Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Mobilmachung der Gemeinden. Bd. 1: 1933 bis 1937. Rainer Bookhagen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1998
... Daß der Einbruch auch an anderer Stelle begann, wird aus einem Schreiben Mohrmanns an Schirmacher vom 23. November 1934 ersichtlich. Sie teilte mit, daß in Dresden die Fachgruppe der Kindergärtnerinnen eine Landestagung durchgeführt habe. Auf ihr habe sich die ebenfalls eingeladene Kreisamtsleitung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt/NSV dahingehend geäußert, daß alle Kindergärten ... von der NSV übernommen werden. Damit seien alle Personalfragen sofort gelöst. Denn die NSV frage zuerst nach der nationalsozialistischen Einstellung, um das Diplom irgendeiner Schule brauche man sich nicht zu kümmern. Da der NSV ohnehin bald alle Kindergärten zufielen, könne man nach Belieben entlassen und einstellen. "Sie können sich denken", so Mohrmann abschließend an Schirmacher, "daß diese Äußerung große Beunruhigung unter den Kindergärtnerinnen ausgelöst hat. Wie soll weiter verfahren werden?"
Der Central-Ausschuss für Innere Mission [seit 1957 Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland] berichtete am 1. Dezember der Reichsleitung der NSV diesen Vorfall und stellte fest, daß solche "Äußerungen geeignet sind, die Zusammenarbeit außerordentlich schwierig zu gestalten." Man wäre "dankbar, wenn Gau- und Kreisleiter eindringlich darauf hingewiesen würden, daß die Zusammenarbeit auch örtlich auf derselben Linie und derselben Basis erfolgen muß, wie sie für die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände maßgebend ist."
Aber es geschah weiterhin, daß Einrichtungen entgegen allen Verfügungen der Deutschen Evangelischen Kirche/DEK freiwillig an die NSV übergeben wurden.
Rechtsträger eines Kindergartens im schlesischen Lüben war nicht die evangelische Kirchengemeinde selbst, sondern ein Verein. Ihm sei es "unter den heutigen Verhältnissen, wo Sammlungen mit Rücksicht auf das Winterhilfswerk verboten sind, nicht mehr möglich, den Betrieb geldlich aufrechtzuerhalten." Die NSV sei angewiesen worden, "Kindergarten und Hort hier einzurichten und trat wegen Räumen mit uns in Verbindung." Da in einer kleinen Stadt wie Lüben zwei Kindergärten "unmöglich" wären, außerdem "Kirche und NSV nicht gegeneinander, sondern Hand in Hand miteinander" arbeiteten, "begrüßen wir es freudig, wenn Staat und Volk ihre Aufgaben erkennen und kraftvoll in die Hand nehmen. Für Kirche und Innere Mission bleiben noch Gebiete zur Betätigung genug. Wir wissen die Arbeit bei der NSV in guten Händen."*
So urteilte am 22. November 1934 Oskar Treutler, Superintendent in Lüben aus dem Kreise der Deutschen Christen... [deren Ziel die "Germanisierung des Christentums" war! Heidi].
Der Schlesische Provinzialverein für Innere Mission war der "Meinung, daß wir da nicht lau sein dürfen und einen Fall durchgehen lassen; dann erleben wir es bestimmt, daß sich immer mehr Fälle zeigen, in denen eine Änderung der Verbandszugehörigkeit geschieht." Er teilte das am 24. November 1934 dem Central-Ausschuss für Innere Mission mit.
* Schreiben Kindergarten- und Hortverein Lüben an Schlesischen Provinzialverein für Innere Mission vom 22.11.1934,
Quelle: Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin, Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, 2319/29 Schlesien I
Der evangelische Kindergarten Lüben wurde also schon 1934/35 ohne jeden Widerstand von kirchlicher Seite an die NSV übergeben und die Erziehung der Kinder auf den NS-Staat eingeschworen. Dafür wurde ein neuer Kindergarten an anderer Stelle in der Stadt geschaffen. Ließ das die Leute begeistert zustimmen? Was war es, was die Zustimmung zum Nationalsozialimus so groß und das eigene Gewissen so schwach werden ließen? Wie ich in Zusammenhang mit diesem Buch verstärkt erfuhr, ist die Evangelische Kirche mit ihrer Vergangenheit hart ins Gericht gegangen. Leider haben die Lübener es versäumt, ähnlich kritisch die zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches in Lüben aufzuarbeiten.