Der Pfeffergraben
Pianomechanikfabrik














Das alte Tuchmacherhaus am Pfeffergraben in der Liegnitzer Straße

Das alte Tuchmacherhaus am Pfeffergraben in der Liegnitzer Straße

Der Pfeffergraben

Jeder Lübener erinnert sich wohl noch an den Pfeffergraben. Er floß anspruchslos durch die Wiesen zwischen der Gasanstalt und Samitz. In der Liegnitzer Straße kreuzte er die Stadt. Wer dort auf der Brücke einen Augenblick verweilte, konnte sich an einem schönen Bild erfreuen: Linkerhand am Ufer stand ein schönes Fachwerkhaus. In seinem altersschwarzen, offenen Dachstuhl, der fast über den Graben hin reichte, hatten ehemals die Gerber ihre Felle aufgehängt. Sie waren längst aus dem Hause verschwunden, doch es zeugte noch immer von ihrem Gewerbefleiß. Am Haus vorüber gluckerte eilig der Bach, um alsdann an einem großen Garten entlangzufließen. Halb versteckt von den hohen Bäumen, von Fliederbüschen, Jasminhecken, zeigte sich im Hintergrund ein Giebel. Das Haus, das er bekrönte, stammte aus dem Jahre 1897 und war ursprünglich eine „Tabagie" gewesen, d. h. hier waren die Bürger zum Tabakrauchen und wohl auch zu einem Schöppchen zusammengekommen. 1820 hatte mein Urgroßvater, Postdirektor von Rüdiger, es gekauft, es sollte ihm und seiner Familie als Sommerwohnung dienen, in das sie für die Dauer der warmen Jahreszeit aus dem Postgebäude am Ring übersiedelten. Aus diesem Hause bin ich 1945 auf die Flucht gegangen.

Zurück zum Pfeffergraben: Er war mir allernächster Nachbar, darum kann ich allerlei berichten.

Da waren z. B. die »Nixen« des Pfeffergrabens: Sobald im Herbst die Zuckerfabrik zu arbeiten anfing, entleerte sie ihre Abwässer in den Bach. Vor allem in den frühen Morgenstunden setzte sich alsdann ein weißlicher Nebel über ihm ab, schleifte tief auf dem Wasser, hob sich, senkte sich - die Nixen führten ihre Schleiertänze auf. Allerdings konnten sie nicht verhindern, daß die Abwässer einen reichlich unangenehmen Duft mitbrachten, der uns eindringlich daran erinnerte, daß die Fabrik arbeitete./p>

Allerlei Getier lebte im Graben. Schwärme unzähliger winziger Fischchen schwänzelten vergnüglich herum. Auch war er von Blutegeln und anderen lieblichen Geschöpfen bevölkert. Wir konnten dies immer erneut feststellen, wenn wir die Gießkannen für die Gemüsebeete aus dem Pfeffergraben füllten.

Das von Zoe Droysen beschriebene Tuchmacherhaus

Aber es sei nicht verschwiegen, daß gerade das schlammige, reich belebte Wasser dem Gemüse zu ausgezeichnetem Wachstum verhalf. Und das war, vor allem in den Kriegsjahren, nicht zu unterschätzen. Auf den „Fluten" tummelten sich mit Vorliebe die Enten der gesamten Nachbarschaft. Und es war hübsch, wenn sie mit lautem Geschnatter und lebhaftem Flügelschlagen in den Bach einfielen und durch Lichtgefunkel und Schatten auf der Wasserstraße an unserem Garten vorüberschwammen. Auch die Pferde des angrenzenden Postgutes - auf ihm hatte Herr von Rüdiger einst die Postpferde für die „Diligencen" gehalten - kamen von der gegenüberliegenden Wiese hierher, um ihren Durst zu stillen. Die Kuckucke liebten es, aus den Wipfeln der hohen Bäume am Graben in erster Morgenfrühe ihren Ruf erschallen zu lassen, ebenso jedoch auch tagsüber ihn dort oben anzustimmen.

