August Kullmann (1832-1926)
Kommissionsrat August Kullmann, der Ehrenbürger der Stadt Lüben, nach dem die Kullmann-Straße in Lüben benannt war, verstarb im 94. Lebensjahre am 1. Juli 1926. Im Januar 1869 war er zum Stadtverordneten gewählt worden, 10 Jahre später zum Stadtverordnetenvorsteher. Dieses verantwortungsreiche Ehrenamt verwaltete er uneigennützig und umsichtig 40 Jahre. Der Kaufmännische Verein dankte ihm, dem Ehrenmitglied, für seine Pflichterfüllung und nicht zuletzt fand man unter den vielen dankenden Worten die der Schützengilde Lüben.
Dieser charakterfeste Mann kam aus bescheidenen Verhältnissen und hatte es wahrlich zu hohem Ansehen gebracht. Er wurde am 18. August 1832 in Groß-Reichen geboren, erlernte nach der Schulzeit den Kaufmannsberuf und begründete im Oktober 1858 in Lüben Ring 7, sein Eisen- und Kolonialwaren-Geschäft. Fleiß, Sparsamkeit und Ehrlichkeit waren die Grundsätze, die sein Geschäft auf die Höhe führten. Auch in den Kreisbehörden und in den evangelischen kirchlichen Körperschaften war er ein reges Mitglied. Er war Inhaber des Königlichen Kronenordens und des Roten Adlerordens. Seine Verdienste, die weit über die Stadt- und Kreisgrenze hinausreichten, fanden durch die Verleihung des Titels "Königlicher Kommissionsrat" Anerkennung.
Lübener Heimatblatt 22/1971
Dank Henry Näpelt kann diese handschriftliche Original-Postkarte von Kaufmann August Kullmann aus dem Jahr 1874 an das Drahtwerk Heinrich Kern & Co. in Gleiwitz gezeigt werden!
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"Wegen noch nicht Ankunft der versprochenen Vorerstsendung
der seperat aufgegebenen Nägel bin ich
in Verlegenheit und bitte um gütige
baldige Erledigung des Abkommens, ich
weiß mir sonst nicht zu helfen!
Achtungsvoll ergeben
A. Kullmann
Lüben, den 2. August 1874
An Herrn Heinrich Kern & Co.
in Gleiwitz"
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August Kullmanns Name bleibt mit der Stadt verbunden
Mit Freude und Rührung las ich von der ehrenvollen Würdigung, die meinem Großvater Kullmann in unserem Heimatblatt zuteil wurde. Ich glaubte ihn längst vergessen in dieser so völlig veränderten Welt. Aus diesem Anlaß möchte ich über ihn und das alte Lüben etwas plaudern, wie es mir überliefert wurde und wie ich es selbst erlebte.
Meinen Großvater muß man als Mann des 19. Jahrhunderts verstehen, was schon daraus zu ersehen ist, daß man im 20. Jahrhundert niemals 40 Jahre Stadtverordnetenvorsteher sein könnte, so viele Farben brächte kein Chamäleon auf, obwohl in dieser Beziehung so manche schöne Einzelleistung geboten wird. Damals war das deutsche Volk noch geeint in der Verehrung des Reichskanzlers Bismarck! So gab es auch in der Kommunalpolitik keine politischen Debatten, sondern ein zielstrebiges Arbeiten zum Wohle der Stadt.
Als mein Großvater seinem Schwiegersohn, meinem Onkel Georg Geisler, das Geschäft übergab, widmete er sich fortan nur noch Bankgeschäften und betrieb nebenbei eine Agentur der Schlesischen Feuerversicherungs-AG. Die, die ihn um eine Hypothek für ihren Neubau angingen, kannte er jahrzehntelang, und er war sich über die Rechtschaffenheit der Kunden klar und irrte sich nie.
Genügsam wie er war, wurde er im Laufe der Zeit sehr vermögend, in seinem Nachlaß fand sich eine Steuererklärung aus dem Jahre 1911, in der er sein Vermögen auf über 400 000 Mark bezifferte, die man sich nur in Grundstücken aufgezählt denken muß.
Im "Grünen Baum" hing damals ein lebensgroßes Bild des neuen Kaisers Wilhelm II., das nach Löschung jeglicher Außenbeleuchtung im Hinterzimmer von der Wand gehoben wurde, weil sich auf dessen Rückseite eine Roulettetafel befand, und so stand dem Glücksspiel der Offiziere nichts mehr im Wege. Der Verlierer schickte sodann einen zuverlässigen Kellner zu meinem Großvater, der die zu begleichende Spielschuld vorstrecken mußte. Wie oft mag er aus dem besten Schlaf getrommelt worden sein. Die Geldnehmer waren durchweg Söhne aus sehr vermögenden Adelshäusern, trotzdem hat mein Großvater bei einem Freiherrn eine Riesensumme Geld verloren. Dieser hatte den großen Besitz seines Vaters restlos verspielt, der Spieler schrieb noch aus allen europäischen Großstädten an meinen Großvater um Kredit, sein letzter Brief war aus Sydney. Sein ruinierter Vater nahm sich das Leben.
