Erinnerungen von Arnold Weidner (1922-2009) - Teil 4
Teil 1 der Erinnerungen
















Teil 4 - Lübener Originale

Wachtmeister Springer

Er war sehr bekannt und wohnte an der Kotzenauer Straße in einem kleinem Haus mit Walmdach und war ein Landgendarm, also für den Landkreis zuständig. Die Rede ist vom Wachtmeister Springer, dem Mann mit dem wehenden Schnurrbart, wie es in einem Nachruf in der Zeitung stand. Ein langer Säbel war das Zeichen seiner Würde, und er fuhr mit dem Dienstfahrrad in die Dörfer, aber früher war er zu Pferde. Meist mußte er irgendwelche behördliche Anordnungen mündlich oder schriftlich den Grundstückseigentümern oder Bauern überbringen. Einmal mußte er zu uns, und er mußte seinen Degen ziehen um sich vor unserem angriffslustigen Gänserich zu schützen, der keinen Respekt vor der Polizei kannte. In der Hofeinfahrt vom Gänserich gebührend empfangen, trieb Wachtmeister Springer das rabiate Federvieh mit der flachen Klinge bis zur Haustür vor sich her, rettete sich im Rückwärtsgang in den Hausflur und stellte mit seiner tiefen Stimme in unserer Küche fest: "Das ist ja polizeiwidrig!" Er nahm es mit Humor und war ganz gewiß an solche Angriffe bäuerlicher Haustiere gewohnt.

Major von Willisen

Die von Willisen waren uralter Adel, sogar reichsunmittelbar, er unterstand früher nur dem Kaiser, worauf Herr von Willisen trotz seiner sehr bescheidenen finanziellen Verhältnisse nicht wenig stolz war. Er hob es gern hervor, er sei ein Major von Kaisers Gnaden, während der Major Schneider nur ein Major von Eberts Gnaden sei. Dabei wußten doch viele Leute daß er sich im ersten Weltkriege nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Sein Adel brachte es mit sich, daß er in Lüben zur Gesellschaft gehörte, trotz seiner geringen Majorspension, die er als aktiver Offizier erhielt. Er betrieb etwas Landwirtschaft mit seinem Pferd, das er eben nicht so gut herausfüttern konnte, wie es viele Bauern mit ihren kraftstrotzenden Kutschpferden gerne taten - ihre Ackergäule wurden wesentlich kürzer gehalten. "Das Pferd, das sich den Hafer verdient, bekommt ihn nicht", diese sprichwörtliche Erkenntnis der Bauern illustriert den Sachverhalt in aller Kürze.

Wie sein Pferd hatte von Willisen keinen Speck auf den Rippen, beide erinnerten an den Ritter von der traurigen Gestalt. Aber er besaß einen unverwüstlichen Humor ohne Rücksicht auf seine vornehmen Lübener Bekannten. Vor seinem Haus war eine Klärgrube, die er eigenhändig leerte, und er erzählte meinem Vater, welchen Spaß er sich ausgedacht habe. An einem Mittwoch am Nachmittag, als seine Bekannten bei trockenem Wetter in Richtung Altstadt lustwandelten, habe er den Inhalt der Klärgrube in ein Jauchefaß geschöpft. Die Spaziergänger hätten ihn erst sehen können, als sie ihm nicht mehr ausweichen konnten. Dabei wären sie doch am liebsten ohne Gruß vorbeigeschlichen. "So oft wie an diesem Tage habe ich noch niemals meinen Hut gezogen", mit diesen Worten beendete Herr von Willisen höchst amüsiert den Bericht von seinem Streich.

Familie Willisen dankt für Neujahrswünsche 1919

Fam. Willisen dankt für Neujahrswünsche 1919.
Die Vorderseite zeigt ihr Haus Kotzenauer Str. 19

Das Vogelschießen

Neben dem Jahrmarkt und den kleinen regelmäßig auftauchenden Wanderzirkussen war das Vogelgelschießen, das vom Schützenverein am Schützenplatz neben dem Turnplatz durchgeführt wurde, von Interesse für Jung und Alt. An der Turnhalle der evangelischen Volksschule vorbei sah man zur linken Hand die Gaststätte, das Schießhaus mit einem geräumigen Gartenlokal, dessen großer Saal das zweite Kino in Lüben, das Capitol war. Eine mit hohen Bäumen gesäumte Straße führte zum nahen Krankenhaus. Rechts neben dem Capitol wurde die kurze Schützenstraße zu einem kleinen Platz, dem Schützenplatz, der durch hohe Bäume vom Turnplatz getrennt war. Dort standen der große umlegbare Holzmast und das Spannhäuschen, in dem jeder Schütze seine Armbrust zum Schuß spannen konnte.