Grapenthinsches Grundstück am Pfeffergraben

Grapenthinsches Grundstück am Pfeffergraben (gegenüber vom Tuchmacherhaus)

Nachdem der Pfeffergraben die ganze Länge unseres Gartens begleitet hatte, wendete er sich abermals durch die Wiesen, am Postgut vorüber, unserem alten Park zu. Unsere sämtlichen Logierbesuche waren sich mit uns darüber einig, daß der kleine, nette Bach dem alten, halbverwilderten Park noch einen besonderen Reiz schenkte. Einmal war der Dichter Hans Zuchhold mit seiner Frau an einem schönen Sommernachmittag bei uns. Nachdem wir unter den blühenden Linden am Haus Kaffee getrunken hatten, führten wir unsere Gäste in den Park. Er fand ihre Anerkennung, aber - so meinten sie - nun müßte hier noch Wasser sein. Wie stolz wiesen wir ihnen den Pfeffergraben vor! Ohne dieses Gewässerchen hätten wir sicherlich nicht die unzähligen Vögel im Park gehabt. Durch die Möglichkeit der Tränke hatten sie sich angesiedelt, und wir störten sie nicht. Da gab's neben der sonderbaren Nachtschwalbe auch Eisvögel - wie ein blauer Blitz schoß einer an mir vorüber, als ich mich unversehens dem Ufer näherte. Und die Nachtigallen schlugen dort in der Einsamkeit. Alle diese Freuden verdankten wir zum großen Teil ohne Zweifel dem Pfeffergraben, der die Vögel angelockt hatte, so daß sie nicht wieder umsiedelten.

Zumeist war der Pfeffergraben ein harmloses Bächlein, malerisch umbuscht und oft von Baumkronen überwölbt. Er konnte sich aber auch völlig verändern: Hatte es im Gebirge anhaltend geregnet oder gar einen Wolkenbruch gegeben, brauste und strudelte das Wasser im Bach und brachte es fertig, die große Wiese zwischen Postgut und Steinauer Vorstadt in einen See zu verwandeln. Wir sprachen dann nicht zu Unrecht von „Lüben am See". Den Lübener Kindern war dieser See ein großer Spaß. Sie fuhren in den verschiedensten „Booten" auf ihm herum. Ein paar besonders unternehmungslustige Jungen wollten sogar mit einer flachen Zinkbadewanne die Fahrt an unserem Garten entlang bis hinauf auf die Wiesen oder besser gesagt: auf den See, wagen. Über den Pfeffergraben führte bei unserem Haus eine Brücke aus Zement und Eisen. Fast wäre sie noch überspült worden, gerade noch konnte das Wasser unter ihr durchströmen.

Endlich entsinne ich mich des Herbstes 1918. In Garten und Park leuchtete das Laub fast blendend, und der Graben war wieder einmal aus Sanftheit in Ungebärdigkeit verwandelt worden. Dutzende von Staren saßen in den Bäumen am Ufer und lärmten gewaltig: Sie rüsteten zum Flug nach dem Süden. In diesen wilden, beinahe unheimlichen Herbst paßte die Stimmung der Menschen: Jeder wartete mit Bangen der Zukunft, sie mußte das harte Ende des Ersten Weltkrieges bringen. Damit nicht genug, im Städtchen herrschte die Grippe. Auch sie hatte eine heftige und unheimliche Form angenommen: Sie nahm vor allem die jungen Leute, oft schon nach wenigen Krankheitstagen. Wen würde sie noch treffen, wen verschonen?

Der Pfeffergraben als Begrenzung des Gartens von Zoe Droysen zum Nachbargrundstück

Der Pfeffergraben als Begrenzung des Gartens von Zoe Droysen zum Nachbargrundstück

Aber diese Erinnerungen sollen nicht mit einem so trüben Bild beendet werden. Es sei vielmehr noch gesagt, daß der Pfeffergraben auch in die Dichtung eingegangen ist: in Dr. Baers liebenswürdigen Versen über seine Vaterstadt Lüben. Die „Kalte Bache" sollte einmal in „Kalter Bach" umgetauft werden, er läßt sie herzbeweglich klagen:

... Auf den allergrößten Karten
in schon ganz vergilbten Schwarten
tret ich auf im Mädchenkleid.
Und nun soll ich Hosen tragen?
Was wird Pfeffergraben sagen,
der mich doch als Weib gefreit?..."

(Beide Bäche fließen an einem malerischen Winkel meines Parks zusammen.)

Lüben ist schwer zerstört. In der Liegnitzer Straße sind viele Häuser, auch das alte Fachwerkhaus, abgebrannt, mein Garten völlig verwildert, der Park wurde abgeholzt. Aber unser guter, alter Pfeffergraben führt wie immer seine Wasser, er wird die Wiesen überschwemmen oder mit sanften Wellchen träumen, bis er nach langer Reise in die Oder mündet.

Zoe Droysen, 1957

Quelle: Lübener Heimatblatt 18/1957, Foto vom Pfeffergraben aus dem Nachlass von Zoe Droysen bei Familie Veit/Lehrte