten und hier ein wenig rasten könne im sanften Dämmerlicht, das von der Straße her durch die Spalten der Fensterläden, vom Garten zwischen den Ästen einer mächtigen Kastanie zur Tür hereindrang. Als sie jetzt die Klinke niederdrückte, wehte ihr eine kühle, leicht modrige Luft entgegen. Sie wurde jedoch von dem Duft des Jasminstraußes gemildert, den Juliane heute morgen auf den Tisch gestellt hatte. Lächelnd sah sie sich um. Das Weiblein behauptete, hier habe noch vor kurzem einer - wenn auch kein Lebender - musiziert? Das Spinett war geschlossen, der Raum von alten Erinnerungen erfüllt. Von der Sommerhitze und dem Gang in die Stadt leicht ermüdet, setzte sie sich nieder. Am Fenster summte eine Fliege, eintönig, ohne Unterbrechung. Die Stille, draußen im Garten von dem Treiben der Geschöpfe fröhlich durchpulst, war hier sehr tief. Denn keine Gegenwart, nur die Vergangenheit belebte sie. Juliane schlief ein. Im Traum sah sie den Musiker vor sich am Spinett. Und zur offenen Tür trat eine junge Frau herein. Sie trug ein Notenblatt und trällerte die Melodie. Jetzt beugte sie sich zu dem Mann. Während sie das Blatt vor ihn legte, küßte sie ihn. Er schlang den Arm um sie, zog sie an sich und sprach zu ihr. - Juliane erwachte. Verwirrt strich sie sich über die Augen. Sie hatte geschlafen? Seltsam lebensvoll hatte sie jene beiden vor sich gesehen. Die Frau, deren Namen sie selbst trug, den Mann. Aber vergebens versuchte sie, sich seine Worte ins Gedächtnis zu rufen. Sicherlich waren es solche der Liebe gewesen. Sie wußte ja um das Schicksal der beiden: Erst nach Überwindung vieler Schwierigkeiten hatten sie sich vereinigen können. Dann aber war ihr Glück nur kurz gewesen: der Krieg gegen den Korsen hatte den Musiker von der Seite seiner jungen Frau gerissen. Er war nicht wieder zu ihr zurückgekehrt. Die Frau hatte sich völlig in die Einsamkeit des Gartens versponnen; hatte im Wohnhaus unter den damals noch jungen Linden ihr Kind geboren. Und ihr Leben hatte nur noch dem Gedenken des Geliebten gegolten. Des so sehr Geliebten, daß sie es nicht hatte begreifen können noch wollen: er sei ihr unwiderruflich genommen worden. Sie hatte vielmehr den Wahn genährt, ihn immer wieder im Gartenpavillon auf gleiche Weise zu finden wie in jenem einzigen gemeinsam verlebten Sommer, mochte dieses Wiederfinden auch jenseits des Begreifens der anderen Menschen, außerhalb des nüchternen Alltags liegen. Jene ferne Wirklichkeit, jener einmal hier gehütete Wahn, beide lebensvoll in dem schweigenden Raum bewahrt, wurden Juliane jetzt gleichfalls zu Zeugen der unverrückbaren Stetigkeit des alten Gartens und alles dessen, was von je in ihm gewesen war. Das Herz wurde ihr warm. Und das Gefühl der Geborgenheit durchströmte sie verstärkt. Wie nur der es kennt, welchem sich die Vergangenheit vertraut an die Gegenwart schließt und der gewillt ist, sie an geliebtem Ort in die Zukunft hinüberzutragen. Der Sonnenschein lag mit hellen Flecken auf den Steinstufen vor der Tür. In seine Helligkeit prägten die Kastanienblätter schattend ein schönes Muster. Langsam rückte er um ein Weniges weiter, stahl sich in den Raum hinein. Neben der Schwelle leuchtete ein Blatt Papier auf. Beim Eintritt noch vom Licht geblendet, hatte Juliane es in der grünen Dämmerung nicht beachtet. Nun nahm sie es vom Boden hoch. Verwundert drehte sie es hin und her. Es war mit Noten beschrieben. Wie kam es hierher? Das Weiblein würde sagen: der Musiker habe es liegen lassen als ein Zeichen, daß er sich wieder einmal eingestellt hatte. - Sie trat an das Spinett und versuchte, die Noten zu entziffern. Sie ergaben eine schlichte, doch schöne Weise. Und während die leichtschwirrenden Töne aufklangen, war es ihr, als halte sie jenes Blatt in Händen, welches sie soeben im Traum in den Händen der anderen Juliane gesehen, als ob die Melodie die gleiche sei, die jene getrillert hatte. - Der Pavillon war geheimnisvoll um sie her. Die Vergangenheit wuchs und dehnte sich aus den Winkeln hervor. Bis Juliane in den Garten lief. Nicht in Furcht oder abergläubischem Schauer, sondern heimlich beglückt. Und der Garten duftete ihr tausendfältig entgegen. Nach einer Reihe schöner Sommertage setzte Regen ein. Gleichmäßig strömte er aus grauer Wolkendecke. Die Erde trank ihn durstig. Baum und Kraut hielten sich der Labung hin. Die Blätter, vor kurzem noch bestaubt und matt, wurden blank. Jeglicher Grashalm war reich beperlt und neigte sich unter der Last der Tropfen. Juliane saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, am offenen Fenster. Neben ihr waren die Zwillinge in Betrachtung eines Bilderbuches versunken. Aus der Küche drang zuweilen ein Geräusch gedämpft in das Zimmer. Dort war Frau Susanne, die Geflüchtete, tätig. In die engumgrenzte Behaglichkeit des Hauses drang der Garten hinein. Und Juliane atmete die frische, feuchte Luft in vollen Zügen ein, während ihre Gedanken, wie schon oft in den letzten Tagen, um jenes Notenblatt kreisten, das sie im Pavillon gefunden hatte. Sie konnte sich nicht erklären, wem es gehören mochte? Doch sie hatte ihren Fund verschwiegen, um nicht des Weibleins Glauben an des Längstverstorbenen Erscheinen Nahrung zu geben. Aber wenn auch die Toten keine Nachricht senden, so wollte sie selbst doch gern eine kleine Zärtlichkeit an das Blatt schenken, als ob es mit ihm eine besondere Bewandtnis haben müsse. - Zwar schalt sie sich töricht, doch sie konnte sich der Regung nicht widersetzen. Und nun verlangte es sie danach, die Melodie nochmals auf dem Spinett lebendig werden zu lassen. Darum stand sie auf, nahm Mantel und Kappe und rief Frau Susanne zu, sie möge ein wenig auf die Kinder achten. Sanft rieselte der Regen. Er rann warm über ihr Gesicht. Und sie summte die kleine Melodie zu seinem Plätschern. Die Töne fügten sich ihr mühelos zusammen, sie mußte nach ihnen nicht suchen. Doch dann verstummte sie und blieb lauschend stehen: durch das Regenrinnen klang ein Bachsches Präludium, von sachkundiger Hand auf dem Spinett gespielt und um so deutlicher zu hören, je mehr sie sich dem Pavillon näherte. Es war keine Sinnestäuschung. Auch sah sie schon von weitem, daß die Tür des Pavillons offen stand. Alsbald fand sie vor dem Instrument einen Mann in feldgrauer Uniform. Völlig in sein Tun versunken, schrak er erst hoch, als sie heftig neben ihn trat. Jäh brach er sein Spiel ab. Halb lächelnd, halb verlegen blickte er auf Juliane. "Sie haben Recht, erstaunt, nein zornig über den Eindringling zu sein! Aber -" sein Lächeln vertiefte sich und gab dem ernsten Gesicht eine überraschende Anmut, "verzeihen Sie ihm! Wenn man Woche um Woche im Lazarett liegt, wenn die Gedanken immer wieder an die Front und zu viel Schlimmem zurückgehen, an dem sie sich festsaugen wollen, so ist es herrlich, für eine kurze Frist in die Musik zu entweichen. Noch gar, wenn sich die Möglichkeit in so schöner und friedlicher Umgebung darbietet. Der alte Garten lockte den Vorübergehenden einzutreten. Ich fand den Pavillon, das Spinett und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Denn, obwohl ich von Beruf nicht Musiker, sondern Jurist bin, liebe ich die Musik leidenschaftlich und habe mich stets viel mit ihr beschäftigt." Sein Freimut besänftigte ihren Zorn. Sie lächelte gleichfalls. Liebkosend strich sie über das blanke Gehäuse des Spinetts. "Nun hörte ich im Garten das Spiel, fand Sie hier - - Sie mögen mich auslachen - - einen Augenblick lang wurde ich verwirrt. Als ob die Vergangenheit in der Tat vor mir lebendig geworden wäre! In der Abgeschiedenheit des alten Gartens können einem allerlei törichte Einfälle kommen, die einem andern unbegreiflich erscheinen müssen." Er schüttelte den Kopf. "Ich -" Doch sie fiel ihm ins Wort. "Nein! sagen Sie nichts! Machen Sie keine höflichen Redensarten! Es ist mir wirklich sehr viel lieber, hier unvermutet einen Menschen von Fleisch und Blut zu treffen als den Vorfahren" Sie streckte ihm die Hand hin. "Kommen Sie, so oft Sie wollen, so oft es Ihnen Freude ist, hier zu musizieren." Dankbar sah er sie an. "Ich mache selbstverständlich gern von Ihrer Einladung Gebrauch, Sie sind sehr freundlich zu dem Unbekannten." Sie wendete sich ihm lebhaft zu. Dann wurde sie verwirrt. Gewiß, bis vor wenigen Minuten hatte sie von diesem Menschen noch nichts gewußt. Trotzdem war er ihr vertraut, als seien sie alte Bekannte, mehr noch, Freunde. Wie wunderlich war das - - Er mochte