Diese Armbrüste waren durchaus kein Spielzeug, denn die Pfeile, zirka 35 cm lang und zwei cm dick und vorn mit einer schweren Eisenspitze versehen, konnten von dem zwei cm dicken Holz des in 3 bis 4 Meter Höhe auf dem Mast thronenden Vogels große Stücke Holz herausbrechen. Deshalb war der Turnplatz während des Vogelschießen gesperrt, und nur auf ein Signal hin konnten in einer Schießpause die in 50 bis 100 Meter Entfernung heruntergefallenen Pfeile wieder aufgesammelt werden. Aber wenn nur noch kleine Stücke vom Vogel oben am Mast zu sehen waren, wurde das Holz angesägt, denn man wollte ja vor der Dunkelheit den Schützenkönig huldigen können. Zweierlei ist mir damals aufgefallen. Gegen Ende des Vogelschießens haben wenig begüterte Schützen offensichtlich daneben geschossen, denn der Schützenkönig mußte in der Lage sein, sich vielen durstigen Männern und Frauen ziemlich unbegrenzt freigebig zu erweisen. Mir fiel auch auf, daß Offiziere oder Feldwebel, mit einer Schützenschnur verziert, wenn sie beim Vogelschießen den Vogel so selten trafen, darüber sichtlich verärgert waren. Ja, eine Armbrust ist eben kein modernes Gewehr mit einer genauen Zieleinrichtung. Es braucht Zeit, bis man sich auf einer bestimmten Armbrust eingeschossen hat.

Der Jahrmarkt

Der Jahrmarkt fand auf dem Ring rund um das Rathaus statt und war Anziehungspunkt für Jung und Alt. Für die Kinder gab es Bauernbissen, das war sehr dick gebackener und lockerer Pfefferkuchen, die allzeit beliebte Zuckerwatte und viele Sorten Süßigkeiten. Stoffe und Spitzendeckchen, die neuesten technischen Errungenschaften für den Haushalt, Nützliches und Krims-Krams. So mancher unentwegte Ausrufer hat die Nerven der zwangsläufig zuhörenden Geschäftsinhaber am Markt arg strapaziert. Ein Geschäftsmann, vor dessen Geschäft so ein Prachtexemplar dieser Zunft seinen Stand hatte, erzählte meinem Vater seine Leidensgeschichte. Den ganzen Tag habe er von den freundlichen Mann vor seiner Tür den kurzen aber einprägsamen Satz hören müssen: "Lecke, lecke, lecke, hier ist die süße Ecke, wer einmal dran geleckt hat, der weiß wie es geschmeckt hat, lecke lecke..." Was wäre gewesen, wenn dieser Mann ein Megaphon gehabt hätte?

Bauern unter sich

Von Altstadt bis zur Molkerei war es nur ein Katzensprung, und deshalb konnte der Milchtransport für die Bauern in Altstadt nur ein geringer Nebenerwerb sein. Unser Nachbar Scholz, der kleinste Bauer, hatte die Aufgabe übernommen. Nun gab es Diskussionen über die Höhe der Bezahlung, und deshalb war eine Bauernversammlung fällig. Der Karl Scholz bekam bisher einen halben Pfennig für den Liter, und das war für einige zuviel Geld. Dem Milchfahrer wurden nun drei Achtel Pfennig pro Liter angeboten, was ihm aber zu wenig war. Jetzt wurde eifrig gerechnet, und unser "Ortsbauernführer" - was oder wen er führte, war im Dorf nicht bekannt - wollte mitrechnen, wurde aber vom Bauern Hoffmann-Karl, einem ehemaligen Geschäftsmann, zurechtgewiesen: "Ernstel, laß das, du kannst das doch nicht". Und eben der Hoffmann-Karl hatte eine glorreiche Idee. Es sollte ein dreiviertel Pfennig abgezogen werden, der Scholz-Karl bekommt ein Fixum und am Ende des Jahres wird für alle Bauern vom Überschuß ein Fest gefeiert. Da waren alle einverstanden und die Freude war groß. Wie sagt der Lateiner: Panem et Circenses !