Großvater erzählte oft und mit großer Erinnerungsfähigkeit aus seiner Jugend, in der die Postkutsche das einzige Personenbeförderungsmittel war. Man belächelt heute die Postkutsche, sie muß aber besser geklappt haben, als man denkt, denn Großmutter stammte aus Memel.
Die Eisenwaren für sein Geschäft, die er brauchte, wurden auf schweren Frachtwagen herangefahren, die Äxte aus Hagen, die Sägen aus Remscheid, die Stahlwaren aus Solingen. Später erlebte er den schnellen Bau des Eisenbahnnetzes, und ich kann mir so richtig vorstellen, wie er inmitten eines Waldes von Zylinderhüten den ersten Personenzug auf der Strecke Lüben-Raudten begrüßte und welch fröhliches Fest sich dann anschloß.
Als ich in sein Leben trat, war er schon ein sehr alter Mann, mit vollem, schlohweißem Haar des hohen Alters, und da er keinen Bart trug, sah er eigentlich recht modern aus (nach Wertstäben gerechnet, die noch bis vor einem Jahrzehnt galten). Er hielt sich gerade und alle kannten ihn, alle grüßten ihn und allen dankte er für den Gruß, was die Folge hatte, daß er sich alle zwei Jahre einen neuen Homburg kaufen mußte, weil der alte durchgegriffen war. Er brauchte mehr Hüte als manche Frau. Seine Sehkraft hatte sehr nachgelassen, aber er erkannte jedermann an seiner Stimme und irrte sich nie. Wie oft wurde er im Ladengeschäft von irgendwelchen Kunden ebenso erfreut wie taktlos mit den Worten: "Nee, Herr Kullmann, leben Sie och noch?" begrüßt. Das kränkte ihn wohl sehr, wie man verstehen kann.
Begriffen hat er nicht mehr, daß die Inflation sein ganzes Vermögen gefressen hatte und er fast ein armer Mann geworden war. Wie oft drückte er mir eine wertlos gewordene Silbermark für Zigaretten in die Hand, die ich mit Rührung einsteckte. Er war wohl überhaupt in seinem Leben recht großzügig, so spendete er seinem Geburtsort Groß Reichen den goldenen Kirchturmknauf, und als Ehrenmitglied der Schützengilde gab er als alter Mann einmal den ersten Schuß auf den Vogel ab, aus einem Wagen heraus, in dem er auf den Schützenplatz gekommen war. Sofort kam der Vogel restlos herunter und Großvater durfte als Schützenkönig alles bezahlen.
Auf Bismarck wurde einmal in Bad Kissingen ein Attentat verübt, der Täter verletzte ihn nur unbedeutend an der Hand, die seinen Hut hielt, als er dem Zauberkünstler Bellachini, für seinen Gruß dankte. Daß dieser Täter nun zufällig auch "Kullmann" hieß, erfüllte ganz Lüben mit ungeheurer Heiterkeit.
Woher Großvater seine stabile Gesundheit hatte, ist uns nie ganz klar geworden. Wir glauben, daß sein Vater als Pachtbraumeister in Polkwitz mit seinem guten Bier den Grundstein legte. Zu seinem 70. Geburtstag (1902) soll er vormittags im Rahmen der Gratulationscour drei Flaschen Wein getrunken haben, ohne daß man ihm etwas angemerkt hätte. In seinen letzten Jahren quälte ihn immer mehr ein Prostataleiden, und eines Tages fiel er plötzlich im Laden mit der brennenden Zigarre in der Hand um, ich konnte ihn gerade noch auffangen. Drei Wochen später starb er, und es war für ihn kein leichter Tod, denn sein Herz war noch sehr gesund. Sein Freund und Arzt Dr. Hübner hatte ihn jederzeit gut und richtig beraten und betreut. Großvater hatte alle Menschen seiner Generation überlebt, aber auf seinem letzten Wege gaben ihm unzählige Menschen das Geleit, denen er Freund war oder die in ihm den letzten Repräsentanten einer abgelaufenen Zeit sahen. Unter diesen, die ihn begleiteten, war auch einer seiner alten Freunde, der Graf Sauerma, der ihm zu Ehren die Paradeuniform eines Majors der Bredow-Dragoner angelegt hatte.