ähnlich empfinden. "Ja", bestätigte er versonnen. "Es geht einem bisweilen seltsam im Leben. Mit einem, den man zum ersten Mal sieht und spricht, spürt man eine Gemeinsamkeit, als habe man ihn schon irgendwo getroffen." Er musterte sie nachdenklich. Und er lächelte erneut sein gutes Lächeln. "Nein", sagte er abschließend, "Sie gleichen in nichts einem mir bekannten Menschen. Und doch ist es schön, Sie nicht als Fremde zu betrachten. Die Musik mag wohl die Brücke zwischen uns schlagen." Erneut legte er die Hände auf die Tasten. "Darf ich?" Sie nickte. Und dann horchte sie hochauf. Denn er begann die kleine Melodie, die sie selbst nur mühsam aus jenem gefundenen Notenblatt entziffert hatte. Hier war also des Rätsels Lösung! Sie griff in die Tasche und zog das Papier hervor. Behutsam legte sie es auf das Spinett. Und ihr Traum kam ihr mit eindringlicher Deutlichkeit ins Gedächtnis. Stand jene erste Juliane neben ihr und führte ihr die Hand? So daß die Bewegung, mit der sie das ein wenig zerknitterte Blatt glättete, zu einer kleinen Liebkosung wurde für den, der die Noten geschrieben hatte? Er unterbrach sein Spiel nicht. Die Melodie wandelte sich nun in mannigfachen Verschlingungen zu neuer Formung, erhob sich zu Glanz und Pracht. Juliane lehnte am Spinett und vergaß im Zuhören, mehr noch im Beobachten des Musizierenden sich selbst. Er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. So daß sie ihn ungehindert betrachten konnte. Im Wohnhaus gab es ein kleines Pastellbild des Liebsten der früheren Juliane. Obwohl dieser Mann hier dem anderen nicht in den Gesichtszügen glich, war doch die Haltung des Kopfes, sein Ausdruck jenem verwandt. Endlich verwob er die Melodie in die kunstvolle Prägung einer Fuge, aus der sie wieder in der ursprünglichen Einfachheit hervortauchte und das Spiel endete. Doch noch klang und schwang sie zärtlich und zart im Raum nach, und die beiden Menschen schwiegen. Ihr Schweigen war gut und vertraut. Ein Buchfink mußte wohl auf einem der tief niederhängenden Kastanienäste sitzen. Denn sein frischer Gesang klang aus nächster Nähe in den Pavillon. Der Regen schlug mit sanftem Geräusch auf die Steinstufen vor der offenen Tür. Er trommelte auf das Dach und klatschte leicht auf die Blätter. Und er hing wie ein Vorhang vor dem Kabinett, schob sich vor jeglichen Alltag mit seinem Geschehen und seinen Geschöpfen. Blick aus dem Garten zur Katholischen Kirche in der Liegnitzer Straße. Im Hintergrund der Glockenturm der Evangelischen Kirche. Er heiße Sebastian und sei seines großen Namensvetters stets in Ehrfurcht eingedenk, obwohl sein eigenes Talent ihm nicht ausreichend genug erschienen sei, um sich völlig der Musik zu widmen. "Aber", fügte er still hinzu, "jenen, die strebend sich bemühen, wird wohl doch Segnung zuteil in den ihnen gegebenen Grenzen. Jedenfalls habe ich immer wieder reinste Beglückung im Musizieren gefunden und es in meiner freien Zeit fleißig geübt. Doch dann kam der Krieg. Ich habe im Osten eine schwere Verwundung erhalten. Sie hat mich monatelang in die Lazarette gezwungen. Nun bin ich seit ein paar Wochen hier in der Stadt. Und ich danke dem gütigen Geschick, das mich nicht nur zu dem Spinett, sondern auch zu Ihnen geführt hat!" Während er sprach, glitten sie beide mehr und mehr in eine Vertrautheit, die in ihnen zwar ein großes Verwundern, aber auch eine große Sicherheit und Ruhe auslöste. Jetzt streckte er Juliane die Hand entgegen. Sie legte die ihre mit einer selbstverständlichen Gebärde hinein. Und er nickte ihr ebenso selbstverständlich zu. Und wieder dachte Juliane an die frühere: als stände sie ihr zur Seite. Oder: als seien sie und jene zu einer geworden. Und wie der anderen Juliane der Krieg dunkel die glücklichen Stunden überschattet haben mochte, so geschah es nun auch ihr. Aber sie ließ sich nicht überwältigen. Denn der Garten war ja mit seinem Frieden um Sebastian und sie. Der Regen rieselte und rann über die Stunde hin, so daß weder der Mann noch das Mädchen nach ihrem Ablauf fragten. Das Dämmerlicht wurde langsam tiefer, der Buchfink verstummte, ohne daß sie es wußten. Denn auch Juliane hatte viel zu erzählen. Von Kindheit, erster Jugend, von den Tagen des Alleinseins, von ihrer kleinen Familie, von ihrem Dasein im alten Haus inmitten des Gartens, den sie so sehr liebte. In den sie nun auch Sebastian aufzunehmen gewillt war. Damit er, so lange er am Ort weilte, eine Heimat habe, die ihn den Krieg vergessen ließe, zumindest ihm ein Ausruhen schenke. Denn sie waren beide nicht mehr jung genug, um nicht zu wissen: Sebastian würde wieder fort, in den Krieg zurückkehren müssen. Aber sie waren stark genug, um solches Wissen auf sich zu nehmen und an ihm ihre Liebe schneller reifen zu lassen als zu anderen Zeiten wohl geschehen wäre. Darum schloß der Mann, als er sich endlich erhob, Juliane sehr behutsam in die Arme. Und sie küßte ihn mit einer behutsamen Zärtlichkeit. Als hüteten sie sich, einer beim anderen eine wunde Stelle zu berühren. Der Regen hatte aufgehört. Der Duft der Blumen, der Erde, des Laubes war nun von betäubender Stärke. Über den Rasenflächen lagen leichte Nebel. Von der Straße her kam kein Laut, kein Lärmen mehr unter die Bäume, die an Menschen und ihr Tun gemahnen konnten. So daß auch der Krieg, der in Sebastian und Julianes Erzählungen immer erneut hervorgetreten war, jetzt völlig in den Hintergrund wich. Sie gingen durch den Garten, als seien sie die ersten Menschen auf einer geruhsamen Erde, die ihres Friedens keinen Anfang und kein Ende kenne, die auch für zwei Liebende von einem Ende nichts wisse. Am Lattentor trennten sie sich; Juliane schaute dem Davongehenden nach. Er wanderte ein wenig mühsam durch die menschenleere Straße, bis er um eine Ecke bog und ihrer Sicht entzogen wurde. Noch einmal trat sie in den Pavillon. Das Spinett stand offen, das Notenblatt lag auf seinem birnbaumenen Holz. Sie barg es in der Tasche, schloß das Instrument. Und sie lachte leise auf: Jetzt hatte die Gegenwart hier gleichfalls ein Recht und einen Platz! Wenn sie sich auch auf wunderliche Weise mit der Vergangenheit mischte. Im Westen unter den Bäumen schimmerte ein schmaler Streifen Abendrot. Er versprach für morgen einen schönen Tag. Der würde ihr Sebastian wieder zuführen! Jetzt aber rief der Alltag Juliane zu sich zurück. Es war an der Zeit, die Zwillinge zu Bett zu bringen. Und es war gut so. Dankbar empfand sie es, von dem gleichmäßigen Ablauf ihrer Pflichten umhegt zu sein und wünschte es sich nicht anders. Jedoch die folgenden Wochen hoben Juliane oftmals in einer Weise aus dem gewohnten Gang ihres Lebens, wie sie es vordem niemals für möglich gehalten hätte. Sie war Ende der Zwanzig und bisher noch keinem Mann begegnet, den sie mit der Liebe hätte lieben können, welche sie zu vergeben hatte. Weil sie an der schönen Weite ihres Gartens - sich selbst kaum bewußt - zu einer derartigen Weite des Gefühls herangereift war, daß sie sich nicht in Kleinem ausgeben konnte noch wollte. Aber niemand hatte bisher solches Maß von ihr gefordert oder die volle Liebesstärke geweckt, deren sie sich fähig wußte. Nun war Sebastian gekommen. Die Tage brachten beiden unverhofftes und unerwartetes Glück. Und nicht nur die Musik, sondern auch der Garten erhöhten es immer von neuem. Denn nachdem Sebastian das Spinett hatte singen und klingen lassen, wanderten sie gern zusammen zwischen den Rabatten und Rasenplätzen. Juliane mußte dem Freund so vieles zeigen, an dem er sich, gleich ihr, herzlich freute und das ihrer Gemeinsamkeit immer noch ein neues Glied hinzufügte. In das Wohnhaus brachte sie ihn niemals. "Du bist mein Feiertag", erklärte sie ihm. "Wie der Garten es mir gewesen ist, solange ich denken kann. Und so sollst du mit mir in ihm und in seinem Pavillon bleiben. Mein Alltag wird mir darum nicht weniger lieb sein, als er es stets gewesen ist. Denn auch er wird ja vom Garten umfriedet. Nun birgt der zwei Kreise: ob sie sich jemals zu einem zusammenschließen werden, steht bei Gott und dem Schicksal. Wir aber wollen jetzt nicht danach fragen, sondern uns an dem freuen, was uns beschieden ist, ohne die beiden Kreise vorzeitig aneinander fügen zu wollen." Er stimmte ihr zu. Das Wohnhaus in Zoe Droysens Garten