Die Hühner und das Mäusegift

Eine nie versiegende Quelle für Ärger und Streitigkeiten auch zwischen sich gut verstehenden Nachbarn ist und bleibt das liebe Federvieh. Nicht das Krähen eines munteren Gockels am frühen Morgen kann die Beziehungen stören, denn der eigene Hahn kräht mindestens genauso laut und ausdauernd, es sind die stetigen Ausflüge der Eierlieferanten. Auf die Bitte, man möge die ganze Bagage doch gefälligst bei sich fressen lassen, hört der Geschädigte mal faule Ausreden wie: "Was, das sollen unsere Hühner gewesen sein, die sperren wir doch ein!" oder ein beruhigendes: "Die paar Körner...", ja was soll und kann man da tun?

Als sich wieder einmal die Hühner vom Nachbarn Schreiber schon einige Tage in unserem Weizenfeld gütlich getan hatten, beschloß ich eine Radikalkur. Mit einer Dose mit vergifteten Weizenkörnern bewaffnet, die eigentlich gegen eine Mäuseplage gedacht waren, klopfte ich an niedrige Fenster bei Schreibers. Ich sagte der alten Frau Schreiber, wir hätten viele Mäuse hier und ich legte Gift aus, sie möge doch ihre Hühner einsperren, es wäre doch schade, wenn eine Henne das Gift fressen würde. Kurze Zeit später hörte ich es rufen: "Put, put, put..." und es dauerte nicht lange, da waren alle Hühner verschwunden und ich ging einige Zeit später zufrieden nach Hause. Aber meine Freude dauerte nicht lange, denn mein Vater erzählte dem Kurt Schreiber, ich hätte gar kein Gift gelegt. Schon am selben Tag waren die Hühner wieder auf unserem Feld. Da habe ich es abgelehnt, noch einmal die Hühner von unserem Feld zu vertreiben.

Wieviel Platz brauchen eigentlich Gänse?

Da wir am Dorfausgang wohnten und unsere Felder zu beiden Seiten der Straße lagen, wurden sie zur Erntezeit von den Gänsen einiger Bauern als ihr Weideland angesehen. So passierte es mehrmals, daß auch am Sonntag, wenn wir am Mittagstisch saßen, gleich mehrere Gänseherden auf der Straße an unserem Haus vorbei zu unseren Feldern strebten. In schöner Regelmäßigkeit bat mein Vater gerne: "Jage doch einer die Gänse wieder weg". Mit dem "Einen" war ich gemeint und das hat mich sehr gestört. Eines Tages habe ich einfach alle Gänse in den schmalen Gang des Schweinestalles eingesperrt. Am Abend vermißten die Bauersfrauen ihre Gänse und schickten ein Dienstmädchen auf die Suche. Weil ich unbedingt wollte, daß die Bauersfrauen selbst kommen, habe ich den Mädchen nur gesagt, sie müßten eben weiter woanders suchen. Schließlich kamen meine gewünschten Gesprächspartnerinnen. Als ich die Tür zum Schweinestall öffnete, fielen die guten Frauen fast in Ohnmacht. Nun ja, viel Bewegungsfreiheit hatten die Tiere wirklich nicht, der ganze Gang nichts als Gänse. "Die haben ja den ganzen Tag nichts zu fressen gehabt", jammerten sie. "Die sehen ja noch gut aus, sind ja noch nicht verhungert", habe ich die Frauen getröstet. Schweren Herzens sind sie mit den Gänsen abgezogen, aber ich brauchte keine Gänse mehr zu vertreiben, sie haben überraschend woanders - sicher zu Haus - ihr Futter gefunden.

