Anna-Maria Strack (1867-1955)
Dr. Martin Treblin (1882-1950)














Anna-Maria Strack

Anna-Maria Strack (1867-1955)

Als armes Weberkind - ihr Vater war Züchnermeister* in Lüben - durfte sie nicht wie alle glücklicheren Mädchen aus wohlhabenden Familien an dem französischen Sprachkurs des Fräulein von Buddenbrogk teilnehmen. Wohl aber lieh ihr ein Schüler des Rektors der katholischen Volksschule - Hermann Hinz - ein Französisch-Lehrbuch des bekannten Sprachwissenschaftlers Karl Julius Plötz, mit dessen Hilfe sie sich nun selbst in die französische Sprache vortastete. Ihr Interesse für Geschichte, das sich an Helden wie Leonidas und Hannibal entzündet hatte, befriedigte sie, zum Ärger ihrer Mutter, die ihre Älteste lieber am Abwaschschaff* gesehen hätte, durch eine wilde Lesewut. Na, jedenfalls stellte Rektor Alexander Schwedowitz bei ihrem Abgang von der Schule fest, daß sie seine beste Schülerin gewesen sei und er so eine wie die Strack-Anna nicht mehr wiederbekommen würde.

An ihrem 15. Geburtstag trat sie als unbezahlter Lehrling in ein Weißwaren- und Tapisseriegeschäft in Breslau ein, und damit begann ihre Lehr- und Wanderzeit, die sie über 35 Jahre ihrer Heimat fernhielt. Der Breslauer Lehrling ward schon nach reichlich einjähriger Lehrzeit Verkäuferin mit einem monatlichen Anfangsgehalt von 30 Mark und freiem Mittagstisch. Die freie Zeit gehörte der geistigen Fortbildung. Sie erwirbt sich die Anfangskenntnisse in der Dramenliteratur durch eifriges Lesen der Theaterzettel, besucht alle 14 Tage das Theater (Sitzgalerie) und spielt jeweils am nächsten Tage Szenen aus den Rollen der Medea, der Iphigenie, der Maria Stuart ihren Kolleginnen und der Chefin selbst vor, so daß sie bei ihnen bald Persona grata wird. Sie sitzt an Sonntagen von nachmittags 4 Uhr bis abends 10 Uhr bei einer Tasse Lurke* und einem Stück Kuchen für je 10 Pfg. in volkstümlichen Konzerten und lernt so die gute deutsche Musik kennen. Rundfunk gab es ja damals noch nicht. Auch die populären Vorträge an der Universität läßt sie sich selten entgehen.

Nachdem sie vier Jahre die Tyrannis ihrer Pensionswirtin ertragen hat, verläßt sie Breslau und übernimmt eine gleiche Stellung in Leipzig. Ihre Vorliebe für die Künste befriedigt auch Leipzig vollauf: Kirchen- und Gewandhaus-Konzerte, Oper und Schauspiel, Museen. Daneben nimmt sie jetzt planmäßigen Sprachunterricht bei einer Französin und bildet sich in Abendkursen (Stenografie und Schreibmaschine) zur perfekten Stenotypistin aus, die als solche in Wolffs Telegrafen-Büro nach Berlin übersiedelt. Da sie mit Violinstunden in Leipzig wenig Erfolg hatte, nimmt sie nun in Berlin Klavierstunden. Es ist bezeichnend für ihre Energie und ihren Eifer, wie sie etwas anpackt, wozu sie sich entschlossen hat. Sie sagt selbst: "Ich spielte täglich mindestens zwei Stunden, machte Fingerübungen und Etudes, deren schwierige Passages ich bis zu dreihundertmal wiederholte. Ich spielte früh am Morgen und spät am Abend." Und das bei zehnstündiger Arbeit im Beruf.

Ihre Englisch-Lehrerin - jawohl, Englisch lernte sie in Berlin auch noch so nebenbei - riet ihr, die Fremdsprachen im Ausland selbst zu lernen. Also geht Anna-Maria Strack nach Frankreich. Und zwar ins Ursulinerinnen-Kloster zu Clermont-Ferrand. In dieser Kloster-Mädchen-Schule fand sie, was sie gesucht hatte, den besten Unterricht in Französisch, Englisch und Klavierspiel. Mit ihrem Temperament und ihrer Begeisterungsfähigkeit hatte sie natürlich schnell Kontakt zum französischen Wesen. Aber der Umgang mit dem einzelnen Menschen fehlte. Die planmäßigen Schülerinnen besuchten die Schule vom 6. bis zum 18. Lebensjahr und waren damit für unsere einzige Deutsche zu jung. Einzig zwei gleichaltrige Engländerinnen, mit denen sie gemeinsam an einem Tisch Mittag aß, kamen für einen persönlichen Verkehr in Frage. Dann aber ließ das Schicksal sie im Kloster eine mütterliche Freundin finden, die für ihr Leben von großer Bedeutung werden sollte. Eine der älteren Klosterfrauen machte immer mühsam und allein ihren Spaziergang. Aus gutem Herzen bot Anna-Maria Hilfe und Begleitung an. Die Alte war gerührt über so viel ungekannte Teilnahme und schloß die junge Fremde in ihr Herz. Es war eine Nachfahrin des Peter von Amiens, des Kreuzzugspredigers aus dem 11. Jahrhundert. Bis zu ihrem Tode blieb Anna-Marie mit ihr verbunden.

