Erinnerungen von Arnold Weidner (1922-2009) - Teil 2
Teil 1 der Erinnerungen
















Teil 2 - Was in Altstadt so alles passierte

Luftbild Lüben-Altstadt

Angetrunkene Schweine

Die Schweine eines Bauern kränkelten schon einige Zeit, ehe der Tierarzt Dr. Macharski geholt wurde. Dieser wollte die Kartoffeln sehen, die zur Winterszeit verfüttert wurden, und erklärte dem verdutzten Bauern: Sie haben Alkohol verfüttert, denn viele der Kartoffeln sind angefroren. Deren Stärke wird durch den Frost zu Zucker, und beim Dämpfen wird ein Teil des Zuckers zu Alkohol. Das wurde aber mit einiger Skepsis zur Kenntnis genommen. Ein Tier erholte sich nicht mehr und mußte geschlachtet werden. Bei der Fleischbeschau sagte Dr. Macharski: Da sehen sie her: Saufleber und Schrumpfniere. Weil der gute Tierarzt einen edlen Tropfen nicht verschmähte, sagte der Bauer zu ihm: "Ja, da ist es beim Menschen wohl genauso?" Da wehrte dieser erschrocken ab: "Da habe ich zuviel gesagt." Dies erzählte der Bauer dem anderen Tierarzt Dr. Carl Reiske. Dieser, auch kein Kostverächter, nahm es gelassen: "Der erzählt Ihnen Märchen." Beide Veterinäre waren wegen ihres Könnens geachtet und beliebt.

Die Onkel Sonnenschein-Geschichte

Sie stand ohne Namensnennung der Beteiligten im Lübener Stadtblatt und rief bei den Lesern vergnügliches Schmunzeln hervor. Denn Schadenfreude war schon damals ohne eigene Kosten zu haben, ob sie auch die reinste Freude ist, sei dahingestellt. Jeder in Lüben sowie im Kreis wußte von der "Anstalt", wie die Landes-Heil- und Pflegeanstalt kurz genannt wurde. Einige Insassen hatten den Dauerauftrag, Lebensmittel mit einem von ihnen gezogenen Bollerwagen aus Lüben in die Anstalt zu bringen. Unter ihnen war ein besonders mitteilungsbedürftiger Mann, der unentwegt seine Leidensgeschichte erzählte. Seine gierigen Verwandten hätten ihn ohne Grund nach Lüben bringen lassen, weil sie sein Erbe unter sich aufteilen wollen. Jedem, der ihn aus der mißlichen Lage heraushelfen würde, versprach er 1.000 Reichsmark, eine für die damalige Zeit hohe Summe, drei Monatsgehälter für einen mittleren Beamten, der Verdienst eines Arbeiters in fünf bis sechs Monaten.

Er hatte eines Tages doch Erfolg. Ein Bauer aus dem Kreis glaubte ihm mehr als den Ärzten, die erklärten, das sei eben seine Krankheit, eine Erbschaft gäbe es nicht. Erst als der Bauer eine Haftung für alle entstehenden Schäden unterschrieben hatte, durfte er seinen Schützling mit zu sich nehmen. Dieser wurde bald zum gerngesehenen Gast, denn er war liebenswürdig, unterhaltsam und vor allem sehr spendabel. Er konnte zwar keine Runde Bier ausgeben und Bares war bei ihm nicht zu holen, aber er versprach großzügig von seinem ihm vorenthaltenen Erbe nicht nur jedem Helfer, sondern auch vielen freundlichen Menschen im Dorf glatte tausend Reichsmark. Weil er so viel Licht in die Herzen und Häuser brachte, erhielt er auch den passenden Namen "Onkel Sonnenschein". Und wer es wollte, konnte sich neuerdings einen Likör Marke "Onkel Sonnenschein" im Gasthof genehmigen. Weniger scherzhaft war die Absicht des Retters vom Onkel Sonnenschein, einen Anbau zu seinem Wohnhaus zu starten, denn er ließ einen Obstbaum, der dem im Wege stand, schon mal fällen. Doch nun wurde es Zeit, das Erbe des Wohltäters flüssig zu machen. Er wurde, ordentlich eingekleidet und mit ausreichend Bargeld ausgestattet, zur Reise nach Berlin in den Zug gesetzt. Irgendwo muß er durch sein Verhalten aufgefallen sein, denn er wurde in der nächstgelegenen Heilanstalt untergebracht. Er ließ nicht nur viele arg enttäuschte Menschen zurück, sondern auch seinen dem Spott ausgesetzten Gönner. Die Aussicht Geld, sehr viel Geld, mühelos in kurzer Zeit zu erhalten, hat schon so manchen sonst vorsichtigen Menschen die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen. (Diese Geschichte hat Arnold Weidner auch in Mundart aufgeschrieben.)