Doch wenn sie ihn auch dem Haus und Frau Susanne fernhielt, so machte sie doch aus seiner Gegenwart keinen Hehl. Während nun die Frau in ihrer stillen und scheuen Art sich vom Garten fernhielt, solange Sebastian anwesend war, auch fürsorglich Juliane in diesen Stunden im Haus vertrat, suchte das Weiblein den beiden so oft als möglich zu begegnen. Eilig unterbrach es seine Arbeit, wenn Sebastian und Juliane sich zeigten, um, auf Spaten oder Hacke gestützt, ein Gespräch zu beginnen. Oder es beeilte sich, dem Verwundeten die schönsten Erdbeeren, die saftigsten Kirschen anzubieten. "Nehmen Sie nur und lassen Sie sich's schmecken!" ermunterte sie ihn jedesmal von neuem, "wir geben es Ihnen gern!" Aus den blanken Mausaugen lugte es unter dem Kopftuch zärtlich nach Juliane, anerkennend nach ihrem Freund. Die Zeit verging. Aus sonnengesegneten Tagen, aus sternklaren, warmen Nächten wob sich der Sommer sein Kleid. Er schmückte es mit Gewittern und wechselte das strahlend helle bisweilen mit grauem Regengewand. In seiner Güte blühten die Blumen, rauschten die Bäume, reiften das Korn und die Früchte. An jedem Nachmittag wanderte Juliane in den Pavillon, um dort den Freund zu erwarten. Auf diesen Gängen durch den Garten strömte ihr viel heimliche Fröhlichkeit zu und einte sich mit der eigenen. So daß alles von ihr abfiel, was sie im Lauf des Tages bewegt, ihre Gedanken und ihr Tun beansprucht hatte. Wenn sie dann den kleinen Raum betrat, war sie eine andere als die, welche bis vor kurzem im Wohnhaus unter den alten Linden ihren Pflichten nachgegangen war. Und die Zeit des Wartens wurde ihr nicht lang. Denn der Pavillon barg ja nun eine lebensfrohe Gegenwart, die einzig und allein ihr und dem liebsten Menschen gehörte und die von keinem anderen geteilt wurde. Während doch die Erinnerung an jenen anderen und seine Juliane jedem zufiel, der nach ihr griff. Aber in diese glückliche Gegenwart drängte sich mehr und mehr die Zukunft. Die beiden verschlossen sich der drohenden Gefahr nicht: wäre es nicht unbedingt notwendig, den Frieden zu suchen und bessere Wege zu beschreiten, als die bisherigen es gewesen waren? Sebastians Genesung machte langsame, doch stetige Fortschritte. Hatte Juliane zunächst insgeheim darunter gelitten, daß der große und kräftige Mann sich nur mühsam fortbewegen konnte, daß die Schmerzen oft sein Gesicht zeichneten, obwohl er es nicht wahrhaben wollte - so durfte sie sich jetzt daran freuen, daß sein Gang weniger beschwert wurde, seine Gesichtszüge sich mehr und mehr entspannten. Aber diese Freude war für sie wiederum ein Schmerz - - weil mit des Freundes Gesundung der Abschied näher rückte. Und so Freude und Schmerz im Verein fühlend, lebte sie neben Sebastian und verschenkte sich an ihn mit der vollen Innigkeit ihres Wesens. Als sei dieses Verschenken einmalig und werde ihr, wie jener anderen Juliane, kein zweites in besseren Tagen gegönnt sein. Niemals, wie doch Liebende es gern tun, malten sie sich eine gemeinsame Zukunft aus. Je mehr der Abschied sich näherte, um so öfter sprach Sebastian von Julianes Dasein hier inmitten des Gartens. Um so eifriger wies sie ihm jeden Fortschritt im Blühen, Wachsen und Reifen. Damit die Erinnerung daran ihn in den Krieg begleiten könne und er, umgeben von Verwüstung, einen Ort wisse, an dem sich das Leben auch jetzt noch ungehemmt entfalten und zu mannigfacher Vollendung ausreifen könne. Weil ihnen die äußere Gemeinsamkeit fernerhin nicht zustand, versuchten sie nun auf diese Art sich einen Ersatz zu verschaffen. Den pflanzten sie in Julianes Garten, damit er dort wurzeln und gedeihen möge. Gleichwie ein Gärtner eine kostbare Pflanze in den besten Boden setzt, den er ihr bieten kann. Der Sommer schritt weiter, immer weiter voran. Er trat aus den Wochen des hellen und seligen Blühens in die traumhafte Hingabe an das Reifen. Die schlimmen Kriegsgeschehnisse, von denen immer erneut Kunde in das Städtchen kam, konnten ihm nach wie vor nichts anhaben. Denn wie in jedem Jahr entfaltete er sich zu königlicher Herrlichkeit. In seinem Reifen offenbarte sich immer deutlicher der, den die Menschen Gott nennen. Dem wohl alle Geschöpfe gleich viel gelten. So daß auch noch das Schicksal des unscheinbarsten unter den Tieren und Pflanzen vor ihm nicht hinter dem der Menschen zurücksteht, weil er jegliches Erdensein auf gleicher Waage wägt. Sebastian und Juliane waren die Wochen ihrer Gemeinsamkeit inmitten dieser sommerlichen Pracht beschert worden, deren Vollendung nun ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, als sei sie das allein Gültige und neben ihr selbst die furchtbarste und sinnloseste Zerstörung nur als ein Vorübergehendes zu werten. Auch hatten ja die beiden aus der Schönheit des alten Gartens immer wieder Bejahung und Steigerung ihrer Liebe erfahren. Darum wurde auch jetzt ihrer Furcht vor der nahenden Trennung durch ihn Hilfe gegeben: In diesen Tagen der heimlichen Bangnis fanden sie sich aus der Hinneigung in das Du in den großen Kreis der liebenden Geschöpfe, und sie fügten sich ihm willig ein. Eines Nachmittags zu Anfang August hatte Juliane vergeblich im Pavillon auf den Freund gewartet. Er mochte, wie schon manchesmal, auch heute durch irgendein Unvorhergesehenes im Lazarett festgehalten worden sein. In der Annahme, er käme nun nicht mehr, hatte sie endlich das Gartenhaus verlassen und sich daran gemacht, die ersten Brombeeren zu pflücken, um den Kindern mit den Früchten eine fröhliche Überraschung zu bereiten. Beere auf Beere legte sich blank und rund in ihre Finger, Verkörperung schön gereiften Lebens. Und sie schob eine zwischen die Lippen, um Duft und Süße auch zu schmecken - mehr noch - um sie in sich aufzunehmen, so wie der Fromme das Brot nimmt und den Wein. "Juliane -" Sebastian stand neben ihr. Mit einem fröhlichen Ruf wendete sie sich zu ihm hin. Aber sein Gesicht spiegelte ihre Freude nicht wider. Es blieb ernst, obwohl eine große Zärtlichkeit sich auf ihm zeigte. "Sebastian? Was ist?" Julianes Herz tat einen schnellen Schlag. Dann wußte sie, noch ehe er antworten konnte: jetzt kam der Abschied! "Juliane, morgen früh muß ich fort. - Die Entscheidung kam unerwartet schnell" Sie konnte ihm nichts erwidern. Ein ungeheurer Schmerz sprang in ihr hoch, drohte sie zu zerreißen, ihr die Besinnung zu nehmen. Einen Augenblick lang war sie ihm hilflos preisgegeben. Dann aber schob sich der Garten zwischen sie und ihr Erschrecken: er würde ihr bleiben, würde sie auch weiterhin täglich mit seiner Güte beschenken. Fast feindlich wendete sie sich von Sebastian fort und dieser Gewißheit entgegen, um sich in ihr zu verbergen vor dem Harten und Unerbittlichen, das der Mann ihr brachte, das sie zu verzehren drohte. Neben ihr stand der Freund und sah stumm auf sie nieder. Und das gute Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht; sie liebte es sehr, obwohl es jetzt seinen Ernst nicht auslöschen konnte. Dieses Doppelspiel seiner Mienen ließ sein Antlitz zu einem anderen werden als es Juliane vertraut geworden war. Mochte sie glauben, sie kenne das geliebte Gesicht in jeder Linie, die Güte - für sie soeben allein im Garten verkörpert -, der sie sich so leidenschaftlich entgegengeworfen hatte, trat ihr nun in Sebastian, zu ungeheurem Maß erhöht, gleichfalls vor Augen, wie sie sie noch nie zuvor an ihm erkannt hatte. So daß sie nun auch bei ihm Beistand fand. Obwohl er ihr mit seiner schlimmen Nachricht hatte Schmerz bereiten müssen, wurde sie nun durch zwiefache Hilfe aus ihrer Bedrängnis erlöst. Schweigend griff sie in das Brombeergebüsch und pflückte einige Früchte und bot sie auf der flachen Hand Sebastian an. Sehr liebend hob sie ihm die Gabe entgegen. Er beugte sich, um sie zu empfangen. Dann ergriff er die geleerte Hand und senkte die Stirn hinein. Sie ließ ihn gewähren. Stumm standen die beiden Menschen beieinander. Weil ein jedes Wort zu laut und zu nichtig war in dieser Stunde, die ihnen den Abschied brachte und sie doch über ihn hinaustrug. Sebastian konnte sich nicht lange verweilen. Er hatte nur soviel Urlaub erbitten können, daß er Juliane die Nachricht des Ausmarsches in den frühesten Morgenstunden des kommenden Tages zu bringen vermochte. Sie begleitete ihn durch den Garten. Und es war ihnen beiden recht, sich nicht noch einmal im Pavillon gegenüber zu stehen. Vielleicht würde dort ihr erhöhtes Fühlen sie verlassen haben und der Zagheit gewichen sein? Während ihnen jetzt inmitten des Gartens die Zuversicht erstand: daß auch durch das härteste Schicksal eine Liebe nicht vernichtet werden könne. Weil sie nach ewigen Gesetzen dazu bestimmt sei, in das unzerstörbare All zu münden, in dem jedes Sein und Lieben beschlossen ist. In der Nacht nach diesem Abschied konnte Juliane keinen Schlaf finden. Sie erhob sich und ging hinaus in den Garten. Wie jene andere Juliane in ihrer Verlassenheit, wanderte nun auch sie nach dem Pavillon. Die offene Tür von der Wohnstube in den Garten