Nach anfänglichem Einzelunterricht gelang es ihr, in die Seminarklasse aufgenommen zu werden und an deren Abschluß durch eine schriftliche Arbeit in einem Schülerinnenwettbewerb den 1. Preis zu erringen und als anerkannte Lehrerin für Französisch und Englisch die Schule zu verlassen. Nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm sie zwei kurzfristige Stellungen als französische Korrespondentin in Wirtschaftsbetrieben, die eine in Herford, von wo sie "uraltes germanisches Land, den Teutoburger Wald mit dem Hermanns-Denkmal, das trauliche Bückeburg, Detmold, Bielefeld, Oeynhausen kennenlernte", die andere in Berlin. Nach diesen beruflichen "Mißerfolgen" rief ihre mütterliche Freundin sie wieder nach Frankreich, wo sie vier Jahre lang als Erzieherin zweier Kinder des Grafen de R. zur Familie gehörte und ein stilles und harmonisches Leben führte. Die Frau Gräfin ermöglichte ihr eine Fahrt nach dem berühmten Wallfahrtsort Lourdes und nach Biarritz, wo sie vom Anblick der heranrollenden Flut des Atlantiks überwältigt wurde. Als ihre Zöglinge zu ihrer weiteren Fortbildung einer Schule überwiesen wurden, bot sich ihr eine neue Erzieherinnenstellung beim Enkel der Exzellenz von B. in einer großen und reichen Industriestadt des deutschen Westens, die sie zwei Jahre innehatte.

1905 hatte Frankreich die Trennung von Kirche und Staat vollzogen. Mit der damit verbundenen Beendigung der Lehrtätigkeit der Geistlichen und Nonnen bot sich für tüchtige Privatlehrer ein weites Feld. Das zog Anna-Maria Strack zum dritten Male nach Frankreich. Durch deutschen, englischen und französischen Unterricht erwarb sie sich ein mehr als auskömmliches Leben, konnte es sich sogar leisten, ihre langen Ferien auf der englischen Insel Jersey zu verbringen.

Da hallten die Schüsse von Sarajewo durch die Welt. Die französischen Grenzen nach Holland. Belgien und der Schweiz wurden gesperrt. Mit den 50 Francs, die Deutschen nur ausgezahlt wurden, gelang es der deutschen Sprachlehrerin, über die Pyrenäen nach Spanien zu entkommen und von dort mit Hilfe der Gattin des deutschen Botschafters zu Schiff von Barcelona nach Genua und schließlich in die deutsche Heimat zu gelangen. Welch Wiedersehen mit der so lauge entbehrten Mutter! Aber ach, ein Wiedersehen nur! Wo sollte eine Sprachlehrerin für Französisch und Englisch eine Stellung finden in einer Zeit. wo an allen Ecken: "Gott strafe England!", zu lesen stand, wo die französischen Worte wie Adieu, Pardon, Billet, Coupé, Perron usw., die sich in die deutsche Sprache eingefressen hatten, ausgemerzt wurden?

Also, da ohne jede Mittel, von neuem das Bündel geschnürt und ab in das damals noch mit Deutschland verbündete Italien. Ein Jahr hielt sie das ewige Rom; dann nahm sie für die weitere Dauer des 1. Weltkrieges eine Stellung als Gesellschafterin der Signorina Constanza in Catania auf Sizilien an. Hier erreichte sie unter der Anschrift Anita Straghetti die Nachricht, daß ihre mütterliche Freundin in Frankreich verstorben sei und ihr den Rest des Vermögens vermacht habe. Auf Ausweisung ihrer Person durch ihren Buchhändler wurde ihr das Geld schließlich auch ausgezahlt. Man bedenke, während des Krieges einer nunmehr auch in Italien feindlichen Ausländerin. Während des Waffenstillstandes schon gelang es ihr durch Intervention der Königin-Mutter Margherita, an die sie sich gewandt hatte, nach Deutschland zurückfahren zu dürfen.