Der Aprilscherz mit den Schwänen

Im Bürgermeistergarten in Lüben, er hatte 1933 einen "aktuelleren" Namen erhalten, schwammen recht beschaulich einige Enten, die eine behäbige Bewegung in die den Lübenern vertraute Idylle brachten. Einigen Lübenern genügte der bescheidene Aufwand nicht mehr und man diskutierte mögliche Verbesserungen. Schneeweiße Schwäne wären dort viel passender. Dieser Gedankengang war der Tenor einer recht erfreulichen Zeitungsmeldung im Lübener Stadtblatt, die ich mit Interesse las. Die Idee mit den Schwänen leuchtete mir schon ein, aber daß die Kapelle des Lübener Reiterregiments sie mit Musik, also mit militärischen Ehren vom Bahnhof in den zum Park avancierten Bürgermeistergarten eskortieren würden und auch die Lübener sich dazu einfinden sollten, war mir zu dick aufgetragen. Nach einer Erklärung dafür suchend fiel mein Blick auf das Datum, es war Samstag, der 31. März 1934, und am Sonntag also der 1. April! Eine ganz seltene Gelegenheit für alle Leichtgläubigen, die einen ganzen Sonntag lang Zeit haben würden, auf einen Aprilscherz hereinzufallen, und für humorvolle Redakteure, einen solchen zu starten.

Für mich traf es sich gut, daß Schreiber-Kurt mal eben bei uns hereinschaute. Er war ein richtiges Schlitzohr, aber hier verließ ihn alle Pfiffigkeit. Ich konnte ihn dazu bereden, die Schwäne und die Militärkapelle zu begutachten. Weil ich mit der Arbeit noch nicht fertig war, versprach ich, mit dem Fahrrad später nachzukommen, ich wollte mich auch beeilen. Es war schon alles abgesprochen. Da kam mein Bruder Johannes herein und machte dem Kurt klar, daß er drauf und dran wäre, auf mich, den kleinen Kerl, ich war immerhin 15 Jahre jünger, auf einen billigen Aprilscherz hereinzufallen. Als er es begriffen hatte, daß er sich beinahe gründlich blamiert hätte, drohte er mir eine gehörige Tracht Prügel an. Meinem Vater, der für ein gütliches Auskommen mit den Nachbarn schon manchen Tort ertragen hatte, ging dies aber entschieden zu weit, und er ließ den verdutzten Kurt wissen, das wäre dann ein Fall für die Polizei. Für eine geraume Zeit haben der Kurt und ich uns gegenseitig gemieden, bis sein Zorn verraucht war.

Mein Bruder Martin (1913-1942)

Das Lübener Tageblatt hatte mit seinem Hauptschriftleiter Max Arthur Sommerschuh zugleich einen humorvollen Reimeschmied mit einer flüssigen Schreibe, der auch jeden Monat den Lesern seine "Gereimten Zeitbilder" präsentierte. Mein Bruder Martin hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und beschrieb gern, mit einem Sinn für Situationskomik, ein Versehen, ein Malheur oder eine grad entstandene mißliche Lage mit einem passenden Zitat. Wenn jemand, ohne es zu wollen, etwas ver(un)schönert hatte, hieß es getreu den gereimten Zeitbildern "Ein Wunder geschah in der Lichtung, der Brombeerstrauch wurde zum Zeitungstand von jeder Farbe und Richtung".

Einem Mann, der in Heimarbeit Spanschachteln herstellte, rieten seine Freunde, er solle mehr Geld pro Stück verlangen, denn er setze bei jeder Schachtel bloß zu. Das weiß ich schon lange, meinte dieser treuherzig, aber ihr müßt bedenken "die Masse bringt's". Das war auch der Kommentar von Martin, wenn etwas zu Bruch ging oder ein Minus zu verzeichnen war: ja, ja, die Masse bringt's! Aber auch wir jüngeren Brüder profitierten davon, denn jedesmal wenn wir gebadet wurden, hieß es hinterher: na, da schimmert ja wieder die Grundfarbe durch, womit das Bad für alle Beteiligten doch noch ein tröstliches Resultat hatte.