Nun muß ich doch wohl auch noch über meine eigenen Erinnerungen an Lüben berichten. Ich kam 1925 nach Lüben, um dort meine Lehrzeit in der alten Eisenhandlung zu absolvieren mit dem Fernziel, die Firma eines Tages zu übernehmen. Von Breslau nach Lüben - das war ja doch ein schwerer Bissen, an dem ich lange kaute, bis ich mich sozusagen arrangiert hatte. Heutzutage würde sich ein 17-jähriger in meiner Lage sofort einen Vollbart wachsen lassen und sich das Wort "Protest" aufs Hemd malen. Es war einfach nichts los und ich entbehrte besonders die rüde Kumpelschaft meiner Schulfreunde, fand daher nur sehr langsam Kontakt. Es gab nicht eben viele junge Leute meines Alters, an denen ich Gefallen gefunden hätte.
Im Geschäft gefiel es mir jedoch recht gut, ich mußte zwar körperlich schwer arbeiten, und so mancher Waggon Eisen ist über meine Schulter stabweise abgetragen worden, aber ich meine noch heute, man kann die Arbeit eines Menschen nur richtig bewerten, wenn man sie selbst einmal getan hat. Die Umsätze in manchen Artikeln waren gewaltig. So meine ich, daß wir jährlich soviel Hufeisen verkauften, daß man damit den jetzigen Bedarf der Bundesrepublik decken könnte. Denn es gab nicht nur sehr viele Pferde im Kreise, sie waren auch täglich in den Sielen und in vier Wochen mußten sie neu beschlagen werden. Die Entnahmen der Kunden - hauptsächlich der Güter und der Schmieden - wurden ohne Quittung und Lieferschein abgegeben und es gab nie eine Reklamation.
1925 bis 1927 waren scheinbar Jahre des Aufstiegs, nämlich der Erholung von der Inflation, scheinbar deshalb, weil ja jedermann durch die Inflation sein Kapital zu neun Zehnteln verloren hatte. Dieser Krise war auch die alte Firma August Kullmann zum Opfer gefallen.
Die Gläubiger versuchten zwar, mich zu einem "Sanierungsbeirat" zu überreden, aber der geplante Schwiegervater, ein Großhändler aus Oberschlesien, sah so furchtbar aus, daß ich dessen Tochter nicht zu ehelichen begehrte und auch so einen Schock erlitt, daß ich tatsächlich erst 20 Jahre später geheiratet habe. Und ich habe es nicht bereut.
Bevor ich Lüben verließ, gab ich noch auf dem Dachboden des alten Geschäftshauses einen drei Nächte währenden Abschiedsball für sechs Personen mit Tanz um den alten Schornstein. Sitzgelegenheiten ergaben die vorhandenen Rodelschlitten. Vorher hatte ich sorgfältig die Dachfenster mit schwarzem Dekorationspapier verdunkelt, zehn Jahre bevor das Verdunkeln aus bösen Gründen "Mode" wurde.
Immerhin kam ich alljährlich öfter mal nach Lüben zu Besuch, und im Herbst 1944 lag ich sogar eine Zeit im Lübener Lazarett, um meine letzte Verwundung einigermaßen auszuheilen.
Ende Januar 1945 erzwangen die Russen ausgerechnet in unserem Bataillonsabschnitt den Übergang über die Oder. Er wurde verlustreich durch im letzten Moment herangezogene Flakgeschütze abgeriegelt. Das war in der Nähe von Dyhernfurth. Aber in den ersten Februartagen hörten wir dann den schweren Geschützdonner der sowjetischen Artillerie, die den Übergang über die Oderbrücke bei Steinau erzwang. Es war für mich klar, daß dies auch den Todesstoß gegen das alte Lüben bedeuten mußte. Viel später sah ich in einem Buch, das ein Deutsch-Kanadier herausgegeben hatte, ein Foto der Marktseite, auf der das alte Geschäftshaus gestanden hatte. Die Häuser sind alle weggebrannt, im Hintergrund war der Kirchturm mit zerschossenem Dachstuhl zu sehen. Ich sah das Bild mit großer Trauer, aber auch mit der Genugtuung, daß nun unter diesem Dache niemand wohnen würde, für den das Haus nicht gebaut war. Heute stehen auch diese zerschossenen Häuser nicht mehr, nur wenig noch vom alten Lüben - heute prägen Hochhäuser das Bild. In unserem Herzen bewahren wir Lüben als deutsche Kleinstadt mit ihren Bürgern, die das, was sie erschaffen oder übernommen hatten, liebevoll pflegten und bewahrten.
Und noch etwas: In den Jahren meiner Gefangenschaft trug ich stets Großvaters Trauring bei jeder "Untersuchung" unter meiner Zunge. Ich habe ihn heute noch. Er trägt die Jahreszahl 1858. Dieser Ring und die Erinnerung sind das, was mir von Lüben blieb.
Joachim Kullmann (* 1907), Osterode 1971