Erinnerungen eines Lübeners an das "Stadtblatt"
von Erwin Anders (1884-1960) im Lübener Stadtblatt vom 2.1.1943
Du, liebes und getreues "Lübener Stadtblatt", hast mich nun gebeten, als alter Lübener zu Deinem Ehrentage Erinnerungen an Dich niederzuschreiben. Ich komme diesem Wunsche nach mit zwiespältigem Gefühl: Ich bin nur reichlich halb so alt wie Du und empfinde daher den entsprechenden Respekt vor Dir. Andererseits zählt ein Menschenalter für uns Sterbliche doch ganz anders als für Dich, und insofern darf ich vielleicht mit Dir plaudern, wie wenn wir Altersgenossen wären, denn Du warst ja auch noch ganz jung, als ich ein Kind war. In frühe Kindheit fällt meine erste Erinnerung an Dich.
Ich war etwa 5 Jahre alt, und der von den Vorfahren ererbte Drang zum Zeichnen rührte sich schon frühzeitig in mir. Ich wollte "malen", hatte aber kein Papier. So nahm ich den weißen Rand des "Lübener Stadtblattes" und zeichnete nach meiner Art Kühe und Pferde mit solchem Nachdruck, daß die Spuren davon auf dem polierten Rand des nagelneuen Schreibtisches meines Vaters deutlich sichtbar wurden. Noch Jahrzehnte lang haben die "Kritzel" vom "künstlerischen" Streben des Erstgeborenen der Familie gezeugt. Ich weiß jedenfalls, daß ich dieser ersten bewußten und zweckbetonten Begegnung mit Dir die erste deutliche Erinnerung an die strafende Hand meines Vaters verdankte, der von einer solchen Verwendung des "Stadtblattes" und seines Schreibtisches verständlicherweise wenig begeistert war. Aber ich hatte ja kein Zeichenpapier. Man war in allen Dingen früher sparsamer als heute und so erschienst Du damals auch nicht täglich, sondern nur dreimal in der Woche.
Seitdem mein Vater im Jahre 1878 als 21jähriger nach Lüben kam - etwa 80 Jahre nach dem Wirken seines Großvaters Friedrich Anders als Oberförster in Ober-Gläsersdorf (Kreis Lüben) - wirst Du in unserer Familie gelesen und schon 64 Jahre lang hast Du uns daheim und in der Ferne begleitet und über alles unterrichtet, was sich an großen und kleinen Ereignissen in der "freundlichen Lindenstadt" zutrug. Jeden Morgen bringt Dich mir der Postbote als Gruß aus der Heimat, und jedesmal, wenn ich Dich zur Hand nehme, ersteht vor mir das Bild der Stadt, in der ich geboren bin und meine Kindheit verlebte. Du bist nicht nur der getreue Chronist des großen Weltgeschehens in gedrängter Form. Du bist in noch höherem Maße Wegbegleiter der Menschen, die da am "Kalten Bach" wohnen und schaffen, und in Deinen Spalten steht ein gut Stück ihres Schicksals geschrieben und damit auch das meiner eigenen Familie.
Im Kellergeschoss befand sich die Druckerei. Im Laden gab es Bücher, Schreibwaren und Ansichtskarten aus dem Verlag Paul Kühn!
Stadt und "Stadtblatt" gehören eng zusammen. Das merkt man besonders, wenn die Heimatzeitung die regelmäßige und zuverlässigste Verbindung zwischen einem da draußen und der Heimat darstellt. Nun bist Du bald hundert Jahre alt und schickst Dich munter und quicklebendig an, in das zweite Jahrhundert Deines Erscheinens einzutreten. Wir wissen es alle: Alter ist ein relativer Begriff. Man soll ja im allgemeinen so alt sein, wie man sich fühlt. Aber hundert Jahre? Das ist doch ein achtbares Lebensalter, und man müßte es Dir, liebes Geburtstagskind, doch reichlich ansehen. Nun, Du hast Dich in diesen hundert Jahren sicherlich in diesem oder jenem gewandelt. Aber eins kann man wohl feststellen: Dein "Format" hat sich nicht geändert, weder äußerlich noch innerlich. Der berüchtigte "Zahn der Zeit" konnte Dir nichts anhaben. Du hast schon einmal eine Probe Deiner guten Konstitution gegeben, als Du in den dunklen Jahren nach 1918 das große Sterben im deutschen Blätter- und Zeitungswalde überdauertest, dem so viele größere und robustere Deiner Brüder und Schwestern zum Opfer gefallen sind. Du darfst daher - und das wünschen wir Dir - hoffen, auch noch so manches weitere Jahrhundert Deines Wirkens und Schaffens in alter Frische und Kraft zu erleben.
