Als ich 1993 noch einmal mit dem Auto auf dieser fuhr, waren keine Gleise mehr da. Ein- oder zweimal habe ich mehr aus Neugier diese Kleinbahn von Raudten-Queißen bis Polkwitz benutzt unter Mitnahme meines Fahrrades, um zu den Eltern in Obergläsersdorf zu fahren. Der Schaffner hat gebrummt, weil ihm das Verladen des Rades in den Packwagen Mühe machte. Bei schönem Wetter fuhr ich im Sommer gern die ganze Strecke per Rad, es waren ja nur etwa 18 km.
Die Postagentur befand sich in einem Hause in der Nähe des Gasthauses Waletzko in der Ortsmitte; unmittelbar dahinter lief ein kleiner Bach, "die Bache" genannt, in dem wir als Kinder manchmal nach Kaulquappen suchten.
Postagent war bis 1945 Martin Gutsche, der auch Standesbeamter war. Zweimal werktäglich - morgens und am frühen Nachmittag - kam das Postauto aus Lüben und brachte die Post. Es nahm auch einige wenige Passagiere mit. Am Vormittag wurde die Post im Ort durch Josef Gürke zugestellt. Meine Eltern waren aber sogenannte Abholer, d.h. wir holten unsere Post bei Herrn Gutsche ab.
Josef Gürke war auch Friseur, er arbeitete in seiner Wohnung. Durch einen tragischen Rodelunfall verlor die Familie einen Sohn. Ihm waren Holzsplitter in das Bein gedrungen, und man hatte es verabsäumt, ihn gegen Tetanus behandeln zu lassen, so daß er am Wundstarrkrampf verstarb. Mein Vater, dessen Schüler er war, und ich hatten ihn noch kurz davor besucht.
Herr Gutsche hatte drei Söhne: Manfred, Reinhard und Wolfgang. Reinhard war mein Kinderfreund, dadurch kam ich häufig in die Post. Im Flur war der Schalter und daneben ein altertümlicher Telefonapparat; Hörer und höhenverstellbare Sprechmuschel getrennt. Das Gerät wurde benutzt, wenn jemand zum Telefon gerufen wurde (sogenanntes XP-Gespräch). Es hatten vor dem Kriege ja nur sehr wenige Leute einen eigenen Anschluß. Obergläsersdorf hatte nur Handvermittlung, im Arbeitsraum von Herrn Gutsche stand der Klappenschrank. Lediglich das Schloß und die Ballestremsche Gutsverwaltung hatte einen direkten Anschluß an das Lübener Wählamt, einen sogenannten Ausnahme-Hauptanschluß. Gelegentlich durfte ich die ausgehende Post abstempeln, bei Herrn Gutsche habe ich gelernt, wie man einen sauberen Stempelabdruck auf die Briefmarke setzt.
Reinhard Gutsche habe ich Ende der fünfziger Jahre wiedergetroffen, als ich Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach war. Er lebte damals unweit der holländischen Grenze in meinem Bezirk, wohin es viele Obergläsersdorfer verschlagen hatte, auch den ehemaligen Bürgermeister Alfred Brattig.
Reinhard Gutsche hatte im Krieg einen Arm verloren, er starb seinerzeit recht bald.
Alfred Brattig war mit meinen Eltern befreundet. Er war im Kriege in amerikanische Gefangenschaft geraten und dann nach der Heimkehr in Brüggen am Niederrhein ansässig. Meine Eltern, die zuletzt in Düsseldorf lebten, hatten weiterhin Kontakt mit der Familie Brattig, auch ich bin dort mit ihnen zusammengetroffen.
In der Post lebte oben die örtliche Hebamme Frau Wicke, die bei der Geburt meiner Schwester Ellinor half. Sie starb Anfang der dreißiger Jahre.
Schräg gegenüber der Post lebte die Familie Marx; Paul Marx war Kammerdiener im Schloß der Grafen Ballestrem. Er gehörte zum guten Bekanntenkreis meiner Eltern. Eine Tochter war mit Herrn Machner verheiratet, der - wie wir später erfuhren - bei uns immer den Nikolaus spielte. Er kam stets an meinem Geburtstag (7.12.), nicht am eigentlichen Nikolaustag. Das war ein Wermutstropfen für uns Kinder, besonders Gerda hatte eine Heidenangst vor ihm. Die Familie Machner habe ich nach dem Krieg in Düsseldorf wiedergetroffen, Herr Machner war bei der Messegesellschaft tätig.
Eine andere Tochter hatte den Zahnarzt Dr. Durniok geheiratet, der seine Praxis in Oberschlesien hatte, wenn ich mich recht entsinne, in Gleiwitz. Seinen Namen habe ich nie vergessen, weil er mir einmal einen Zahn ohne Betäubung gezogen hat, als er in Obergläsersdorf war. Ein unvergeßliches Erlebnis! 1945 hat er Frau und sechs Kinder verloren, ihre Spur endet in Dresden.