Der Mond stand groß und blank am Himmel. Sein Licht sickerte durch das Laub, legte sich auf die Rasenfläche und Wege. Die Schatten der Bäume zeichneten sich mit scharfen Umrissen und vertieftem Dunkel in das Schimmern. Das Mondlicht sank in die Kelche der Blumen, es umhüllte die jungen Früchte. In seiner Behütung waren die Geschöpfe geheimnisvoll regsam: unter den Büschen raschelten die Igel, die Fledermäuse flatterten lautlos. Vom Blumenduft angelockt, gaukelten Nachtfalter über den Rabatten. Doch das tagsüber so bunte Geblühe war nun farblos, Laub und Gras hatten ihr sattes Grün verloren. Das Mondlicht sog alle Farben auf. Sie galten nichts mehr. Der Pavillon war gleichfalls von weißem Glanz überblendet. Wieder, wie tagsüber im Sonnenschein, malten auch jetzt die Äste und Blätter der Kastanie auf die helle Wand, auf die Stufen ein schönes Muster. Aus den Glasscheiben der Tür blinkerte das Licht Juliane entgegen, lockte näherzukommen und einzutreten. Fast traumwandlerisch folgte sie der Lockung. Mit ihr brach das weiße Glänzen in den Pavillon und legte sich auch hier gleich einem Teppich über den Boden. Aber die kühle Moderluft wehrte jede Zärtlichkeit und belud Juliane mit Beklemmung. War nicht aufs neue die Vergangenheit hier gegenwärtig? Denn der Raum würde ja nun keine Erwartung mehr beherbergen, wie noch gestern, nein: noch heute! Nie mehr würde er, durchtönt von Musik, Sebastian und Julianes Zusammensein ein Obdach bieten. Jetzt wußte er wiederum nur von Gewesenem, unerbittlich Vergangenem, war doppelt mit ihm beladen: weil jene längst erloschene Liebe, durch diese zweite Liebe noch einmal in die Gegenwart gehoben, nun vollends zurücksank in Sage und Wahn. Nahm sie nicht auch Julianes Glück mit sich? Würde sie es nicht immer mehr in ihre verblassende Form und Farbe einschmelzen? Hing nicht schon jetzt die Erinnerung an die erst kürzlich verflossenen guten Stunden fremd zwischen den Möbeln und wollte sich von Juliane nicht mehr greifen lassen? Das Mondlicht versiegelte das Spinett, verurteilte es fortan zum Schweigen. Es glitt abwehrend über die Bank, als wolle es Juliane das Niedersitzen verwehren. Und der Pavillon verschloß sich vor ihr, kühl wies er sie von sich. Das mondlichtsatte Dämmern stieg an ihr hoch, eine geheimnisvolle Flut, die sie in jenes seltsame Wahnleben hineinspülen wollte, mit dem die andere Juliane ihre Tage gefüllt und sich der Wirklichkeit entfremdet hatte. Juliane fühlte es deutlich: nur durch ihre völlige Hingabe an solche Traumwelt konnte die Feindlichkeit gebannt werden, die hier in den Winkeln lauerte. Und das Mondlicht, gleichfalls feindlich und drohend, quoll unaufhaltsam zur Tür herein, versperrte den Ausgang. Durch die alte Kastanie rauschte der Nachtwind. Er trug die Gerüche der Nelken, Levkojen und späten Rosen zur Tür herein; sie kämpften sehr zart, doch siegreich gegen den Modergeruch an. Und das leise Blätterrauschen zerbrach die gespenstische Stille. Bann und Lähmung fielen von Juliane ab. Gleich einer Ertrinkenden rang sie sich durch die Lichtflut, verschloß hastig die Tür, sprang gehetzt die Stufen hinab - Der Mond stand groß und leuchtend über den Bäumen. Unter seiner Gewalt hatte der Garten seine Irdischkeit abgestreift, hatte sich - trotz des wachen Treibens der Nachttiere - in himmlische Gefilde verwandelt. Juliane atmete dankbar auf, daß sie aus diesem Gefilde nicht verstoßen, sondern ihr hier ebenso Heimat geboten wurde wie tagsüber. Heftig warf sie den Schlüssel in den Bach zu Seiten des Gartens. Das silbern rinnende Wasser nahm ihn mit leichtem "Klack" auf und dehnte sich über dem Versinkenden in breiten Kreisen. Nein! Niemals wieder wollte sie den Pavillon betreten. Hier im Garten würde sie den Freund jederzeit finden: nicht gebannt in immer mehr erstarrende Vergangenheit, sondern geborgen in der lebendigen Gegenwart von Blumen, Blättern, Früchten und Samen, ebenso in der munteren Daseinsfreude der Tiere. Während der Mond hoch und fern im Äther seine Bahn zog, erwachte endlich, nach Stunden dumpfer Schwermut, in Juliane eine kleine Hoffnung: daß - vielleicht - Sebastian noch eines Tages zu einer neuen nahen Gemeinsamkeit zu ihr zurückkehren werde in endlich friedevollen Zeiten - War der Herbst jemals gleich prangend gewesen wie in diesem Jahr? In den Rabatten wollte das Blühen kein Ende nehmen. Die Bäume trugen die Fülle des Obstes. Das Weiblein hatte alle Hände voll zu tun, um den Segen zu bergen. Juliane half ihm eifrig. Jetzt stand sie auf der obersten Sprosse der Leiter inmitten der Krone eines alten Apfelbaumes und pflückte die Früchte. Mutter Tilgner nahm den gefüllten Korb in Empfang und reichte den vordem geleerten hinauf, um alsdann die Früchte nach Größe und Güte zu ordnen: damit die auserlesenen Stücke zur Aufbewahrung in den Keller, die minderen zur Verwendung in die Küche gelangten. Bei ihrer Tätigkeit unterhielt sie Juliane lebhaft von den Ereignissen in der Nachbarschaft. Nachdenklich blickte Juliane während des Geschwätzes auf einen neben ihr hängenden Apfel. Er war vollendet schön: die Form untadelig, die Farben zart und doch leuchtend. Sie brach ihn vom Zweig und freute sich an dem köstlichen Duft. Wie wird es im nächsten Herbst sein? ging es ihr durch den Sinn. Wird der Garten noch in seiner umfriedeten Sicherheit bestehen? Werde ich mich noch an ihm freuen dürfen? Oder - - - sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Hastig machte sie sich erneut an die Arbeit. Doch es war für sie ein Schleier über den Glanz des Gartens, des Herbsttages gefallen. Sah das Weiblein ihn gleichfalls? Klein und krummgezogen, das Kopftuch weit in den Nacken geschoben, stand es im Garten. Hinter ihm hoben Goldbälle, Phlox und Dahlien die hohen Stauden. Sie überragten die winzige Mutter, die emsig an den Apfelkiepen arbeitete. Im Anschauen des freundlichen Bildes erhellte sich Julianes Blick, wich der verdüsternde Schleier von der Farbenpracht um sie her. Blaute nicht der Himmel gleich leuchtendem Emaille zwischen dem Grün der Wipfel? Glänzte der Sonnenschein nicht über dem Garten? Das heimlich oder offen Bedrohte wird ja stets zum innigst Geliebten - Juliane hatte gemeint, in ihrer Neigung zu Sebastian sich völlig verschwendet zu haben. Nun erfuhr sie: daß Liebe, mag sie einem Menschen gelten oder sich an anderes geben, immer noch wachsen und sich bis in zuvor undenkliche Größe dehnen kann, wenn sie aus der innersten Wahrhaftigkeit aufbricht, in die nur Gott Einsicht hat. Die Tage reihten sich aneinander wie Perlen an einer Schnur. Die Blätter gilbten. Die Frauen waren ohne Unterlaß fleißig, nicht nur die Obst- sondern auch die Gemüseernte zu bergen, den Wintervorrat mit den Schätzen des Gartens zu mehren und zu sichern. Denn der Sehnsucht der Menschen nach Beendigung des Krieges war weniger denn je Erfüllung beschieden. Es hieß darum: Mit allen Kräften für die kommenden Wochen und Monate vorzusorgen. Und Juliane begann, sich heimlich zu rüsten: damit sie bereit sei zu dem, was von ihr gefordert werden würde, wenn eines Tages aus der Bedrohung die Gefahr sich steil vor ihr auftürmen werde. - Doch sie flehte, daß ihr das Letzte und Schwerste, die Aufgabe der Heimat, erspart werden möge. Nach Sebastians Abschied hatte er häufig an Juliane geschrieben. Hatte mit guten Worten ihrer glücklichen Zeit gedacht und ihre Gemeinsamkeit warm und herzlich bezeugt. Sie hatte ihm in gleicher Weise geantwortet. Dann aber hatten seine Nachrichten aufgehört. Und endlich erhielt sie ihren letzten Brief zurück mit dem Vermerk: die Mitteilung der neuen Anschrift sei abzuwarten. Sie wußte, was das bedeutete, hatte es unzählige Male bei Freunden im Städtchen miterlebt; niemals war eine solche Mitteilung eingetroffen. Über dem, um dessentwillen sie ersehnt wurde, war das große Schweigen zusammengeschlagen. - In der Hoffnung, heute vielleicht durch eine kurze Nachricht Sebastians aus ihrer Angst befreit zu werden, war sie dem Postboten durch den Garten entgegengegangen. Er hatte ihr die schlimme Botschaft, mitleidig zwischen anderen Briefschaften verborgen, gereicht und sich alsdann schnell entfernt. So war sie ohne Zeugen, als ihr der Atem eng wurde und der Herzschlag für eines Augenblicks Länge stockte. Links Zoes Droysens Vater Hans, ihre Schwester Emma, ihr Mann Otto Droysen, rechts Zoe Droysen. 1913 in den Parkanlagen ihres Grundstücks
