Geburt am 18. Januar 1945 in Lüben - Flucht aus Lüben am 28. Januar 1945
Mitte Januar 1945 hatte eine sowjetische Großoffensive der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Shukow und der 1. Ukrainischen Front unter Marschall Konjew vom Baraner Brückenkopf westlich der Weichsel aus begonnen. Nur spärlich tröpfelten Informationen über die Siege der Russen nach Lüben. Durchhalteparolen und die Vertröstung auf die ominösen V-Waffen ließen auch die Lübener immer noch den "Endsieg" erhoffen. Als jedoch die ersten Flüchtlingstrecks aus geräumten Städten östlich der Oder in Lüben Halt machten, begann sich Angst breitzumachen. Wie weit würden die Russen noch kommen? Ihre Rache sollte fürchterlich sein, das sprach sich schnell herum. Ob man nicht doch vorsichtshalber ein paar Tage zu Nichte Charlotte nach Taucha bei Leipzig "verreisen" sollte? Dem Versuch war durch eine Anordnung, die Reisen über 75 km hinaus untersagte, ein Riegel vorgeschoben worden. Und die Geburt des zweiten Kindes von Ursula T., meiner jüngeren Schwester, stand kurz bevor...
Im Frühjahr 1944 muss Georg Treder seine Gattin ein letztes Mal besucht haben. Sie hatte bei Käte, der Schwester ihrer Freundin Annemarie in der Dragonerstr. 7, Quartier bezogen. Um keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, hatte Käte, deren Ehe in die Brüche gegangen war, ihrem Vermieter, Bäcker Else, angeboten, Ursula T. mit ihrem Kind bei sich aufzunehmen. Noch sechzig Jahre später wurde mir das Gerücht zugetragen, dass Mutter Moch mit Else-Bäcker gesprochen habe, ob Tochter Ursula die Wohnung haben könne, wenn Käte geschieden sei... Das wusste Kätes Exmann denn doch zu verhindern und ließ die Wohnung nach der Scheidung auf den Namen seiner Ex-Gattin eintragen.
Jedenfalls hatte meine Mutter endlich ein eigenes Zimmer und konnte sich ohne elterliche Kontrolle und Vorhaltungen den Liebesschwüren ihres Kampffliegers Georg Treder hingeben. Ein Vierteljahr nach meiner Geburt war sie erneut schwanger geworden. Der Krieg ermöglichte Georg Treder den endgültigen Abschied von einem kleinbürgerlichen Familienleben. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen, bevor sein zweites Kind das Licht der Welt erblickte.
Während der Rundfunk darüber informiert, dass "der Russe" Warschau, Tschenstochau, Krakau, Lodz eingenommen habe, liegt Ursula T. in den Wehen. Es ist nicht mehr möglich, sie nach Liegnitz ins Krankenhaus zu bringen. Die Hebamme ist bei einer anderen Gebärenden. Ihre Mutter steht ihr bei. Beide Frauen können einander nicht trösten. Übermächtig ist die Angst vor dem, was kommen wird. Kurz bevor das Kind das Licht der Welt erblickt, kommt der in Lüben so beliebte und anerkannte Arzt, Dr. Theodor Molinski, und begrüßt am 18. Januar 1945 um 16.15 Uhr meine Schwester Gabriele, eine der letzten Neubürgerinnen des alten Lüben, bevor die Bewohner die Stadt verlassen. Am Abend Luftalarm! Von da an täglich.
Am 22. Januar 1945 erreicht der Einberufungsbefehl auch Konstantin Moch. Da ist er fünfundfünfzig Jahre alt. Seit Dezember 1944 waren die älteren Männer in militärischen Kurzlehrgängen in der Lübener Kaserne für den Volkssturm gedrillt worden. Weinend bringt Gertrud ihm den Befehl, sich in der Kaserne beim Volkssturm zu melden, ins Geschäft. Was soll nur aus uns werden? Oh, Gott, oh Gott, was soll nur aus uns werden?
Bevor Konstantin Moch die Familie verlässt, formuliert er für seine Tochter einen Antrag auf Ausstellung einer Raucherkarte. Der Zettel blieb erhalten. Er wurde nicht mehr eingereicht. Vermutlich hatte die entsprechende Behörde ihre Arbeit eingestellt. Kein Wunder, dass eine junge Frau damals anfing zu rauchen. Nur - warum musste dafür die Feldpostnummer des Gatten genannt werden? Musste er ihr das Rauchen erlauben oder durften nur Männer rauchen?
Am 25. Januar 1945 berichtet Mutter ihrer Cousine von Gabrieles Geburt und ihren Ängsten. Diese Karte schenkt ihr Cousine Lotte irgendwann zur Erinnerung an eine Zeit, in der sich die Geborgenheit, die Lüben bedeutete, und der Krieg, die beiden Kinder und die unglückliche Liebe zu einem Mann, die Flucht ins Ungewisse und die immerwährende Sehnsucht nach der alten Heimat auf widersprüchlichste Weise verbinden. Die erschütternde Postkarte blieb erhalten: