Im Gesprenge standen in luftiger Höhe, von links nach rechts aufgezählt:
Christophorus, die
Heilige Hedwig (die Landesheilige),
Maria im Strahlenkranz, die
Heilige Helena und
Johannes der Täufer.
Dies war das thematisch reiche Schema, eigentlich nicht das eines Marienaltars, wie man nach dem Hauptthema im Schrein und dem Gesprenge glauben könnte. Marienaltäre enthalten zumeist die Szenen aus dem Leben Maria; hier aber handelt es sich geradezu um einen "Erbärmde-Altar". Das Leiden als solches ist dargestellt, das Leiden Jesu, in vier Szenen, und ergänzend dazu das Leiden der Mutter, die (wie bei Veit Stoß üblich) im Stehen stirbt. Im Altarfuß ist das Abendmahl zu sehen, hiermit den Altar wiederum als Objekt der Darstellung des Lebens Jesu ausweisend.
Kleinigkeiten sind verändert worden. Zunächst ist zu sagen, daß seine Aufstellung anders geworden ist. Er steht nicht mehr in der gewohnten Höhe auf dem Altartisch, sondern in etwas entrückender Höhe. Dadurch wirkt er zwar mehr in die Ferne, aber für eine Nahbetrachtung hat er an Wirkung verloren. Der Betrachter spürt nicht mehr, daß die Gestalten des Schreines unmittelbar auf ihn wirken; sie sprechen nicht mehr unmittelbar zu ihm - das tun die barocken Figuren auf dem Altartisch nun. Dann hat man dem Schrein in seinen wenig sichtbaren Außenseiten einen mildblauen Farbton gegeben - früher war er meines Wissens rotbraun. Schließlich hat man im Gesprenge oben die Gestalten des Christophorus und des Johannes ausgetauscht. Die neue Anordnung scheint die richtige zu sein - ihre Stellung und Körperhaltung lassen das vermuten. Sonst aber steht der Altar so da, wie wir ihn kannten, wie er 420 Jahre in Lüben stand. Nun haben ihn die Zeitumstände in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt - eine späte Würdigung! Sie beweist aber doch den künstlerischen Wert dieses Altarwerkes.
Theo Dames, 1965
Die Fotos der Heiligen hatte Pfarrer Irmler noch 1945 gemacht. Das Bild der Maria (in der Mitte) ging ihm verloren.
Der restaurierte Marientodaltar aus der Lübener Kirche heute im Dom zu Wrocław
2. Der Weihnachtsaltar
Der letzte deutsche Pfarrer und Superintendent von Lüben Rudolf Irmler berichtet über die Geschichte des Altars u. a. in seinem Büchlein "Das Jesuskind fliegt nach Breslau". Wer die von ihm selbst erzählte Geschichte hören möchte, kann bei dem Notensymbol die mp3-Datei herunterladen.
"Meine Heimatkirche in Lüben ist ein Dom-ähnlicher gotischer Bau aus dem 14. Jahrhundert. Zu seinen Besonderheiten gehörten drei berühmte Schnitzaltäre aus der Schule von Veit Stoß. Der älteste, ein Weihnachtsaltar, mit drei Tafeln aus dem Jahre 1483.
Als ich nun 1945 nach der abenteuerlichen Wanderung in meine Heimat zurückgekehrt war, führte mich mein Weg bald in meine alte Kirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde und später meine ersten Predigten hielt. Und ich sollte hier als letzter Pfarrer und Superintendent in ihr amtieren und bis 1947 die restlichen Deutschen der Kreise Lüben und Steinau ökomenisch versorgen.
Ach, wie sah die Kirche aus! Offen die Türen, zerschlagen die hohen Fenster, verunreinigt der Raum! Die Frauen unserer Gemeinde mussten vor dem ersten Gottesdienst die Kirche gründlich reinigen. Mein Blick ging sofort zu den Schnitzaltären. Sie befanden sich noch alle drei in der Kirche. Und bei dem Weihnachtsaltar fiel mir auf, an der dritten Tafel, wo die Mutter Maria das Jesuskind den drei Weisen zur Anbetung reicht, klafft eine große Lücke. Das Jesuskind fehlt! Ich fragte unsere Gemeindeglieder, wo das Kind geblieben war. "Zappzerapp!", sagte man damals. Durchziehende Soldaten hatten es gewiss aus den Händen der Maria geschlagen. Und dann verschwand es.