Um sie her brauste der Herbststurm. Auch die Kronen der ältesten und stärksten Bäume wurde von ihm unbarmherzig gerüttelt und geschüttelt. Ein schier nicht endendes Geriesel gelber Blätter wirbelte durch die Luft, bis es endlich zur Erde sank. Aber die Bäume setzten sich gegen den Sturm zur Wehr, waren nicht gewillt, sich das Laub nehmen zu lassen! Doch obwohl ein großer Trotz über ihnen lag, mußten sie die Beraubung erleiden. Sie ließen sich dennoch nicht zerbrechen, wenn auch hier und dort ein Ast krachend und polternd niederstürzte. Und das Rauschen, das Brausen steigerte sich zum Getöse eines gewaltigen Kampfes. Der Himmel war grau verhangen. Er gab dem Tag etwas Düsteres, Trostloses, wußte von keiner Hoffnung. Das gelbe Laub flammte unter seiner Farblosigkeit, als trage es eigene Leuchtkraft. Obgleich der Tod es gezeichnet hatte, pries es das Leben. War das nicht monatelang herrlich gewesen? Noch war die Erinnerung daran nicht vergangen, mochte nun auch der Sturm laut und herrisch die gilbenden Zeugen solcher Herrlichkeit zerstreuen. Auch in Juliane erwachte der Trotz. Und sie schrie ihn laut in den Aufruhr der Natur hinaus. Wenngleich der Schmerz sie schüttelte, setzte sie sich zur Wehr gegen das ihr bestimmte Schicksal. Sebastian konnte nicht, durfte nicht in die tausendfältige Schar derer eingereiht worden sein, von denen jene, die sie liebten, niemals wieder etwas erfahren würden. - War er nicht der beste und leuchtendste Teil ihres eigenen Wesens geworden? Nun wurde sie unsäglich beraubt. Aber ihre gesunde Kraft und Jugend wollte nicht derart arm, nicht derart zum Leiden gezwungen werden. Jedoch auch ihre Auflehnung war vergeblich. Und. vielleicht wäre sie der Mutlosigkeit erlegen, wenn nicht um sie her der Aufruhr der Natur gewesen wäre. In den schrie sie jetzt nochmals ihren Jammer um den Freund, ihren Haß gegen die Vernichtung. Der Sturm nahm den Schrei an, zerriß ihn, wirbelte die Fetzen mit den Blättern durch die Luft. Die Blätter würden sich verwandeln - Neue Kraft würde aus ihnen entstehen, neues fruchtbares Erdreich, in dem unzählige Samen wurzelschlagen, aus dem unzählige Pflanzen keimen und wachsen konnten. Niemals würde ein Ende sein. Juliane straffte sich. Nein! Kein Ende. Sie würde es nicht ertragen. Es anzunehmen, schien ihr Verrat an dem Mann, den sie liebte. Doch sie konnte auch nicht, wie die andere Juliane, die Wahrheit in Wahn umbiegen und verkleinern. Hatte sie dies nicht bereits in der Nacht nach Sebastians Abschied deutlich erfahren? Darum war es ihr auch jetzt nicht gegeben, nur ein Gramm von dem schweren Gewicht der Wirklichkeit abzubrechen. Aber sie konnte ein anderes: die Wirklichkeit an ihr Herz nehmen und an ihm erwärmen. Wenn es auch maßlos schwer sein würde, sie immer erneut, täglich, stündlich, zu tragen, ohne sich von ihr zerbrechen zu lassen, sondern sie von der eigenen Schwäche und Trostlosigkeit reinzuglühen. Und vielleicht - in Julianes gestraffte Haltung kam eine große Demut - würde auch ihr einmal aus der Verneinung Bejahung werden - wie den vom Sturm jetzt so mißhandelten Blättern. Denn biegt sich nicht jenen, die eines guten Willens sind, das Ende immer wieder in den Anfang - Einige Tage herrschte der Sturm. Dann setzte Landregen ein. Er wußte nichts von dem freundlichen Geschenk des Sommerregens an Pflanzen und Tiere. Der Garten verschwand hinter den stürzenden Güssen. Der Nebel drückte grauweiß auf die Rasenflächen, die Bäume. Die mußten ihre letzten Blätter hergeben. Bald hoben sie sich völlig kahl, reglos, in die freudlosen Stunden. Die Erde und ihre Geschöpfe hatten sich beschieden und mit dem Herbst abgefunden. Immer mehr nahm der Garten sich in sich selbst zurück, trug kein Zeichen, daß er einst durch Monate hin sehr reich gewesen war. Nur noch das schrille Scheppern der Amseln, das Zwitschern der Meisen und der Spatzen war zu hören. Sobald jetzt des Abends die Käuze durch den Garten riefen, zuckte Juliane schreckhaft hoch. Obwohl sie sich darum schalt, auch den Vogelruf sommers über gern vernommen hatte, war er ihr nun unheimlich. Wenn sie bei dem immer früher entzündeten Licht mit Frau Susanne beisammen saß, wollte ihr manchmal ihre Bedrängnis auf die Zunge kommen und in Worten laut werden. Denn das erste Sichaufbäumen gegen ihr Geschick war von ihr abgefallen wie das Laub von den Bäumen. Der Kummer um Sebastian, die Angst vor der Zukunft lastete schwer auf ihr. Doch immer wieder schwieg sie vor der Gefährtin. Die belästigte sie nicht mit gutgemeinten Worten, nachdem sie die böse Nachricht über Sebastian erfahren hatte. Sie hatte ja selbst Schweres hinter sich und zeigte darum Verständnis dafür, daß die andere stumm blieb. Vielleicht wußte Frau Susanne auch, daß für Juliane die Regenverhangenheit, das Verstummen das Gartens eine Wohltat war. Daß sie nur schwer einen strahlenden Himmel, hellen Sonnenschein und das frühherbstliche Prangen hätte ertragen können: weil Sebastian nicht mehr - nie mehr - daran teilhaben würde. Doch Juliane war es nicht gegönnt, sich lange mit dem eigenen Kummer zu beschäftigen. Im Städtchen fand sie sorgenvolle Gesichter. Obwohl die Gerüchte sich nicht laut hervorwagten, ließen sie sich doch je länger je weniger unterdrücken und völlig verheimlichen. Während der Regen unablässig auf die Dächer, auf das Kopfsteinpflaster trommelte und den Menschen in den Gassen kalt und unfreundlich in die Gesichter schlug; während die Tage sich immer mühsamer aus der Morgendämmerung hoben, immer eher in das Abenddunkel versanken, schlich das Grauen durch das Städtchen. Julianes eigenes Frauenleid ging darin unter. Kam sie nun von ihren Gängen aus der Stadt zurück, so tauchte sie jedesmal - wenn auch nicht mit der früheren heiteren Unbefangenheit - tief in die Abgeschlossenheit, die, durch das trübe Wetter noch verstärkt, sich beruhigend zwischen sie und die Außenwelt legte. In diesen Wochen erkrankten die Kinder. Die Grippe herrschte im Städtchen. Und auch Frau Susanne mußte sich legen, obwohl sie zunächst hartnäckig gegen ihr Unwohlsein ankämpfte. So fielen Wirtschaft und Pflege allein auf Juliane. Sie empfand die Beanspruchung wohltätig, war froh, in ihrem kleinen Kreis nun mehr als zuvor notwendig zu sein. Uneingestanden war sie auch eines anderen froh: daß nun das Weiblein die Gänge in die Stadt übernehmen mußte und sie selbst sich mit gutem Grund von den Klagen und Sorgen der Freunde fernhalten konnte, ohne daß sie sich der Feigheit oder Unfreundlichkeit zeihen und von den Menschen schelten lassen mußte. Denn wenn sie auch herzlich mit ihnen fühlte, wenn sie auch ihre Sorgen aufrichtig teilte - sie war es müde, immer erneut von dem zu sprechen, was doch durch Worte nicht zu ändern war, in denen sich nur die Hilflosigkeit und die Ohnmacht äußerten, dem drohenden Verhängnis tatkräftig entgegenzutreten. Darum schloß sie sich in den Frieden des alten Hauses ein, vor dem der Garten als schützender Wall sich breitete. Die Grippe hatte die Kranken heftig gepackt, Juliane mußte auch des nachts mehrmals nach Frau Susanne sehen: Und sie verbrachte manche Stunde wachend neben den Betten der Zwillinge, weil die Kinder sich im Fieber unruhig hin und her warfen und nach ihr verlangten. In den Pausen zwischen der Pflege kamen oft und ungerufen die Erinnerungen an ihr eigenes Leben zu der Wachenden. Bunt und freundlich rollten sich die Bilder vor ihr auf. Sie ließ sie an sich vorübergleiten, hob dieses und jenes aus der Menge heraus und verweilte sich in der Betrachtung, um sich an ihm zu freuen. Bis ein anderes es beiseite schob. Auch die Menschen, die ihr hier lieb gewesen waren, kamen zu ihr. Sie stiegen gleichsam aus den alten Bildern an den Wänden nieder, um sich für ein Kleines zu ihr zu gesellen. Und sie wiederholten manches gute Wort, das einstmals dem Kind, dem heranwachsenden Mädchen gegolten hatte. Es war ein stilles Kommen und Gehen. Doch diese Vergangenheit wollte Juliane nicht gebieterisch in ihren Kreis bannen, sie nicht eifersüchtig der Gegenwart und ihren Forderungen entfremden. Die Erinnerungen und ihre Menschen stellten sich vielmehr zärtlich