Herr Moltrecht und sein Rittergut in Großkrichen

Herr Moltrecht, Besitzer des 665 Hektar (gleich 2.660 Morgen) großen Rittergutes in Großkrichen, war nicht nur als einer der der größten Landwirte im Kreise Lüben bekannt, er galt auch als besonders tüchtiger Landwirt. Die kräftigen Pferde- und Ochsengespanne haben wir in Altstadt selten und nur von Weitem gesehen, und die große Schafherde niemals. Aber die schweren Raupenschlepper, die die großen Ackergeräte zogen, und die großen Dampfpflüge, deren Pfeifsignale weit zu hören waren, werde ich nicht vergessen. An den beiden Enden des Feldes stand so ein Ungetüm. Mit Hilfe eines starken Drahtseiles, das über die Seiltrommeln der beiden Maschinen lief, wurde ein riesiger Pflug abwechselnd hin- und hergezogen. Wenn der Pflug an einer Dampfmaschine angekommen war, wurde der Maschinist auf der anderen Maschine durch einen Pfeifton aufgefordert, seinerseits mit seiner Maschine den Pflug wieder zu sich zu ziehen. Die Zugkraft war so groß, daß sich das Seil bei unebenen Boden bis zu 40-50 Zentimeter in den Boden eingrub.

In den zwanziger Jahren wurden die Landarbeiter aufgefordert zu streiken, und mein Vater erzählte uns, daß er durch Zuruf von der Straße her aufgefordert wurde, auch zu streiken. Er solle ja nicht so dämlich sein, für seinen Ausbeuter zu arbeiten. Der Ausbeuter bin ich selber, erhielt der Mann zur Antwort und verschwand ziemlich plötzlich.

Als qualifizierte und gut bezahlte Fachkraft hatte Herr Raffel als Oberschweizer eine gut bezahlte Stellung mit Gewinnbeteiligung auf Lebenszeit bei Herrn Moltrecht inne. Aus Solidarität mit den weniger gut bezahlten Arbeitern des Rittergutes nahm Herr Raffel an dem Landarbeiterstreik teil. Herr Moltrecht sah darin eine Verletzung der gebotenen Loyalitätspflicht einer Führungskraft seines Betriebes und hat ihm sofort gekündigt. Herr Raffel fand zwar sofort eine Arbeit bei Herrn Laux, aber die Vergütung war eben nicht gerade verlockend. Jetzt mußte er regulär mitarbeiten und die Wohnungen in dem langgestreckten Bau rechts neben der Hofeinfahrt waren klein und einfach. Die Gutsherren ließen damals nicht mit sich spaßen. Wie alle Bauern in Altstadt ging auch mein Vater erst einmal zum Herrn Raffel, um sich einen Rat zu holen, wenn ein Tier krank war, denn er hatte große Kenntnisse von den Krankheiten der Tiere und konnte gute Ratschläge geben.

Als Herr Moltrecht einmal zu spät mit seiner Kutsche am Bahnhof in Lüben ankam, rief er schon von Weitem, sie sollten mit der Zugabfahrt auf ihn warten und tatsächlich, er konnte noch mitfahren.

Lange Zeit betrieb der Schmiedemeister Hohberg eine Schmiede und besaß auch eine Bäckerei mit Kolonialwarenhandlung, er war also ein vermögender Mann. Als er seine Betriebe verpachtet hatte, setzte er sich zur Ruhe und ließ sich ein schönes Haus bauen. Herr Moltrecht kam von Großkrichen mit seiner Kutsche gefahren, ließ mitten auf der Kreuzung halten und rief - auf den Neubau hinweisend - empört: "Alles von meinem Gelde, alles von meinem Gelde". Moltrecht hatte nämlich bei Hohberg oft seine Pferde beschlagen lassen. Mein Vater kommentierte es so:
"Wir Altstädter haben auch etwas dazu getan".

Schmiede von Schmiedemeister Fritz Hohberg in Altstadt

Schmiede von Schmiedemeister Fritz Hohberg in Altstadt

Ein gutes aber selten gelebtes Motto: Mir genügt's!

Die Kotzenauer Straße hatte in Richtung Altstadt nur auf der linken Seite einen Bürgersteig und war auf der anderen Seite wenig bebaut. Gleich hinter dem Bahnübergang stand die Molkerei, und bis zum Anwesen des Majors von Willisen waren einige Schrebergärten angelegt. Von da bis zur Kreuzung Dorfstraße/Großkrichener Straße stand nur das Haus "Mir genügt's". Das Gelände dort war erheblich tiefer als die Straße und zur Bebauung kaum geeignet. Dort hatte sich ein Mann ohne überflüssigen Ehrgeiz ein kleines Häuschen gebaut und betrieb dort eine kleine Gärtnerei. Die Richtigkeit des Sprichwortes: "Wer am Wege baut, hat viele Baumeister", hat offensichtlich dieser Mann reichlich erfahren. Der geringschätzigen Kritik und des Spottes zum Trotz ließ er über der Tür des Hauses, im Verputz eingelassen, die Maxime seines Lebens anbringen, eben das zufriedene: Mir genügt's! Kaum ein Mensch wußte seinen Familiennamen, meine Eltern übrigens auch nicht, er war der "Mir genügt's".