Ich durchsuchte die ganze Kirche. Umsonst. Nach Wochen endlich fand ich es im Schutthaufen in einer Ecke. Ein kleines kunstvolles Figürchen mit roten Bäckchen. Und die abgeschlagenen Hände der Maria umfassten es noch. Ich nahm das Jesuskind an mich, um es später in den Altar wieder einzufügen. Doch dazu kam es nicht. Denn plötzlich waren alle drei Altäre spurlos verschwunden. Der polnische Bürgermeister sagte immer nur Wszystko jedno - Alles egal. Den Wert der Altäre kannte er nicht.
So blieb das Jesuskind bei mir. Ich hütete es zwei Jahre lang, solange ich im polnisch besetzten Gebiet meinen weit ausgedehnten Dienst tun musste und brachte es im Sommer durch alle Kontrollen über die Neiße-Grenze, als wir alle ausgewiesen wurden. Ich nahm es mit nach Waldheim in Sachsen, wo ich fünf Jahre als Gefängnispfarrer arbeitete. Das Jesuskind tröstete uns mit seinem fröhlichen Gesichtchen in mancher leidvollen Situation der damaligen schweren Zeit, wenn Angehörige der Gefangenen zu mir kamen, um Hilfe zu erbitten. Saßen doch so viele politische Gefangene in Bautzen, Waldheim, Leipzig und Zwickau.
Und dann reiste es 1953 mit mir nach dem Westen, wohin ich wieder fliehen musste und kam schließlich nach Marktheidenfeld zum Mutterhaus der Lehmgrubener Schwestern, die aus Breslau stammten. Hier lag es in meinem Glasschrank neben der berühmten Backenzahnzange, mit der ich in Schlesien in schwerer Zeit bei so vielen Deutschen, Polen und Russen die Zähne ziehen musste, weil damals kein Zahnarzt zur Stelle war. Manchem Gast erzählte ich die Geschichte meines fünfhundertjährigen Jesuskindes aus Lüben.
Siebenundzwanzig Jahre waren schließlich vergangen, seit ich es im Schutthaufen fand. Da ereignete sich eines Tages etwas Überraschendes. Die Abbildung des berühmten Veit-Stoß-Altars erschien in einer westdeutschen Zeitschrift und gelangte auch nach Breslau. Dort stellte man fest, der Weihnachtsaltar befindet sich im Breslauer Museum. Doch ohne das Jesuskind! Man erfuhr dort, dass ich die ergänzende Figur besitze. Das Kernstück des Kunstwerkes! In einem Brief des polnischen Museum-Direktors kam zum Ausdruck, wie sehr man sich freuen würde, wenn das Jesuskind in den Altar eingefügt werden könnte. Das Kunstwerk sollte doch wieder vollständig den vielen Besuchern des Museums gezeigt werden. Und das in einem kommunistisch regierten Lande! Was sollte ich tun?!
Ich fragte meine Mutterhaus-Schwestern. Die sagten: "Das Jesuskind gehört doch zur Mutter Maria!" Ich musste ihnen recht geben. Die kleine Figur hatte für mich ja nur einen Erinnerungswert! Was sollte später einmal mit ihr geschehen? Also das Kind wird nach Breslau gebracht! Aber wie? Natürlich nur mit dem Flugzeug über Warschau, damit es nicht bei weiteren Grenzkontrollen Schwierigkeiten gibt. Schließlich erhielt ich das polnische Visum. Ach, was gab es noch für Schwierigkeiten! Streik der Fluglotsen. Ein Autounfall. Und eine kirchliche Stelle aus Berlin meinte, ich dürfe das Kind ohne eine kirchenbehördliche Erlaubnis nicht nach Breslau bringen. Erst müsse in einer Sitzung darüber beschlossen werden. Doch das kam alles zu spät. Ich musste ohne die Entscheidung der Berliner Stelle reisen, fand aber bei meiner Heimkehr einen Brief vor mit der Nachricht: Wir geben die Genehmigung zur Aushändigung des Stückes an das Breslauer Museum, was gewiss schon geschehen ist.
Zunächst kam aber die Abschiedsstunde mit dem Jesuskind in unserer Johanneskapelle. In Gegenwart unserer Schwestern und Gäste. Ich erzählte die Geschichte der kleinen Figur und dann wanderte das Jesuskind durch die Bankreihen, von Hand zu Hand. Manche streichelten es. Und eine Schwester drückte es an ihr Herz. Es war ein bewegender Abschied. Dann legte es eine Schwester zum Schluss auf unseren Altar und die Gemeinde sang das schlesische Lied, das mein Freund Josef Wittig so liebte "Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden, Gottes und Marien Sohn, dich will ich lieben, dich will ich ehren, du meiner Seele Freund und Kron."