Manchmal forderte Martin zu einem Wettrennen von der Futterkammer bis zur Haustür auf, und wenn er zuerst da war, ertönte es: "Ich bin halt wieder Erster hier, wie man es gewohnt von mir". Es soll Leute geben, die den Spruch auch kennen.

Wenn wir nach Klaptau oder Kniegnitz eingeladen waren, mußte immer jemand zu Haus bleiben, um das Vieh zu versorgen und auf alles aufzupassen. Einmal waren Martin und ich an der Reihe, und Martin überließ es mir, den Kaffee und den obligaten Pudding zu kochen. Da ich möglichst viel Pudding haben wollte, es war der sehr begehrte Schokoladenpudding mit Vanillesoße, habe ich den Pudding mit Milch zu dickem Kakao gestreckt. So kam es, daß als die Eltern mit den Brüdern wieder zurück waren, noch eine Menge Kakao da war und Konrad Ansprüche anmeldete. Wenn wir sie nicht befriedigen wollten, sollten wir - Martin und ich - keinen mitgebrachten Kuchen oder Torte bekommen. Ich weiß nicht mehr, wie es tatsächlich ausgegangen ist, aber es wird zu einem Kompromiß gekommen sein, wir erhielten den Kuchen und Konrad den Pudding.

Martin hat viel für uns jüngere Brüder getan. Einmal baute er uns einen Drachen, ein ander Mal ein massives Holzflugzeug mit drei Propellern. Hinter der Scheune stand ein Nußbaum. Da hat Martin um einem hohen Ast eine lange Kette geschlungen und fertig war eine prima Schaukel für uns. Das Dame- und Mühlespiel hat er uns beigebracht.

Wenn mit einem großen Dreschsatz, der mit einer Dampfmaschine angetrieben wurde, bei einem Bauern Getreide gedroschen wurde, wurden immer mehr Arbeitskräfte gebraucht, als im jeweiligen Hof vorhanden waren. Daher war es üblich, daß sich die Bauern gegenseitig halfen. So half auch Martin beim Bauern Paul Hoffmann mit, und Konrad und ich waren mitgegangen. Der Sohn des Bauern wollte sich einen Spaß machen, nahm den Konrad, hob ihn an den Beinen in die Luft und schwenkte ihn über drei Meter über der betonierten Tenne hin und her, wobei Konrad laut schrie. Martin verlangte sofort im festen Ton, er solle seinen Bruder wieder auf das Stroh zurücktragen und ihn in Ruhe lassen. Weil Martin wesentlich stärker war, tat dieser das auch. Aber womit der Übeltäter nicht gerechnet hatte, denn Martin war sehr zurückhaltend, das geschah jetzt. Auch zu meiner Überraschung wurde der "Spaßvogel" gründlich verdroschen, und Martin war einer der stärksten jungen Männer im Dorf. Die ganze Sache hätte ja auch mit einem Unglück enden können.

Aus Kindertagen

Die Backtage waren für uns Kinder immer ein Ereignis. In den Back-und Waschtagen und am Schlachttag stand der ganze Haushalt kopf, da gingen alle Uhren anders. Zum Kummer meiner Mutter stand das Ungetüm eines eisernen Backofen mitsamt dem Kartoffeldämpfer nicht in einem von der Mutter gewünschten separaten Anbau, sondern im Hausflur. Die Fahrräder wurden hinausgetragen, denn der ganze Flur wurde ein wahres Schlachtfeld. Der Backofen mußte zuerst mit Reisig, später mit einen Meter langen Holzscheiten beheizt werden und war erst zum Backen fertig, wenn die Auskleidung mit Schamotte zuerst dunkel und wieder hell geworden war. Dann erst wurden die beiden Fächer fein säuberlich ausgefegt. Das war Sache meines Vaters.

Meiner Mutter oblag es, den Brotteig und vor Feiertagen die nötige Portion Kuchenteig einzuteigen, und die Zutaten wie Streusel, Mohn und Quark fertigzumachen. Das Brot wurde immer zuerst gebacken, und jeder Laib Brot wurde, ehe er in den Ofen kam, mit Wasser bestrichen und kam sofort nach dem Backen in das Gewölbe, den Vorratsraum für alle Backwaren, für Zucker und Mehl, außerdem stand dort auch die Buttermaschine. Wenn geschlachtet wurde, wurden das Fett und die Würste zum Auskühlen hineingebracht. Es war, unter uns gesagt, ein Paradies für Naschkatzen.