Zum guten Bekanntenkreis meiner Eltern gehörte auch der größte Bauer von Obergläsersdorf, Herr Nunnenkamp, nicht zuletzt weil er nach dem 1. Weltkriege seinen Hof in Obornik (Provinz Posen) aufgeben mußte, da er für Deutschland optiert hatte und ausreisen mußte. Mein Vater war in Rogasen, einer Kleinstadt im Kreise Obornik, geboren und 1919 als Junglehrer von den polnischen Behörden ausgewiesen worden. Es gab also ein gemeinsames Schicksal. Wir Kinder wurden häufig zu Nunnenkamps zum Milchholen geschickt, was wir wegen eines aggressiven Ganters auf dem Hof nur ungern taten. Der jüngste Sohn Herbert - etwas älter als ich - lebt jetzt in Lübbecke in Westfalen.
Ich war seit frühester Kindheit Eisenbahnfreund. Meine Mutter hat deswegen auf dem Lübener Bahnhof einmal Blut und Wasser geschwitzt, als wir beide dort mit dem Schulrat Ludwig Martwig zusammentrafen und der mir etwas erklären wollte, was jedoch falsch war. Sie hatte Angst, daß ich ihm über den Mund fahren würde, ich habe das aber damals nicht getan.
Vielleicht lag meine Liebe zur Eisenbahn in meinem Blut; schon 1843 hatten wir den ersten Eisenbahner in der Familie, ein Bruder meiner Großmutter war vor dem 1. Weltkrieg in Tsingtau an der Schantung-Bahn tätig und wurde als Reichsbahn-Hauptkassenrendant in Berlin pensioniert. Und kurz vor seinem Tode erfuhr ich von meinem Großvater, daß er selbst lebenslang ein Faible für die Bahn hatte.
Interessant für mich ist auch die Seite über die Kleinbahn Lüben-Kotzenau. Der Bahnhof Ober Gläsersdorf hatte ein durchgehendes Hauptgleis mit Bahnsteig und ein Ladegleis für Güterwagen. Letzeres lag zwischen Bahnsteig und Gebäude, die Weichen waren handbedient.
Die Agentin der Bahn in Obergläsersdorf war Frau Exner, ihr Mann war der Bahnmeister der Gesellschaft, sie verkaufte Fahrkarten und besorgte die Güterabfertigung. Sie hatten drei Kinder, Hermann, Else und Rudi, alle älter als wir Kinder. Meine Eltern waren mit Exners befreundet, daher kamen wir auch zu ihnen, ohne zu verreisen. Kurz vor Kriegsbeginn sind sie nach Marienburg in Westpreußen verzogen, wo er dann an den Danziger Kleinbahnen tätig war.
Im Hause gab es einen gutmütigen Deutschen Schäferhund namens Troll und eine Katze; beide Tiere verstanden sich ausgezeichnet, die Katze sprang gern auf Trolls Rücken und ließ sich herumtragen. Es gab zudem eine Menge Hühner, die auf dem ganzen Bahngelände herumliefen. Wenn mittags der Zug aus Lüben kam - es gab ja in den dreißiger Jahren nur noch das eine Zugpaar, früh nach Lüben und mittags zurück - rief Frau Exner "Troll, die Hühner" und er schoß mit lautem Gebell hinaus, um sie in ihr Gehege zu treiben. Meist genügte schon der Ruf allein, und die Hühner kamen von selbst.
Im Güterboden befand sich ein dreirädriges Schienenfahrrad, mit dem ich gern gefahren wäre, aber das war zu schwer zu bewegen für ein Kind. Frau Exner - wir nannten sie Tante Toni - meldete den Zug telefonisch ab, wenn er abgefahren war. Wohin ihre Meldung ging, weiß ich nicht. Rudi erzählte mir einmal, seine Mutter habe kürzlich das Telefon mit der in der Nähe an der Wand hängenden Kaffeemühle verwechselt und auf das verdammte kaputte Telefon geschimpft. Ob das stimmte?
Hermann, der Älteste, nahm bei meinem Vater Geigenstunden, was uns Kindern wegen der damit verbundenen Geräusche überhaupt nicht gefiel. Wir haben uns immer verkrochen, wenn er mit der Geige kam. Er ist 1945 als Leutnant bei der Verteidigung von Königsberg gefallen, Herr Exner ist vermißt. Die anderen Familienmitglieder haben den Krieg überlebt. Die Tochter Else hat kurz vor Kriegsbeginn nach Lüben in die Vorwerkstraße geheiratet, den Tischler Walter Mehwald. Sie hat ihren Mann im Krieg verloren. Sie lebte dann in Potsdam und ist im Rentenalter nach Berlin (West) übergesiedelt. Dort habe ich sie einmal besucht, sie wohnte in Rudow. Rudi Exner ist in Hannover ansässig geworden.