Elfriede Müller-Wagner
Gemeinde Ossig














Viel zu spät begann ich mich für das Leben meiner Mutter vor meiner Zeit zu interessieren. Aber wie ich in den Lebensgeschichten auf lueben-damals.de lese, bin ich damit wohl kein Einzelfall. Fast alle schreiben, dass sie wenig bis gar nichts über die Zeit in Schlesien erfahren haben. Die Geflüchteten und Vertriebenen haben ihr Trauma durch Schweigen zu bewältigen versucht und wir Nachgeborenen haben keine Fragen gestellt. Wir lebten in einer anderen Zeit und an anderen Orten. Um so glücklicher bin ich darüber, auf dieser Website einiges zu erfahren.

Auf einem Schulfoto erkannte ich zu meiner Überraschung meine Mutter und auf dem Foto des Kirchenchors Ossig ist vermutlich ihre Tante Frieda Kleinert abgebildet. Ich vermute das, weil die Mutter meiner Mutter eine Berta geb. Kleinert aus Ossig war. Sie wurde 1885 in Bielwiese geboren und heiratete den 1887 in Dittersbach geborenen Gustav Müller. Er wird in seinem 1905 ausgestellten Militärpass anfangs als Knecht, zuletzt als Chausseewärter geführt. Als 18jähriger hatte er sich zu einem dreijährigen freiwilligen Militärdienst verpflichtet. Zuletzt war er Unteroffizier des Ulanenregiments Nr. 10 in der 3. Eskadron in Lüben.

Erst im Nachlass meiner Mutter fand ich einige Fotos aus der Zeit in Ossig. Im Entsetzen über die bevorstehende Flucht im Januar 1945 griff sie sich nur einige wenige Fotos. Man kann sich vorstellen, mit welchem Herzeleid und in welcher Hoffnungslosigkeit. Das wenige möchte ich hier zeigen, um das Andenken an meine Vorfahren zu bewahren.

Das älteste Foto im Nachlass ist ein Schulbild aus Ossig. Leider hat meine Mutter die Namen ihrer Mitschüler nicht vermerkt. Aber sie selbst erkenne ich sofort. Sie ist das Mädchen mit dem Kurzhaarschnitt, das so jungenhaft ausschaut. Die Namen der beiden Lehrer konnten wir nur aus dem Vergleich mit anderen Schulbildern ableiten. Es sind Kantor Hermann Brendel und Lehrer Artur Blümel.

In den 1930ern verliebte sich meine Mutter in einen Flieger der Luftwaffe. Es ist anzunehmen, dass er auf dem Flugplatz Lüben stationiert war oder dort einen Lehrgang absolvierte. Weder sein Name noch sein Todestag sind überliefert. Seine Maschine wurde abgeschossen... Also war schon Krieg! Wie sehr ihn meine Mutter geliebt hat, beweisen die Fotos von seiner militärischen Beisetzung in Lüben, die sie bis zu ihrem Tod aufbewahrt hat.

Beisetzung des abgeschossenen Fliegers in Lüben. Tischlermeister Ernst Eigert hatte die zweifelhafte Ehre, den im Weltkrieg ums Leben gekommenen Soldaten die Särge zu zimmern und sie zu ihrer letzten Ruhestätte zu bringen. Eine Ehrenkompanie junger Flieger mag ihre Begeisterung für Führer und Krieg ein paar Augenblicke lang vergessen haben.
Wie viele von ihnen mögen überlebt haben?

Mit dem Tod ihres Verlobten endete das traurige Schicksal meiner Mutter aber noch längst nicht. Zusammen mit ihrer fast sechzigjährigen Mutter musste sie im eisigen Januar 1945 zu Fuß mit einem Handwagen ihre Heimat verlassen. Ich möchte in diesem Herbst 2019 einmal nach dem polnischen Ossig (heute Osiek) fahren und ihrer gedenken. Ich weiß nicht einmal, wo sie dort gewohnt hat. Auf dem Dorfplan von Ossig ist zwar eine Familie Müller eingetragen, aber ob das die Familie meiner Mutter war, weiß ich nicht. Finde ich hier noch einen alten Ossiger, der mir etwas sagen kann?
Hans-Joachim Wagner, Februar 2019