Davon handelt ein nächtliches Abenteuer mit für die zwei Akteure recht unterschiedlichen Folgen. Es war kurz vor Weihnachten. Konrad und ich lagen in den Betten in der Oberstube und konnten keinen Schlaf finden, denn im Gewölbe befand sich das Ziel unserer Sehnsüchte, die vielen frisch gebackenen Streusel-, Mohn- und Quarkkuchen. Wir hatten Hunger, die Eltern hätten es mit "Glist", einem für uns unzumutbaren Vergleich, abgetan. Als alles ruhig war, schlichen wir uns eine Treppe tiefer in das Gewölbe und beratschlagten uns. Wir wollten Kuchen essen, aber zugleich keinem etwas wegessen, aber wie? Wir fanden die Lösung: die Randstreifen, die immer zuletzt gegessen wurden, weil bei denen kaum Streusel oder Mohn darauf lagen. Als wir nach getaner Arbeit wieder in den Betten lagen, meldete sich beim Konrad der Magen, er rebellierte gegen die stark gekühlte Kost, und dadurch wurde unser nächtliches Unternehmen schon am frühen Morgen allen bekannt. Trotz allen Mitgefühls erfuhr der Konrad: Wer den Schaden hat, ...!

Weil unsere Mutter viel auf den Feldern mitgeholfen hat, erhielten wir "drei Kleinen", wenn es nötig war, den Auftrag, mit Johannes das Geschirr abzuwaschen. Aber da gab es Meinungsverschiedenheiten, denn wir Kleinen hofften auf tätige Mithilfe am Spülbecken. Johannes wollte die Gemeinsamkeit auf Belehrung und generelle Regieanweisungen begrenzt wissen, für die profane Tätigkeit des Abwaschens sei nicht einmal seine Anwesenheit, geschweige seine Mithilfe nötig, außerdem habe er zu lernen, während wir nur unsere Zeit mit nutzlosen Spielereien vertrödelten. Ab und zu kam er herunter, um zu sehen, ob wir unseren Auftrag auch ordnungsgemäß ausführten.

Unsere Begeisterung für diese Küchenarbeit hielt sich deshalb in Grenzen, und wir suchten Abhilfe. Weglaufen war fast unmöglich, denn über der Haustür befand sich eine Glocke an einer breiten Blattfeder, und einmal angestoßen, bimmelte sie laut und anhaltend. Aber mit vereinten Kräften schafften wir es doch, die Haustür leise zu öffnen, die Glocke festzuhalten und die Haustür wieder leise zu schließen. Gemeinsam mit dem Gertig Helmut hoben wir den Brühtrog, der nur beim Schweineschlachten gebraucht wurde, auf den kleinen Handwagen und strebten dem nahen Teich zu, wir wollten Kahn fahren. Leider konnten wir den Handwagen nicht so geräuschlos, wie wir es gehofft hatten, über das Kopfsteinpflaster ziehen, und wir hörten Johannes die Treppe hinunter rennen. Das war das Zeichen zur Flucht in Richtung Teich mitsamt dem Handwagen. Kurz vor der steilen Böschung wollte Johannes uns fangen, wir ließen alle den Handwagen und den Brühtrog los und rannten in den Teich. Der Handwagen rollte die Böschung hinab, kippte um, und unser "Kahn" schwamm zu unserer Freude im Wasser, und wir konnten Johannes aus sicherer Entfernung fröhlich zuwinken, denn wir waren barfuß und hatten kurze Hosen an, während Johannes mit Schuhen und Strümpfen nicht so schnell in das trübe Wasser gehen konnte. Leider blieb das der einzige geglückte "Ausflug".

Aber es war nicht die einzige "Kahnfahrt", es gab schon eine ganze Reihe "legaler" Fahrten: andere Kinder zogen Bretter in den Teich, es gab auch Seeschlachten mit Holzäpfeln als Wurfgeschossen kurz, es war nie langweilig auf dem Teich. In dem schmutzigen Wasser konnten wir nicht baden, aber bei genügend Frost war der Teich eine herrliche Schlittschuhbahn und oft rappelvoll mit Kinder und Jugendlichen. Manch einer versuchte Figuren oder rückwärts zu fahren. Auch Wettkämpfe im Weitsprung gab es.