Ich erinnere mich noch gut des starken Eindrucks, den Du hinterließest, als Du Dich zum täglichen Erscheinen entschlossest. Die Ankündigung davon war wohl das erste Schrifttum, das ich selbständig zu lesen vermochte. Ich bin dann als Kind und Junge oft in Deinen Räumen gewesen und durfte in die geheimnisvollen Setzerkästen schauen und das Geheimnis des Zeitungssatzes beobachten. Eines Tages aber führte mich mein alter väterlicher Freund Paul Kühn mit Stolz in den Setzerraum: zum ersten Male klapperten hier die Lettern der Linotype in Deinen Räumen, und mit der modernen Satzherstellung und der Einführung moderner Druckmaschinen bewiesest Du Deine Geneigtheit, stets die neuesten technischen Errungenschaften auszuwerten und für Deine Leser nutzbar zu machen.
Die Stunden im Kontor des alten Freundes meines Vaters Paul Kühn gehören zu den schönsten Stunden meiner Kindheit und Jugend. Von den Fenstern des Hauses Liegnitzer Straße blickt man hinaus auf den alten Park um das alte Lübener Stadtschloß. Wenn wir damals auch noch keinen rechten Begriff davon hatten, daß Lüben einst eine Herzogstadt war und sich in dem alten Schloßgebäude die Reste der alten Burg verbargen, so war doch der Blick vom "Lübener Stadtblatt" aus auf den verwilderten alten Park mit dem Rest des Wallgrabens für uns schon damals von einer instinktiv empfundenen Romantik umwittert.
Nach dem letzten Umbau. Interessant ist auch ein Vergleich mit dem ersten kleinen Gebäude.
Zum alten Ehepaar Kühn gingen wir, um unsere Zeugnisse zu zeigen - und immer harrten unser ein Büchlein oder ein Bildchen als Aufmunterung -, hier führten wir unsere neue Armbrust mit Stahlbügel vor, die, wenn ich nicht irre, Meister Giersch am alten Kirchturm für uns für das Lübener Kinderfest kunstvoll gefertigt hatte, und unsere kühnen Träume gingen dahin, im "Lübener Stadtblatt" als König oder Nebenkönig im Adlerschießen beim Lübener Kinderfest namentlich genannt zu werden. Wir wurden dann später auch namentlich genannt; denn das "Lübener Stadtblatt" nahm allezeit getreulich an der Entwicklung der Lübener Stadtkinder Anteil und verzeichnete fein säuberlich all die großen und kleinen Ereignisse vom Eintritt in die Schule als ABC-Schützen bis zum Eintritt in das Berufsleben.
In den Schulferien führte uns Kinder der tägliche Spaziergang rund um die Stadt auf der Promenade stets am "Lübener Stadtblatt" vorüber. Allerdings blieben wir nicht so oft, wie es vielleicht heute geschieht, am Schaufenster des Verlages Paul Kühn stehen; denn damals gab es noch keinen Aushang der neuesten Ereignisse im Schaufenster. Um so größeren Eindruck machten auf uns die Extrablätter des "Lübener Stadtblattes", mit denen es vom Heimgange des greisen Reichsgründers, des Fürsten Bismarck, am 30. 7. 1898 den Lübener Bürgern Kenntnis gab.