vor sie hin, als wollten sie sie stützen und ihre Kräfte stärken. Bis sie mit dem gütigen Versprechen entwichen, sich wiederum einzufinden, wenn Juliane nach ihnen verlangen wollte. Daß ihr alles nah und vertraut wurde, was einst für sie hier gewesen war, daß das alte Haus sich bis in seine tiefsten Winkel vor ihr öffnete und sie hineinschauen ließ, hatte seinen heimlichen Grund darin: sie konnte sich in den stillen Nachtstunden, in denen sie ungestört ihren Gedanken nachhängen durfte, nicht verhehlen, daß der Abschied von Haus und Garten wohl nicht mehr zu vermeiden sein würde. Wenn ihr dies wieder einmal mit erschreckender Deutlichkeit klar geworden war, wenn jede Hoffnung, sie möge sich täuschen, zu schwarz sehen, sich als irrig erwiesen hatte - beugte sie sich mit doppelter Hingabe zu den Kindern, rückte Frau Susanne mit betonter Sorgfalt die Kissen zurecht oder reichte den Kranken die Medizin. Und ihre Kraft wuchs über die drei Menschen hin, als trüge sie einen weiten Mantel, unter dem sie alle drei bergen müßte, sobald es an der Zeit sein sollte. Bisweilen trat sie während der Nachtwache für einen Augenblick vor die Haustür, um sich von der kühlen Luft die Müdigkeit vertreiben zu lassen. Dann stieg aus dem modernden Laub, aus der feuchten Erde herb und kräftig der gleiche Duft, der noch in jedem Herbst über dem Garten geschwebt und zum nächtigen Himmel geschwelt hatte. Und Juliane stand, von ihm umgeben, zwischen den Ewigkeiten des Himmels und der Erde. Die Kranken genasen. Und eines Morgens fiel der erste Schnee. Bald verstärkte sich das Flockengeriesel. Die Rasen wurden weiß überdeckt; der Schnee legte sich auf Äste und Zweige, hing bauschig in den Gebüschen. Er setzte den Zaunlatten Kappen auf und zeichnete die Linien der Fensterumrahmungen nach. Er häufte sich auf den Dächern. Der Pavillon stand zierlich inmitten der weißen Vermummung. Das Spinett war, wie stets, im Herbst beizeiten in das Wohnhaus gebracht worden. Diesmal hatte Frau Susanne für den Umzug gesorgt, nachdem Juliane ihr gestanden hatte, daß sie den Schlüssel zum Pavillon in den Bach geworfen habe und es notwendig sei, beim Schlosser einen neuen zu bestellen. Jetzt entsann sie sich: jenes Notenblatt war dort liegen geblieben, das einstmals ihr so viel Kopfzerbrechen gemacht hatte, bis Sebastian das Rätsel löste. Weil nun das Schneelicht trotz des trüben Tages allem einen freundlichen Schimmer verlieh, machte sie sich auf, um das Vermißte zu holen. Denn sie schämte sich ein wenig, den Pavillon in der Nacht nach Sebastians Abschied so überstürzt verlassen zu haben, und verlangte danach, die eilige Flucht vor sich selbst durch einen erneuten Besuch wieder auszugleichen. Noch war in die Schneedecke der Wege keine Fußspur eingedrückt. Der Winter, eben erst aus dem Äther niedergesunken, war noch ganz sich selbst zu eigen, ohne von den Menschen berührt worden zu sein. Und es dünkte Juliane sehr schön, durch die zarte Pracht zu gehen. Die hüllte auch sie in ihr Flockengeriesel ein, legte sich mit vielzackigen Sternen auf ihren Mantel, ihr Haar, als sei sie Gefährtin der Bäume und Büsche. Die Sandsteinvase vor dem Pavillon war bereits halb mit Schnee gefüllt. Sommers über hatten Fuchsien ihre Blumengehänge über den Rand gebreitet. Juliane hatte im Vorübergehen oft eine der Blüten gebrochen und sie Sebastian in das Knopfloch des feldgrauen Rockes gesteckt. Jetzt griff sie in den Schnee. Er schmiegte sich kühl und weich in ihre Hand, begann unter der Wärme ihrer Haut zu schmelzen. Als sie den Pavillon betrat, rann er zwischen ihren Fingern hindurch in klaren Tropfen zur Erde. Die Dämmerung war heute hier drinnen stärker denn je. Denn der Schnee verklebte die Spalten der Fensterläden und beraubte den kleinen Raum des Lichtes, das die Läden bisher gefällig hatten eindringen lassen. Nur durch die Glasscheiben der Tür drang der winterliche Tagesschein. Doch er genügte Juliane, um sich zurechtzufinden. Wieder drängte sich der Eintretenden der Modergeruch entgegen. Aber die reine und starke Schneeluft, die gleichfalls durch die geöffnete Tür ihren Weg fand, milderte ihn. Sie verscheuchte die Beklemmungen, welche Juliane bei ihrem letzten Besuch so sehr geängstigt hatten. Auch war der Raum durch das Fehlen des Spinetts verändert, er schien erweitert, und - von der sanften Helle des draußen niederflockenden Schnees angerührt, trug sein Dämmern eine stille Festlichkeit. Neben ihr hatten heute keine schmerzhaften oder fernen Erinnerungen einen Platz. Hatte hier nicht stets Festlichkeit geherrscht, sobald Sebastian und Juliane beisammen waren? Lugte sie jetzt nicht aus dem Notenblatt auf dem Tisch hervor, schaukelte an den Spinnweben von der Decke nieder, erblühte aus jeder Blume des Cretonnebezuges der Bank? So daß Juliane alsbald wie in einer Laube saß, die sich aus den vielerlei Freundlichkeiten und Fröhlichkeiten, mit Sebastian hier erlebt, um sie hochrankte. Und es würde sie nicht gewundert haben, wenn der Buchfink, der in ihre erste Begegnung mit dem liebsten Mann hineingesungen hatte, wiederum sein Lied begonnen hätte. Und Sebastian kam zu ihr. Nicht mehr der feldgraue Verwundete, sondern der Unverlierbare, ihr stetig Zugehörende, irdischer Form, irdischer Vernichtung nicht länger verpflichtet. Dessen Wesens tiefsten Sinn sie nun erst vollends erkannte und begriff. So daß ihr, ohne daß sie dem Wahn der anderen Juliane verfiel, den Geliebten körperlich neben sich zu haben, aus der Verneinung, dem Verlust, nun höchste Bejahung: unveräußerlicher seelischer Besitz erstand. Den auch die härteste Wirklichkeit nicht zu vermindern vermochte. Vor der Tür wirbelten die Flocken. Sie schlossen den Pavillon völlig ab. Selbst der Garten, der noch so lange Julianes Gedenken an den Freund gehütet hatte, war verschwunden. Aber sie bedurfte seiner nicht mehr, um sich Sebastian zu vergegenwärtigen. Sie bedurfte auch des Pavillons nicht mehr. Er hatte an ihr getan, was ihm zu tun obgelegen hatte: ihr Glück behütet, sie auf die Probe gestellt, ob sie schwächlich sich aus dem Schmerz in eine lockende Scheinwelt ziehen lassen würde. Nun war er nur noch Schale, aus der sie jetzt behutsam jede gute und frohe Stunde mit dem Freund in die Hände nahm, um sie mit sich zu tragen, wohin auch immer es sein möge. Auch wurde ihr Staunen, dies alles sei einmal Wahrhaftigkeit gewesen, so groß, daß es das Gewesene der Bannung in die Vergangenheit entriß und zu stetiger Gegenwart verwandelte. Die würde währen, solange Juliane selbst atmete. Vom Kirchturm klang bisweilen der Uhrenschlag herüber. Sie hörte ihn nicht. Sie häufte und ordnete den ihr zuströmenden Reichtum - wie lange hatte sie es vermieden, ihn vor sich auszubreiten - ! Bis jedes Wort, jeder Händedruck, jedes Lächeln und jedes Lachen Sebastians neu erstanden war, damit sie fortan auch nicht ein Kleines von solchem Reichtum vergesse oder verliere. Als sie sich endlich erhob, griff sie nach dem Notenblatt und steckte es zu sich. Ohne Hast verließ sie den Pavillon, drehte den Schlüssel im Schloß. Er würde in Zukunft wieder seinen altgewohnten Platz neben anderen Schlüsseln haben. Durch den Abend, der in die erste Winternacht des Jahres verrann, ging sie dem Hause zu. Blick zur Stadt vom Garten aus
Der Flockenfall hatte aufgehört. Leichter Frost machte den Schnee unter den Füßen knirschen. Doch der Garten barg in den schlafenden Knospen, um die der Schnee sich schützend schmiegte, die Gewißheit neuer Blüte.
Weihnachten nahte. Um des Festes willen setzten die Menschen ihre Sorgen und Ängste noch einmal hintan. In allen Häusern waren Vorbereitungen im Gange, soweit die Beschränkungen der schweren Zeit sie erlaubten. Auch Frau Susanne und Juliane, unterstützt von dem Weiblein, rüsteten sich für die Feiertage. Die Kinder zeigten blanke Augen und eine erwartungsvolle Neugier.