Wenn der Pächter des Teiches, Herr Laux, Eis für seinen Kühlraum haben wollte, ließ er große Stücke Eis heraussägen. Dann wurde die Eisfläche nicht nur kleiner - wir mußten auch mehr aufpassen, um nicht in das Wasser zu fallen.

Vor den drei großen Dürrejahren von 1932 bis 1934 gab es Karpfen, und zum Fischen wurde der größte Teil des Wassers abgelassen und ein Netz durch den schlammigen Teich gezogen. Die gefangenen Fische kamen in große Tonnen, und viele Fische wurden an Ort und Stelle verkauft. Später hat Herr Laux die Karpfenzucht aufgegeben, aber weil der Teich auch Feuerlöschteich war, mußte in Abständen der Schlamm heraus geholt werden. Im Jahr 1938 wurde er bei einem Brand nach Blitzschlag gebraucht. Er hatte aber nicht soviel Wasser, wie nötig war, und die Feuerwehr mußte eine lange Leitung bis zum nächsten Hydranten legen. Die Wasserleitung war nur bis zum Gehöft des Bauern Karl Hoffman in Altstadt gelegt worden.

Eine weitere Attraktion des Altstädter "Vergnügungsparks" war unbestritten der Kirchberg. Da gab es die kleine und große Rodelbahn, die beide in Richtung zum Gehöft des ehemaligen Bauern Fengler führten, und wenn man Glück hatte, kam man bis in den Hofraum hinein. Abgefahren wurde dabei von der "großen" oder der "kleinen" Bahn. Während die große Bahn steil war und nahe am Fengler-Gut entlang führte, wurde bei der kleinen Bahn rechts und links von dem großen Tor der Friedhofsmauer abgefahren. Sie wurde von den kleineren Kindern und ängstlichen Gemütern bevorzugt. An der sehr steilen Böschung zur Straße bis zum alten Feuerwehrhäuschen wurde auch abgefahren, aber wegen der vielen Pferdefuhrwerke und Lastwagen, die zur Zuckerrübenzeit vorbeikamen, konnte sie nur zeitweise befahren werden, und gut aufpassen war immer geboten. Schließlich gab es eine weitere Bahn, es war der Weg zur kleinen Kirchentür ziemlich lang und ideal für Schlitten und Schneeschuhe. Da tummelten sich auch Lübener Kinder.

Als Kuriosität noch dies: zwei Söhne des Bauern Fengler haben es wirklich ausprobiert und einen Pferdeschlitten, einen Kutschschlitten, die große Bahn hinauf gezogen und bei der rasanten Abfahrt ging der Schlitten an einem Zaun zu Bruch, Totalschaden, und die Altstädter hatten einen neuen Gesprächsstoff.

Baden und Schwimmen

Eines fehlte uns: eine Gelegenheit zum Baden. Die Lübener Badeanstalt war von Altstadt doch relativ weit, und außerdem mußte man Eintritt bezahlen. Da war die Militärbadeanstalt nahe der Sperlingsmühle und den Wirtschaftsgebäuden der Heil- und Pflegeanstalt für mich schon günstiger. Zum einen kamen wir an ihr vorbei, wenn wir zum "Oberauer" Feld fuhren, da konnte ich auf dem Nachhauseweg kurz hineinspringen, und was sehr wichtig war, dieser Luxus kostete kein Geld. Es stand zwar ein Schild vor der Badeanstalt: Baden verboten! Aber kein Soldat hat nur einen Badelustigen vertrieben. Heute weiß ich natürlich die Erklärung für die große Duldsamkeit. Jeder Soldat der ganzen Garnison hatte ein Interesse daran, auch mal mit Zivilisten zusammen zu kommen, besonders wenn diese jung waren und Röcke trugen. Nur wenn eine Kompanie geschlossen zum Baden kam, mußten wir aus dem Wasser, durften aber zusehen. Allein das Zusehen hat mich als Nichtschwimmer bewogen, koste was es wolle, das Schwimmen zu lernen. Vorausschicken muß ich, es war die Zeit des 100.000-Mann-Heeres. Wegen der großen Not, 6,5 Millionen Arbeitslose, hatten sich viele jungen Männer zu 12 Jahren Dienstzeit verpflichtet. Der Drill war sehr hart, die Aufstiegschancen gleich null, aber jeder wollte oder mußte durchhalten, und so waren sie gezwungen, jede Ungerechtigkeit und Demütigung widerspruchslos zu ertragen, denn es gab keine Alternativen.