Georg Kühn, der inzwischen die Nachfolge seines Vaters übernommen hatte, war älter als meine Generation und wir betrachteten ihn mit unverhohlener Hochachtung, wenn er uns in der schmucken Uniform der Hirschberger Jäger als Einjährig-Freiwilliger begegnete. Georg Kühn hat es immer als seine Aufgabe angesehen, das sich regende örtliche junge Schrifttum zu fördern. Zwischen 1905 und 1910 erschien so mancher Aufsatz aus der Feder eines jungen Lübener Studenten in der Heimatzeitung. Georg Kühn förderte darin alle Gebiete, vornehmlich aber schon früh und bewußt die Heimatkunde.
So erschien 1908 eine Aufsatzreihe im "Lübener Stadtblatt": "Aus Lübens Vergangenheit", die dann auch als Büchlein herauskam. Auf knappem Raum wurden hier Bräuche und Sitten der alten Lübener Schützengilde dargestellt, wie sie in einer vom Bäckermeister und Ratsherrn Paul Holländer mir zur Verfügung gestellten alten Handschrift aufgezeichnet waren. Ihr Titel lautete: "Dieses Buch verehrt zum Gedächtnis einer Lübener Schützen-Bruderschaft (von) H. Gottfried Feige, Bürger, Buchbinder vnd Schützenfendrich. AO 1675."
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Ansichtskarten mit den Eigenbezeichnungen des Verlags Paul Kühn. Danke Tomasz Mastalski! |
Bei solch freundlicher Einstellung Georg Kühns und seines Verlages zur Heimatkunde war es kein Wunder, daß er im Jahre 1924 die Beiträge zur Geschichte der Stadt Lüben von Pastor Konrad Klose als Buch herausbrachte, eine noch heute wertvolle und ausgezeichnete Heimatgeschichte, wie sie wenigstens damals nicht viele schlesische Städte besessen haben mochten. Ihr Erscheinen war umso bedeutungsvoller, als man damals noch nicht, wie heute, den Sinn für heimatkundliche Forschung hatte.
Das "Lübener Stadtblatt" ist auf diesem Wege immer erfolgreich fortgeschritten. Es hat dann durch Schaffung der "Heimatkundlichen Beilage" einen neuen großen Schritt zur Förderung des heimatkundlichen Interesses tun dürfen. Die Durchführung des Gedankens verdankte es seinem klugen und vielseitig gebildeten Hauptschriftleiter Max-Arthur Sommerschuh. Der Gedankenaustausch mit ihm gehört zu den anregendsten Stunden, die ich bei gelegentlicher Einkehr in die alte Heimatstadt im alten laubengeschmückten "Grünen Baum" verleben durfte. Diese Förderung der Heimatkunde hat dem "Lübener Stadtblatt" schon frühzeitig eine besondere Note gegeben, und jedesmal, wenn die "Heimatkundliche Beilage" mit den Aufsätzen aus der Feder von Dr. Treblin erscheint, greift man mit ganz besonderem Interesse nach der alten Heimatzeitung.
Ich bin mir völlig bewußt, daß ich mit diesen Zeilen nichts Besonderes niedergeschrieben habe. Es sind Erinnerungen, die vielleicht bei den Älteren in der alten Heimatstadt vertrautere Töne anklingen lassen werden. Aber es sind ja zugleich Erinnerungen an Kindheit und Jugend, die einem umso teurer werden, je älter man wird. Die stete Berührung mit Dir, liebes "Lübener Stadtblatt", hält die Erinnerung auch der Lübener Kinder in der Ferne an die Heimat wach. Wir gedenken Deiner täglich, wenn wir Dich in die Hand nehmen. Mögest Du diese verdienstvolle Aufgabe, Mittler zwischen drinnen und draußen zu sein, noch lange erfüllen mit derselben Hingabe und demselben Erfolge, der Dir in dem ersten Jahrhundert Deines Bestehens beschieden war.
Das wünschen Dir alle alten Lübener durch
Dr. Erwin Anders, Oberschulrat, Berlin-Friedenau