Am Nachmittag des heiligen Abends hatte Juliane sich zu ihren verschiedenen Schützlingen aufgemacht. Sie wollte ihnen auch diesmal, wenn auch nur kleine, Weihnachtsgaben bringen. Nun hatte sie ihre Besuche beendet. Um sich den Heimweg zu kürzen - denn sie wurde gewiß zu Haus schon ungeduldig erwartet -, benutzte sie die sogenannte Promenade außerhalb der Stadt. Hier war sie sicher, um diese Stunde keinen Bekannten zu begegnen und von ihnen aufgehalten zu werden. Es war nicht so finster, daß Juliane ihre Umgebung nicht erkennen konnte. Sie vermochte sogar im Schneelicht über die Wiesen zu sehen. Die dehnten sich an der einen Seite des baumbestandenen Weges, während auf der anderen hinter den Ruinen des alten Slawenschlosses die Stadt sichtbar wurde. Tagsüber schloß der Wald die Landschaft mit seiner dunklen Linie ab. Jetzt aber lag der Nebel über dem verschneiten Land, schimmernd, als erhelle er sich von innen heraus. Oder als schenkten im die Sterne, die glitzernd hoch im dunklen Äther ihre Bilder formten, ein seltsames Licht. Und der Nebel gab den Wiesen eine geheimnisvolle Unbegrenztheit. Er hob jede Schwere auf. Die Erde wurde mehr von ihm getragen als niedergedrückt, ihr flaches Hingestrecktsein wurde zum Schweben. Hier draußen war die Kälte strenger als in Julianes Garten und zwischen den Häusern, in den Gassen; schneidend, voll ungeheurer Stummheit. Und doch war irgend etwas so sehr in ihr wach, daß es Juliane heftig erregte. Erstand in dieser weißen Nacht das Christwunder? Von dem fromme Legenden berichteten, es habe sich manchesmal einsamen Wanderern offenbart? Wurde dort draußen, zwischen den Wiesen in einer leeren Scheune, in einem nur sommers über für das weidende Vieh benutzten Stall, wieder einmal das Kind geboren, dessen Geburt die gläubige Menschheit heute gedachte? Würde der Nebel zerreißen und das Licht sehen lassen, das, ein flackernder Kienspan, neben dem Lager des Kindes brannte? Der Nebel wich nicht. Aber war das Weihnachtswunder, obgleich unsichtbar, nicht doch spürbar und machte die Schneenacht seltsamer als noch jede zuvor? Aber war da nicht noch ein Anderes, Unheimliches, gleichfalls zu spüren? Der Krieg - ? Dehnten sich unter der weißen Verschleierung die Wiesen nicht weiter und weiter gen Osten? Bis dorthin, wo er herrschte? Wo zu jeder Stunde, auch in dieser einen Nacht des Jahres, Menschen in den Kampf ziehen mußten, viele nicht wieder aus ihm zurückkehrten, ebensoviele zerfetzt, verstümmelt wurden? Würde der Nebel sich heben? Würde er hier tief im friedlichen Land so Furchtbares sehen lassen? Immer noch wich er nicht. Unwillkürlich lauschte Juliane, ob etwa der Lärm der Front zu ihr dringe? Alles blieb still. In der Kuppel des Himmels hing die Stummheit wie etwas Körperliches. Schauer und Furcht ergriffen Juliane. Und die weiße Nacht drang, eisig und geheimnisvoll, drohend und verheißend, in sie ein. Dann kehrte sie in das Städtchen zurück, in die winkeligen Gassen, zwischen die Giebelhäuser. Als sie in ihren Garten kam, wurde auch er derart von der seltsamen Stunde beherrscht, daß sie erschrak - Im hellen Hausflur sprangen ihr die Zwillinge entgegen. Sie hängten sich an ihren Rock und zogen sie zu Frau Susanne und dem Weiblein. Nun wollten sie Weihnachten feiern! Aber die Ausgelassenheit der Kinder, das behagliche Geschwätz des Weibleins, Frau Susannes zaghafte Freude konnten Juliane nicht vergessen machen, daß Nebel und Stummheit unaufhaltsam von den Wiesen herüberdrängten, das Haus umlagerten und an seinen Mauern hochwuchsen. Und sie wußte noch immer nicht - ob sich ein gutes oder schlimmes Geheimnis in dieser Christnacht barg. Das alte Jahr ging zu Ende, das neue begann. Am Rande einer ungewissen Zukunft lebten die Menschen ihren Alltag und nahmen jede freundliche Stunde dankbar wahr. Juliane saß wieder einmal, wie sie es gern zu tun pflegte, zwischen den Betten der Zwillinge und erzählte Märchen. Sie hatte die eine Hand dem Buben, die andere dem Mädchen auf die Decke gelegt, und sie waren alle drei sehr vertieft in ein höchst wundersames Begebnis. Im Kachelofen prasselte das Feuer. Frau Susanne hatte noch einige Scheite nachgeschoben, damit die Wärme während der Nacht nicht allzusehr schwände. Das Knistern und Knacken des Holzes klang behaglich in die Erzählung hinein. Und die hellen Fenstervorhänge, hinter ihnen die festgeschlossenen Laden, hielten den Winterabend mit Kälte und Finsternis von der Traulichkeit des Zimmers fern. Da wurde heftig die Klingel neben der Haustür gezogen. Noch war der schrille Schall nicht verklungen, als laut an die Tür gepocht wurde. Der Lärm fiel jäh in Julianes Worte, brach sie entzwei, gleichwie ein Stein in fließendes Wasser fällt und das ruhige Strömen unterbricht. Hastig erhob sich Juliane, ohne die schmollenden Kinder zu beachten. Sie überhörte des Mädchens weinerliche Bitte, des Jungen trotziges Fordern, daß sie mit der Erzählung fortfahren solle. Draußen war das Weiblein. Das Kopftuch war der Mutter niedergeglitten, als sei es in großer Hast nur locker über die Haare gebunden worden und habe sich beim eiligen Lauf auf dem glatten Scheitel nicht halten können. Auch trug sie trotz der beißenden Kälte keine wärmende Jacke. Anscheinend war sie von daheim fortgestürmt, wie sie ging und stand, ohne sich die Zeit zu nehmen, vielleicht gar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, sich besser vor dem Frost zu schützen. Aus dem runden Gesicht, den blanken Augen sprach maßloses Erschrecken. "Sie kommen" - schrie sie Juliane entgegen. Dann brach sie in Tränen aus. Fassungslos schluchzend lehnte sie am Türpfosten. Juliane zog die Weinende in den Flur, damit aus der geöffneten Tür der Lichtschein nicht länger in die Dunkelheit falle und etwa die Gefahr vollends heraufbeschwöre, von der das Weiblein wußte. Doch nur mühsam verstand sie den gestammelten Bericht: Am Strom, nicht allzu viele Kilometer vom Städtchen entfernt, sei eine Schlacht im Gange. Der feindlichen Übermacht würden die deutschen Truppen schwerlich widerstehen können. Darum müsse vielleicht noch in dieser Nacht geräumt werden. Die Bewohner sollten sich bereit halten. Und, fügte die Schluchzende hinzu, die bisher noch in der Stadt weilenden Männer seien zum Volkssturm gerufen worden, auch ihr Mann sei unter ihnen und bereits fort. Kalt drang das Grauen auf Juliane ein, das gleiche, wenn auch in furchtbar verstärktem Maß, welches sie auf ihrem Gang durch die Christnacht gespürt hatte. Schwankte nicht der Boden unter ihren Füßen? Drohte nicht das Haus über ihr zusammenzubrechen? Doch vor ihr standen die beiden Frauen - Susanne hatte sich zu ihr gesellt - die eine bebend vor ungehemmter Furcht, die andere sehr blaß, als könne sie sich nur mit Anstrengung auf den Füßen halten. Und in ihren Betten warteten die Kinder. Es blieb ihr keine Zeit für die eigene Schwäche. Als das Weiblein wieder hastig in die Nacht hinausstob, warf sie über die Davoneilende einen Blick in den Garten. Er sollte ihr, wie so oft schon, auch diesmal helfen. Doch seine Ruhe war ihr diesmal keine Beruhigung, erschien ihr vielmehr wie Unwahrheit und Schein, so daß sie sich mit schweren Gliedern in das Haus zurückwendete und zu den Kindern ging, vorbei an Frau Susanne. Die räumte schweigend ihre Näherei zusammen. Jede friedliche Arbeit war ja nun ohne Sinn geworden. Die Zwillinge schliefen. Die Frauen hatten Mühe sie zu wecken und anzukleiden. Doch ehe sie noch fertig waren, ging erneut die Haustürklingel. Nochmals stand das Weiblein draußen. "Blinder Alarm!" frohlockte es. "Das Gerücht ist falsch gewesen! Die Räumung gilt der nahe am Strom gelegenen Nachbarstadt, nicht uns! Und vielleicht tut der Herrgott noch ein Wunder", hoffte es mit zitternder Inbrunst und trollte abermals davon. Doch wenige Tage später stand es zum dritten Mal vor Julianes Tür. Diesmal hatte es sich dick vermummt. Es hatte seine Rundlichkeit durch überviele Kleidungsstücke noch vermehrt. Aber die Frauen vermochten bei dem Anblick nicht zu lachen. Denn am Stadtrand hinter den Wiesen begannen die Maschinengewehre zu hämmern. Und das Weiblein schrie auf: "Wir müssen fort!" Das Wort war gefallen. - Es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Und war es bislang immer noch von zager Hoffnung begleitet, in seiner Grausamkeit gemildert worden, nun wurde es unerbittliche Forderung. Juliane horchte ihm nach, ohne ihm ein eigenes Wort entgegenhalten zu können. Es sank in sie ein, tiefer, immer tiefer. Sie mußte geschehen lassen, daß es alle Freude zerbrach, die ihr jemals zuteil geworden war. Daß es Beständigkeit und Sicherheit völlig vernichtete. Es zerbrach jedoch nicht nur ihre Umwelt. Es zerbrach auch sie selbst, weil es in ihr zu fast untragbarer Schwere gefror, der sie keine Wärme entgegen zu setzen hatte. Neben einem dumpfen Hinnehmen blieb ihr nur ein letztes und hartes Wollen: an den ihr gegebenen Menschen ihre Pflicht zu erfüllen. Aber auch das drohte an der Ungeheuerlichkeit der Aufgabe zu zerschellen. Überstieg