Die Sperlingsmühle an der Kalten Bache

Um eine zusammenhängende und möglichst große Fläche für die von der Schlesischen Provinzialverwaltung zu erbauende Landes-Heil-und Pflegeanstalt zu erhalten, wurde der Besitzer der mit Wasser betriebenen Sperlingsmühle, Herr Hein, enteignet. Ich bezweifle sehr, daß die Enteignung von der Sache her begründet war, denn die Mühle stand zu sehr am Rand des zur Heil-Anstalt gehörigen Geländes, als daß die kleine Parzelle der Mühle zur optischen Abrundung des ganzen Komplexes erforderlich gewesen wäre. Herr Hein wehrte sich sehr, aber erfolglos, und ich habe einmal erlebt, wie sehr die Vorgänge um die Enteignung Herrn Hein noch 1934-35 beschäftigten und erregten.

Herr Hein erhielt als Entschädigung eine Landwirtschaft in Altstadt. Im Alter, die Ehe war kinderlos, tauschte er mit dem Bauern Hartert seine Landwirtschaft, dessen Hof sehr klein und die Räume im Wohnhaus sehr niedrig waren. Herr Hein hatte als gelernter Mühlenbauer die Witwe des Mühlenbesitzers geheiratet, die eine erwachsene Tochter hatte. Als seine Frau starb, die Ehe war kinderlos geblieben, konnte er seine Stieftochter heiraten. Die Frau Hein war eine liebenswürdige und immer lustige Frau, während Herr Hein ein ernster Mann, doch sehr hilfsbereit war. Er hatte noch manches seltene Handwerkszeug, das die die Bauern benötigten und sich gerne bei ihm ausborgten.

Ich nehme an, mein Vater wollte sich etwas, vielleicht ein Sieb, ausborgen und hatte mich mitgenommen. In der niedrigen und kleinen Wohnstube erzählte Herr Hein meinem Vater die näheren Umstände, die zu seiner Zwangsenteignung geführt hatten. Die Heil-und Pflegeanstalt sollte gebaut werden, und der Bauherr und die Stadt Lüben waren der Meinung, die Sperlingsmühle wäre mit dem Gelände für die Anstalt als Betriebsgelände unbedingt nötig, und wollten Herrn Hein veranlassen, die Mühle zu verkaufen. Weil dieser sich strikt weigerte, wurde ihm mehrfach gedroht, ihn im Interesse des Landes zu enteignen. Die Mühle lag außerhalb der Stadt und war nur über einen unbefestigten Feldweg zu erreichen, und bei Regenwetter war festes Schuhwerk geboten. Als wieder einmal die Vertreter einiger mit dem Bau der Anstalt befaßten Behörden mit einigen Autos dort ankamen und nach einem erregten Wortwechsel mit der Enteignung drohten, diesmal als beschlossene Sache, gingen dem Herrn Hein, einem vierschrötigen Mann, die Nerven durch. Er riß eine hölzerne Zaunlatte ab und stürmte in unverkennbarer Absicht auf die Beamten zu. Diese an handgreifliche Auseinandersetzungen nicht gewöhnten Herren sprangen in ihre Autos und flüchteten in Richtung Lüben. Herr Hein erhielt eine Landwirtschaft als Entschädigung und kam so nach Altstadt. Herr Hein hatte sich noch 30 Jahre danach so in Rage geredet, daß mir als 12jährigem Jungen etwas mulmig wurde.

Im Garten hinter seinem Haus stand eine kunstvoll gearbeitete Windmühle mit vielen beweglichen Teilen, die ich sehr bestaunt habe, und ich erfuhr jetzt von meinem Vater, daß Herr Hein von Beruf Mühlenbauer war. Einmal wurden wir eingeladen, um zur Mitternacht den Kaktus mit dem Namen Königin der Nacht zu sehen, der erst um Mitternacht und nur einmal für zwei Stunden blüht. Wir sind gern hingegangen, man kann doch selten etwas so Einmaliges sehen.