Fast unüberschaubar ist die Vielzahl seiner Veröffentlichungen, in denen neben religiöser Erbauung seine Erinnerungen an die schlesische Heimat, besonders Lüben, und seine Weltreisen festgehalten sind. In Internet-Antiquariaten sind sie alle erhältlich.
Pastor Irmlers Witwe, Frau Margarete Irmler (1922-2009), hatte mir erlaubt, die von Rudolf Irmler selbst vorgetragene Geschichte vom Schlesischen Zahnziehen auch als Hör-Datei zu veröffentlichen! Ein großes Dankeschön auch an den Heimleiter des Diakonischen Seniorenzentrum Haus Lehmgruben in Marktheidenfeld, Herrn Gräßel, der mir uneigennützig viel Material von und über Pastor Irmler und seine Gattin zur Verfügung gestellt hat.
Rudolf Irmler: Das schlesische Zahnziehen
Wenn Sie die Geschichte von Rudolf Irmler selbst erzählt hören wollen, klicken Sie auf das Notensymbol.
1945 bis 1947 in Schlesien, jenseits der Oder und Neiße. Es war eine schwere Zeit. Keine Obrigkeit, die für uns zurückgebliebene Deutsche eintrat, kein Arzt war zur Stelle, um einen Blinddarm zu operieren, und auch kein Zahnarzt war in dem weiten Gebiet der beiden Kirchenkreise Lüben und Steinau zu finden, den ich als Superintendent zu betreuen hatte.
Bei meinen Gottesdiensten saßen manche, von Zahnschmerzen geplagt, und baten mich schließlich, helfen Sie uns. Eine Frau meinte sogar: "Sie sind doch ein studierter Mann, Sie müssen doch Zähne ziehen können!"
In einer Mechanikerwerkstatt versuchte ich meine Kunst an einem Russen, der einen wackligen Vorderzahn hatte. Das geschah mit einer Kombizange. Es ging gut!
Und so besorgte mir die tapfere Diakonisse Schwester Helene aus Steinau eines Tages aus der verlassenen Praxis eines Zahnarztes zwei Zangen für Backen- und Vorderzähne, und eine Wurzelzange, die ich glücklicherweise nicht oft brauchte.
Nach einer Konfirmandenstunde kommt auch schon der erste Patient.
"Herr Pastor, können Sie mir nicht den Backenzahn ziehen, ich halt's vor Schmerzen nimmer aus."
Ich schaue mir den Zahn an, ein stark entwickeltes Exemplar!
"Ja, Junge, du bist das erste Opfer, dem ich einen Backenzahn ziehe. Ist dir nicht bange?"
Dem Burschen ist alles egal, Hauptsache, der Zahn geht heraus.
Also setze ich die Zange an und ziehe und ziehe und zerre den Jungen mitsamt dem Stuhl durch die Stube.
Der schreit jämmerlich: "Hilfe! Hilfe! Hilfe!" Mir steht der Schweiß auf der Stirn. Da fällt mir plötzlich ein, daß mir der alte Tierarzt aus Lüben, der noch zurückgeblieben war, den guten Rat gab, den Zahn in seiner Achse ein wenig zu drehen. So ähnlich steht es auch bei Wilhelm Busch! Das tue ich nun!
Der Zahn löst sich und der Junge atmet auf. Damit hatte ich meine Gesellenprüfung als Zahnarzt bestanden.
Nun ging das Zahnziehen immer besser. In zwei Jahren bekommt man eine gewisse Erfahrung und Technik. Überall sprach es sich herum: Unser Pastor kann Zähneziehen! Natürlich alles ohne Betäubung und Medikamente. Die Zahnzangen führte ich immer bei mir. Bei gefährlichen Situationen wie Verhaftungen, Durchsuchungen ließ ich sie tief in meiner Hosentasche verschwinden und habe sie immer gerettet. Vor allem brauchte ich sie nach den Gottesdiensten in meinen 20 Gemeinden. Dabei kündigte ich nach der Predigt an: "Nach dem Gottesdienst ist in der Sakristei Gelegenheit zum Zähneziehen!"
Immer meldeten sich dann Patienten.
Vor allem in Köben an der Oder, der Stadt des Kirchenliederdichters Johann Heermann, wo die Leute aus der Glogauer und Wohlauer Gegend zum Gottesdienst kamen. Ich ließ aber immer nur einen in die Sakristei kommen. Die Gemeindeschwester redete als Sprechstundenhilfe beruhigend zu.
Die drei Zangen, Wasserglas, Eimer und Rasiermesser - zum Lösen des Zahnfleisches - das war meine ganze Ausrüstung. Wurde einem Patienten übel, legten wir ihn auf eine Kirchenbank, bis er wieder zu sich kam.
Auch Polen und Russen hörten von diesem klerikalen Zahnziehen und stellten sich in den Sakristeien ein. Doch von ihnen verlangte ich ein Kilogramm Fleisch pro Zahn als Bezahlung, mußten doch unsere Altersheimbewohner nur von Kartoffelsuppe und Brot leben. Wie freuten sich die alten Menschen, wenn ich ihnen dann Fleisch brachte, und sagten beim Abschied: "Ach, ziehen Sie doch bitte recht viele Zähne, damit wieder etwas Fleisch in unsere Suppe kommt!"
Dem polnischen Bürgermeister von Steinau zog ich die Zähne des ganzen Oberkiefers.
"Hast du dir auch ausgerechnet, wie viel Fleisch das ausmacht?"
"Ja, ich denke, ein halbes Schweinchen!"
"Gut, bring es ins Altersheim!"