das Geforderte nicht ihre Kraft? Das Schicksal kam ihrer Schwäche, ihrem heimlichen Wunsch, bleiben zu dürfen, entgegen: Der abermals überhastig angeordnete und den Einwohnern zugesicherte Abtransport erwies sich als leere Versprechung. Und in der allgemein einsetzenden Verwirrung fand sich keiner, der bereit oder imstande gewesen wäre, Juliane und die Ihren auf einem meist armseligen Gefährt aus dem sterbenden Städtchen mit sich fort zu nehmen. Auch setzte erneut heftiger Schneefall ein. Es war unmöglich, im schneidenden Ostwind, bei starker Kälte und im Flockengestöber mit den Kindern die Flucht zu Fuß zu wagen. Während in der folgenden Nacht die Geschosse über das Haus sausten, zuweilen ein Einschlag aus nächster Nähe dröhnte, geschah an Juliane eine seltsame Verwandlung. Sie hatte mit den Frauen und Kindern vor der Beschießung im Keller Schutz gesucht. Das Weiblein war endlich trotz der Erregung eingeschlafen. Zusammengesunken hockte es auf dem Stuhl, das einst so runde Gesicht war hager und verfallen, von Nichtbegreifen gezeichnet. Ob Frau Susanne gleichfalls schlummerte oder in stummer Tapferkeit die Angst ertrug, war nicht ersichtlich. Juliane saß neben den Kindern. Der gesunde Schlaf der Zwillinge war durch keinen Lärm zu stören. Langsam wurde sie ihrer Umgebung, mehr noch - sich selbst - fern und fremd, wurde zu einer Uralten, die, gleichwohl noch in diesem Leben stehend, seine Nichtigkeit von sich getan hatte wie ein abgetragenes Kleid. Die auch um die teuersten Menschen nicht mehr zitterte, weil sie jener Dasein mit anderen Maßen maß als zuvor in den Jahren der eigenen Jugend. Denn die Uralten sehen über das Leben fort. Und das Sterben dünkt ihnen nicht mehr als ein Atemzug, der sie hinüberhebt in eine andere Form und zu anderer Geltung. Sie hatte kein Befremden ob ihrer Verwandlung, erkannte sie gar nicht. Bei dem jämmerlichen Schein eines Lichtstümpfchens - die elektrische Leitung versagte längst - saß sie reglos. Und die Zeit wogte durch sie hin wie ein Meer mit mächtigen Wellen. Nicht die kleine Menschenzeit, sondern eine andere, die aus jenen Tiefen aufquoll, aus welchen von Anbeginn irdischen Seins alles Werden aufgestiegen, in welches es, vergehend, zurückgesunken ist. Erst als das Mädchen weinend hochschreckte, fand Juliane sich zu sich selbst und den Menschen, zu der Verantwortung für die Frauen und Kinder zurück. Nachdem sie die Weinende zusammen mit Frau Susanne beruhigt, nachdem die Mutter, die ihnen wortlos zugeschaut hatte, wieder in ihren Erschöpfungsschlaf gefallen war, und Frau Susanne mit stummer Fürsorge das Mädchen in den Arm genommen hatte, erhob sie sich. Nun blieb ihr länger keine Wahl, kein Ausweichen vor dem Ungewollten. Wenn diese Nacht überstanden werden durfte, mußte sie ihre kleine Schar aus dem gefährdeten Haus führen und, falls sich immer noch keine Möglichkeit zur Flucht böte, sich mit ihnen in den festen Kellergewölben der alten Kirche bergen. Darum verlangte sie jetzt - und der Wunsch wurde ihr zum Gebot - danach, noch ein allerletztes Mal durch Haus und Garten zu gehen. Doch der andauernde Beschuß verbot ihr aus der Tür zu treten. Vielleicht würde sie sich unerwartet inmitten der Kämpfenden finden, sobald sie hinauskam? Der Gedanke machte sie frösteln, weniger um der Gefahr willen als darum, daß der Garten solchen Einbruch in seinen Frieden erleiden sollte. Das Haus hatte die Vertrautheit verloren, mit der Juliane bisher die Möbel, die Bilder an den Wänden und ein jedes Gerät um sich her gewußt hatte. Zwar war nichts verrückt oder schon zerstört, doch es schien dem Unabänderlichen bereits stumm entgegen zu warten. Und es wurde Juliane zu stillem, doch schwerem Vorwurf. Beging sie denn nicht Verrat, weil sie es verlassen wollte? Aber war ihr Entschluß denn freiwillig? War nicht vielmehr ein Gebot über ihr, dem sie sich beugen mußte? Durfte sie jene, die blindlings an ihren Beistand glaubten, im Stich lassen? Und doch - hatten Haus und Garten nicht fast ein größeres Recht auf ihre Treue, sie, die sich ihr von erster Kindheit an treu erwiesen hatten? Nicht nur in guten, sondern auch in vielen bösen und bitteren Stunden, so noch erst vor kurzem, als sie den Schmerz um Sebastian erfahren mußte? Sollte sie darum nicht zu ihnen stehen bis zum Letzten, bis ins Letzte, mochte dies auch Aufgabe ihrer selbst bedeuten? Denn ist nicht Treue erst dann vollkommen, wenn sie solchen Einsatz auf sich nimmt, ohne zu zögern? Aber in ihr seltsam gelähmtes Fühlen leuchtete die Erkenntnis grell hinein: sie mußte zu den Menschen halten und konnte nicht zusammenfügen, was unvereinbar war - - Und sie wanderte durch die Zimmer wie eine bereits Heimatlose. Über ihrem Schreibtisch hing der zierliche Scherenschnitt der anderen Juliane, auch das Pastellbild des Musikers. Auf der Tischplatte stand Sebastians Fotografie. Leer und ausgebrannt starrte sie auf die Bilder. Die Zugehörigkeit zu den beiden Früheren war zerrissen, die zu Sebastian nur ein stumpfes Wissen. Halb betäubt nahm sie sein Bild an sich. Unsäglich arm geworden kehrte sie zu den Frauen und Kindern zurück. Die kriegsdurchlärmte Nacht dehnte sich ihr furchtbar und endlos. In einer Feuerpause des nächsten Morgens führte sie ihre Menschen, mit dem notwendigsten Gepäck beladen, fort. Der Schnee war in den letzten Tagen nicht mehr von den Wegen geschaufelt worden. Jetzt gruben die Kufen des Schlittens, auf dem die Kinder inmitten des Gepäcks saßen, sich tief in ihn ein; die Füße der Frauen zertraten achtlos die weiche Fülle. Keine zweite Spur würde die dieses Auszugs zurücknehmen und nichtig machen. Schweigend folgte Juliane den Voranschreitenden durch den Garten. Er entließ sie, als habe er sich niemals in schöner Beständigkeit um ihren Alltag, um ihren Feiertag mit Sebastian gegründet. Doch er sprach sie nicht schuldig. Was gingen den Tiefverschneiten die Menschen und ihre Not an? Er wußte nur um das Da-Sein seiner Bäume, seiner Büsche, in denen der Saft ruhte, um das seiner Kräuter und Blumen, die sich in Wurzeln und Samen in seinen Boden zurückgezogen hatten. Nun, da Juliane ihn verließ, würde er auch fernerhin nur noch dieses Wissen kennen. Sie rief den Frauen zu, vorauf zu gehen. Sie würde bald nachkommen. Gehorsam willfahrten sie ihr in der Annahme, sie habe noch etwas im Haus vergessen. Mit beiden Händen griff Juliane in die Jasminbüsche rechts und links des Weges, verklammerte sich in ihnen als ein Gelöbnis, daß sie sich in den Kreis des Gartens einfüge. Die Trennung von ihm nur zu einer äußerlichen mache und in ihrer Liebe stetig bei ihm bleibe. Denn konnte der Krieg auch das Haus vernichten, weil es von Menschenhand erbaut worden war - den Garten konnte er nicht ebenso hart treffen. Dieses würde immer sein: Keimen, Wachsen, Blühen und Reifen. Es würde sein, auch ohne daß Menschen ihr Teil daran hatten: Ihrer Sorgsamkeit beraubt, würde der Garten doch auch weiterhin stetig von Leben durchpulst, von Sonne und Regen gehegt und gepflegt werden.Immer wieder würden die Veilchen blau im Gras stehen, würden die Kastanien ihre Kerzen tragen, Flieder, Linden und Rosen ihren Reichtum verschwenden. Das Obst würde reifen. Das Laub gilben und im Herbststurm abfallen. Bis endlich nach nebeltrüben Tagen der Schnee vom Himmel wirbelte und die Erde bedeckte, damit der Garten in seinem Schutz dem Frühling entgegenharre und den Tieren jederzeit eine gute Stätte bereite. Und er würde aus der Hand der Menschen in die Gottes zurückkehren. Der ewige Gärtner würde dem wilden Wuchern jeden Krautes, jeder Blüte gnädig sein und es segnen: Weil ja alles Blühen, Grünen und Reifen ständig in seiner Güte ruht. Er würde diesen Erdenfleck aus der Zeitlichkeit hinausheben in seine Zeitlosigkeit, die nicht an den Wechsel der Monate, an den Ablauf der Jahre gebunden ist, die keine von Menschen geschaffene Verwüstung auszulöschen vermag. Zwischen Bäumen und Büschen zeigte sich der Pavillon. War ihm schon das Urteil gesprochen, die Zerstörung über ihn verhängt? Juliane griff in die Tasche, dort knisterte Sebastians Notenblatt. Und des Gartens schneeschimmernder Frieden besänftigte ihr erregtes Denken, als sei sie schon jetzt in die große Zeitlosigkeit eingegangen, der er entgegenträumte. Von der Straße her klang das ungeduldige Rufen des Weibleins. Wenige Minuten später fiel hinter Juliane das große Lattentor zu. Das Haus im Jahr 1965. Kurze Zeit später wurde es abgerissen. |