Der Flug nach der alten Heimat, den ich mit meiner Frau auf eigene Kosten unternahm, ging schnell. In einigen Stunden landeten wir in Breslau, der Stadt, die ich nun nach siebenundzwanzig Jahren wiedersah. Auf dem kleinen Flughafen wurden wir abgeholt und in das Hotel "Monopol" gebracht. Am nächsten Tag saß ich im "Muzeum Narodowe we Wroclawiu" mit der Museumsleitung am Runden Tisch, wo wir über die aus den zerstörten Kirchen Schlesiens geretteten Altäre und Skulpturen sprachen. Man fuhr nach 1945 mit Lastwagen durch das Land, um alles Wertvolle zu sammeln, zu ordnen und notfalls zu restaurieren. "Sehen Sie sich das große Museum nachher an! Es ist noch längst nicht alles ausgestellt, was wir fanden!" Und dann packte ich das Jesuskind aus meiner Aktentasche und legte es in die Mitte des Tisches. Niemand sprach zunächst ein Wort. Das Figürchen mit den abgehackten Händen der Maria redete durch seien Gegenwart. Alle schauten es sichtlich ergriffen an.
"Sehen Sie! Ich habe das Kind damals vor siebenundzwanzig Jahren gerettet und Sie haben die Altäre meiner Lübener Kirche in Sicherheit gebracht. Ich wusste es nicht. Doch nun kommen beide zusammen: das Kind und der gerettete Altar!" - " Ein wunderbares Zusammentreffen!", sagte der Direktor leise. - "Ja, ein kleines Stücklein Versöhnung zwischen uns Menschen und unseren Völkern auf dem Boden der Kunst und des Glaubens. Denn das Jesuskind kam zur Versöhnung auf die Welt, zwischen Gott und Mensch!", so antwortete ich. "Wenn es doch immer so wäre!", meinte eine der Damen am Runden Tisch. Für die Mitarbeiter des Museums war das auch ein besonderer Augenblick.
Nun stehen wir im ersten Stock des Museums. "Dort hängt der Altarflügel, auf den Sie schon so lange gewartet haben", sagte eine unserer Begleiterinnen. Wirklich! Da ist nun der gestohlen geglaubte wertvolle Altar. Maria mit den drei Weisen aus dem Morgenlande, die ins Leere schauen, weil das Kind fehlt. So nehme ich mein Jesuskind und setze es sogleich ein. Ganz genau passt es in die Lücke, bis auf den Millimeter genau. Es sitzt auch gleich so fest, dass ich es nicht mehr heraus bekomme. Mutter Maria wollte es nicht mehr hergeben.
Aber nun geschah etwas, das alle bezeugen können, die dabei waren. Das ganze Bild fing an zu strahlen. Warum wohl?! Niemand konnte es erklären. Gewiss, weil nun der Mittelpunkt des Altars wieder vorhanden war, auf den der Künstler die anderen Gestalten ausgerichtet hatte. Christus - die Mitte! Lange standen wir vor dem leuchtenden Altarschrein. Einer meiner Begleiter sagte mir leise ins Ohr: "Jetzt wird es mir wieder leichter, an Jesus zu glauben!"
Manchmal vermisse ich das Jesuskind noch. Aber es wurde für mich das Gleichnis einer weihnachtlichen Heimkehr. Angelus Silesius singt in seinem "Lied vom Morgenstern": Deines Glanzes Herrlichkeit übertrifft die Sonne weit, Du allein, Jesu mein, bist, was tausend Sonnen sein."
Rudolf Irmler
Im folgenden die Abbildungen dieses Altars aus einem Katalog des Nationalmuseums Wrocław (Breslau), wo sich zwei der Altarfragmente heute befinden. Eine Tafel wurde als Leihgabe dem Schlesischen Piasten-Museum Brzeg (Brieg) überlassen. Links die Apostel Peter mit Buch und Paul mit Schlüssel, in der Mitte die Krippe mit dem Jesuskind und rechts die Anbetung des Jesuskindes durch die drei Weisen aus dem Morgenland. Von dieser Tafel erzählt Rudolf Irmler.
|