Zeitdokument 1943
Lebenslauf der Gertrud geb. Kirchner aus dem Jahr 1943
1943 schreibt H. Meier an ihre Tochter














Dieser Lebenslauf war offenbar die Anlage zu einer Bewerbung beim Postamt Lüben im Jahr 1943. Das Dokument wurde - wie eine Vielzahl von Postdokumenten - kürzlich bei einer online-Auktion angeboten. Verfasst wurde er von Gertrud geb. Kirchner. Die Kirchners hatten ein Textil-geschäft nahe dem Hotel Grüner Baum, Ring Nr. 16. Gertrud ist auf verschiedenen Fotos zu sehen: Kindergarten 1904,   Konfirmation 1917, Höhere Töchterschule.

Was mich an dem Lebenslauf fasziniert, ist die erkennbare Distanz zum NS-System. Gertrud erwähnt als ihre einzige Mitgliedschaft in einer NS-Organisation das Deutsche Frauenwerk, in das 1933 bis dahin selbstständige Frauenvereine eingegliedert worden waren, und sie erklärt ihre fehlende Aktivität dort mit Überlastung. Sie deutet, wenn auch sehr zurückhaltend, den Kampf gegen die Stilllegung des Kirchner-Geschäfts an. So erfahren wir nicht, auf wessen Betreiben und warum der Laden geschlossen wurde. Vermutlich war dies eine "Stilllegung aus kriegswichtigen Gründen". Was sich in ihrem Fall dahinter verbarg, könnten nur die Kirchners berichten. Unbekannt ist auch, was aus dem Laden wurde. Auf allen mir bekannten Ansichten vom Ring Nr. 16 ist noch die Aufschrift "Emilie Kirchner" zu sehen.

Sehr aufschlussreich ist auch Gertruds Begründung für ihre Bewerbung bei der Post! "So muss ich mich..., weil ich im einsatzfähigen Alter bin, für kriegswichtige Betriebe zur Verfügung stellen." Das zeugt von keinerlei Begeisterung und könnte sogar zu einer Ablehnung geführt haben. Zur hier erkennbaren Distanz zum NS-System passt auch, dass Vater Emil Kirchner bei den letzten demokratischen Wahlen im Kreis Lüben am 3.3.1933 nicht für eine politische Partei, sondern über den Wahlvorschlag Nr. 14 für die Vereinigung Hausbesitz Kreis Lüben kandidierte.
Kurze Zeit später gab es nur noch eine Partei.

Es gibt keine Informationen, ob Gertrud Kirchner die letzten beiden Jahre bei der Post arbeitete. Bekannt ist jedoch, dass sie nach dem Krieg noch einmal heiratete. Wenn Nachkommen Interesse an dem Lebenslauf haben, schreiben Sie mir einfach (siehe Gästebuch).

Lebenslauf der Gertrud geb. Kirchner aus dem Jahr 1943

Lebenslauf

Ich, Gertrud Tscharntke geborene Kirchner wurde am 21.5.1903 als Tochter des Kaufmanns Emil Kirchner und dessen Ehefrau Wilhelmine geborene Fuchs in Lüben geboren.
Von 1909 bis 1913 besuchte ich die Volksschule und von 1913 bis 1917 die Höhere Töchterschule in Lüben. Nach der Schulentlassung bis zu meiner Eheschließung im Jahr 1922 war ich im Weiß- und Wollwaren-Geschäft meiner Eltern tätig. Im Jahr 1932 kehrte ich mit meiner sechsjährigen Tochter als schuldlos1 geschiedene Frau des Kaufmanns Martin Tscharntke2 in mein Elternhaus zurück.
Ich war wieder im elterlichen Geschäft tätig und wurde 1938 Mitinhaberin der Firma. Ab 1937 bin ich Mitglied im Deutschen Frauenwerk - durch Personalmangel in der Firma

1 Damals wurden Ehen nach Feststellung des "Schuldigen" geschieden. Seit 1976 gilt in der Bundesrepublik das Zerrüttungsprinzip, in der DDR seit 1955.
2 Martin Tscharntke hatte laut Adressbuch von 1929 einen Kolonialwarenladen in der Steinauer Str. 28
und Krankheit in der Familie konnte ich mich bisher nicht ehrenamtlich im Deutschen Frauenwerk betätigen. Seit 1939 nach dem Tode meines Vaters bin ich für Einkauf und Kalkulation allein verantwortlich. Am 8. April 1943 wurde unser Geschäft durch die Stilllegungsaktion geschlossen. Es wurde zwar Einspruch erhoben, sollte wieder geöffnet werden, so muss ich mich dennoch, weil ich im einsatzfähigen Alter bin, für kriegswichtige Betriebe zur Verfügung stellen.
Ich bewerbe mich jetzt als Aushilfsangestellte bei der Deutschen Reichspost für das Postamt Lüben.

A. Ang. [?]

Alter: 40 Jahre (gesch.)
Schule: Höhere Töchterschule
BDM
NSF/DFW: 1937
RAD
Pflichtjahr