Militärbadeanstalt

Da habe ich so manche Schikanen an Untergebenen gesehen. Da wurden Nichtschwimmer auf das Drei-Meter-Brett geschickt. Sie sollten auf Kommando hinunterspringen, und kurz vor Sprungbrettende saß ein Vorgesetzter, über den sie hinwegsteigen mußten. Dieser sagte dem Soldaten, bei Kommando drei müsse er springen, aber bei Kommando zwei riß er ihm die Beine weg. Einmal wurde die Kompanie in die Gruppen Schwimmer, Nichtschwimmer und Rettungsschwimmer eingeteilt. Jedem Rettungsschwimmer wurden einige Nichtschwimmer zugeteilt, und auf ein Kommando mußten alle Nichtschwimmer in das tiefe Wasser springen und wurden von oben aufgefordert, nicht alles Wasser zu schlucken, die anderen würden ja auch noch schwimmen lernen wollen.

Als dann ausgerechnet zu meinem Geburtstag am 16. 3. 1935 die allgemeine Wehrpflicht verkündet wurde, war es für mich beschlossene Sache: Auf in die Militärbadeanstalt Schwimmen lernen. Von unten sieht ein Dreimeterbrett überhaupt nicht hoch aus, aber wenn man das erste Mal da oben steht, sieht man in einen Abgrund voller Wasser. Später bin ich gern gesprungen, aber nur einmal vom Fünfmeter-Brett. Meine Mutter sah mich nicht gern dorthin gehen, weil ein junger Mann aus Altstadt ertrunken war und das kam so: Einige Jahre zuvor waren einige junge Burschen um die Wette zu dem im Wald liegenden und kühlen Exner-Teich gefahren, um zu baden. Die nach ihm Gekommenen haben den Ersten nur noch in den Teich springen sehen. Da er völlig durchgeschwitzt war und sich nicht abgekühlt hatte, erlag er einem Herzschlag. Er war der Sohn eines Flickschusters in Altstadt und das einzige Kind seiner Eltern. Ich konnte die Angst meiner Mutter verstehen, und ich habe versprochen, vorsichtig zu sein, was auch angebracht war. Denn zwischen den ersten Häusern, die einige hundert Meter entfernt waren, und der Badeanstalt standen hohe Bäume. Kein Mensch konnte vom Badebetrieb etwas hören, und manchmal war ich der einzige Schwimmer. Ausgerechnet in den Sommerferien hatte ich einmal die Masern und lag in der abgedunkelten guten Stube, und da klopfte der freundliche Schreiber-Kurt an das Fenster und fragte ganz fürsorglich: Ich gehe jetzt baden, willst du mitkommen? Ich hätte den Kerl verprügeln können.

In meinen letzten Sommerferien im Jahre 1935 war ich besonders beschäftigt, denn ich stand allein zur Verfügung. Mein Bruder Konrad war zu dem Glogauer Onkel Karl Görlich in die Ferien geschickt worden, und unsere Cousine Christa aus Kniegnitz war der zweite Feriengast bei Görlichs. Die Tante Martha und Tante Ida Benedix, die Stiefschwestern meines Vaters, hatten nach Glogau geheiratet, Onkel Görlich besaß bis Ende des ersten Weltkrieges eine größere Landwirtschaft. Aber weil seine Frau, er selbst war Soldat, durch einen Unfall an der Dreschmaschine ums Leben kam, war ihm die Landwirtschaft verleidet. Er verkaufte sie und betrieb eine Kohlenhandlung und einen Bierverlag und stellte in einem überraschend kleinen Raum seinen Bedarf an Limonade selbst her. Wenn wir bei Görlichs waren, also bei Onkel Karl und Tante Martha, wurden wir vom Onkel sofort gefragt, was wir am liebsten zu trinken haben wollten: die grüne, gelbe oder rote Limonade. Die recht unbefangenen und für meine Mutter sehr weitgehenden Wünsche waren ihr nicht recht. Aber der Onkel hat uns immer reichlich versorgt. In Anspielung auf seinen Kohlen-, Limonaden- und Bierhandel pflegte er scherzhaft zu sagen: für mich ist es gut, wenn der Sommer heiß und der Winter recht kalt ist. Sein Sohn hat uns Kinder einmal solange in halsbrecherischer Weise auf einem kleinen Dreiradlieferwagen im Hofraum herumgefahren, bis der Onkel die Extravorstellung mit einem Machtwort beendete.