Alle Zähne wurden ihm gezogen und sein Rheuma verließ ihn. Das Schweinchen hatte er seinem Nachbarn gestohlen. Man sagte damals dazu zappzarapp.
Bisweilen wurde ich auf offener Straße angehalten, um an Ort und Stelle die Extraktion vorzunehmen. Frühjahr 1947, unweit Thiemendorf, ein herrlicher Sonntagmorgen, die Glocken läuten schon zu meinem Gottesdienst.
Springen doch da zwei Polenfrauen aus ihrem Haus, halten mein Fahrrad fest und schon sitzt die eine auf dem Kilometerstein, sperrt ihren Mund auf, während sie mich mit gefalteten Händen bittet, sich ihrer zu erbarmen. So hole ich die Zange und befreie sie von ihrem bösen Zahn. Und auch ihre Tochter! Beide küssen mir die Hände, kommen aber dann nach dem Gottesdienst mit ihren Fleischpaketen.
In Zedlitz wurde es einmal gefährlich. Am Ende des Dorfes wohnte die polnische Großmutter mit dem kranken Zahn. Ich werde nach dem Gottesdienst von den Polen zu ihr geführt. Ich schaue mir den Zahn der alten Frau an und fühle ihren Puls.
"Nein", sage ich energisch, "ohne Betäubung kann ich der alten Frau den Zahn nicht ziehen. Das ist viel zu gefährlich!"
"Ziehen! Ziehen! Ziehen!", schreit die Alte. "Ich will sonst nicht mehr leben!"
"Und wenn sie dabei stirbt?", sage ich.
"Alles egal, dann sterben!", sagen die Angehörigen.
Gut. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich ziehe den Zahn.
Doch was ist mit der Großmutter?! Sie sinkt auf ihrem Stuhl in sich zusammen und als wir sie auf das Sofa gelegt hatten, spüre ich keinen Puls. Was soll jetzt werden? Da kommt mir ein rettender Gedanke! Ich gehe in die Küche und hol einen Topf mit kaltem Wasser und gieße ihr das Wasser übers Gesicht.
Da schlägt sie ihre Augen auf und fragt: "Ist der Zahn schon raus?"
Es ist auch vorgekommen, daß ich einen falschen Zahn erwischte, während der Übeltäter daneben steckte. So zog ich einem Russen einen gesunden Augenzahn.
Am nächsten Tag kommt er mit seinem Revolver: "Du hast falschen Zahn gezogen! Ich schieß dich tot!"
Ich besehe mir den Schaden und stelle fest, der nächste ist dran. Auch den ziehe ich. Ganz stolz bittet er mich später, ich solle ihm nun zwei goldene Zähne einsetzen. Er wollte doch schon so lange einmal Goldzähne besitzen.
Doch das konnte ich nicht!
Auch manche Wunde hat mein Zahnziehen geheilt. In den russischen Kolchosen, in denen unsere Deutschen arbeiten mußten, ist mir jeder Gottesdienst verboten worden. Doch wir kamen alle 14 Tage heimlich zusammen in einer Stube oder Küche. Am Abend feierten wir in der schon bekannten Küche Konfirmation.
Es waren mutige Menschen, die sich da trafen. Alles ging gut vorbei. Nach dem Vaterunser und Segen trennte man sich und ging einzeln nach Hause, damit nichts auffiel.
Doch Nikolai, der russische Kommandant, hatte alles am nächsten Morgen erfahren. Er raste auf die Straße vor Wut und ergriff einen alten Mann, den er in seinem dunklen Mantel für den Pastor hielt, schlug auf ihn ein und sperrte ihn in den berüchtigten Keller.
Viele Stunden saß der Alte dort, bis seine Tochter dem Kommandanten klarmachte, daß der Pastor ein ganz anderer, ein viel jüngerer sei.
Wieder bin ich in dieser Kolchose, um einer Sterbenden das Sakrament zu bringen. Da erschrecke ich. Nikolai steht in voller Größe an der Straße, nimmt mein Fahrrad weg, stellt es an den Baum und ruft: "Du mir helfen! Du mir helfen!"
Dabei zeigt er auf seine rechte Gesichtshälfte, setzt sich auf den Kilometerstein und öffnet seinen Mund.
Richtig! Ein böser Backenzahn! Bald ist der Übeltäter entfernt. Der Russe verzieht keine Miene.
Er lacht wie ein Kind und sagt: "Du mein Freund!", greift in die Tasche und zieht die Złoty-Scheine heraus.
"Nein! Du mein Freund! Du brauchst mir nichts zu zahlen! Ich will dafür die Erlaubnis zum Gottesdienst von dir!"
"Gottesdienst?! Nein! Nix Gott! Ich Atheist! Ich Kommunist!"
"Gut, du Kommunist. Deine Leute und ich aber Christen!"
"Dann gut, du ein Gottesdienst halten für ein Zahn, den du mir gezogen hast!"
"Ein Zahn - ein Gottesdienst? Nein! Dann viele Zähne für mehr Gottesdienste bei dir ziehen!" Der Kommandant lacht. "So viele Zähne hier oben - so viele Gottesdienste kannst du halten", sagt er.
Nun schicke ich Boten durch die Kolchose: "Heute abend könnt ihr alle kommen, ohne Angst! Einem Kommandanten ist ein Wunder geschehen!"
Am Abend sitzt die Gemeinde vollzählig in der Bauernküche.
Ganz vorn der Opa, der an meiner Stelle eingesperrt wurde, mit seinem verbundenen Arm.
Und die ganze Gemeinde singt "Lobe den Herrn, den mächtigen König der Erden".
Der Opa sagt zum Schluß: "Also habe ich doch nicht umsonst im Keller gesessen!"
Rudolf Irmler