Über die ruhigen 25 Jahre in ihrer Heimatstadt Lüben, die nun folgten, ist nichts weiter zu berichten als das, was bereits am Anfang gesagt war. Als ein deutsches Menschenkind, das noch zwischen den Einheitskriegen geboren war, gehört sie nach ihrem ganzen Wesen und Werden der kaiserlichen Zeit an. Mit dem Zweiten Reiche ist sie gewachsen und reif geworden. Ihren Stolz, Deutsche zu sein, hat sie auch im Ausland nicht verleugnet und, wenn es nötig war, tapfer und mutig verteidigt.

Auf der Fahrt nach Spanien im Juli 1914, einige Haltestellen hinter Toulon. Die französische Volksseele kocht. Die Mitreisenden ergehen sich in Schmähungen gegen die Deutschen. Da hält es die einzige Deutsche unter den Rasenden nicht mehr, sie verteidigt beredt ihr Vaterland. Der nun einsetzende Lärm erreicht sogar das Ohr des Zugführers. Der Zug hält auf freier Strecke, die Passagiere stauen sich vor dem Fenster ihres Abteils und versuchen die Tür anfzureißen. Schreien aus der Menge: "Schmeißt die deutsche Bestie raus!" Nur dadurch, daß der Zugführer im letzten Augenblick das Abfahrtssignal gab, kam sie noch einmal davon. Im Nebenabteil unterhielten sich zwei Franzosen. Der eine: "Diese Frau ist keine Deutsche, das ist eine Preußin!" War das Hochachtung vor dem Mut einer Frau, oder sollte es der höchste Grad der Mißachtung sein?

Daß sie bis zuletzt diese tapfere und mutige Frau geblieben ist, das geht vor allem aus dem Bericht über ihre Erlebnisse in der Zeit vom Einrücken der Russen in Lüben bis zu ihrer Vertreibung am 26.10.1946 hervor. Am 5.2.1945 sagte ihr ein bei Schlossermeister Wurst stationierter Posten (ein junger Pastor aus Reichenbach in Schlesien): "Wenn es nach mir ginge, müßten Sie die Tapferkeitsmedaille kriegen. Sie beweisen einen Mut, den mancher Soldat an der Front nicht aufbringt!"

Daß sie mit dem Verlust ihrer irdischen Güter fertig wurde, das ist nichts Besonderes, das mußten wir alle. Aber wie die schon Hochbetagte damit fertig wurde, mit welcher weisen Heiterkeit, das ist bewundernswert. Mit ungeheurem Lebenswillen und grimmigem Humor schlägt sie selbst dem Tode ein Schnippchen. Auf einer Karte vom 28.7.52 schreibt sie: "Ja, ich lebe noch! Und da ich nicht kleinzukriegen bin, habe ich in Waldheim bei Pfarrer Irmler mit großem Pomp und Trara am 1. des Monats mein 85. Lebensjahr angefangen, wie das einer so kriegerischen Persönlichkeit auch zukommt. Kurz nach Ostern hatte mich eine sehr böse und wochenlang anhaltende Grippe beim Wickel, die mich zu meinen Vätern versammeln wollte; doch gelang es mir, Gevatter Hein Mores zu lehren!" Ich glaube tatsächlich, sie hofft, uns alle in unserem Lüben wiederzusehen.

Erwin Vetter, 1953

* Züchen: buntgewebter kräftiger Baumwollstoff in Leinwandbindung für Bettbezüge
* Schaff: bottichartiges Gefäß
* Lurke: Kaffee

Wer kannte sie nicht, unser Fräulein Strack! Auf der Liegnitzer Straße wohnte sie, gegenüber der katholischen Kirche, die sie als fromme Katholikin treu besuchte. Mit meiner Mutter war sie eng verbunden. Und ich kannte noch ihren Dackel mit Namen Malchus. Fräulein Strack war hochbegabt und viele Jahre Hauslehrerin in Frankreich, Spanien und Italien. Mehrere Sprachen beherrschte sie fließend. Darum wurde sie auch im 2. Weltkrieg beauftragt, im Lübener Realgymnasium zu unterrichten. Eine Gegnerin des Nationalsozialismus ist sie immer gewesen. Wer sie mit "Heil Hitler" grüßte, dem antwortete sie: "Gelobt sei Jesus Christus". Deswegen wurde sie auch öfter zum Bürgermeister und zum Kreisleiter zitiert, wo sie mutig ihren Standpunkt vertrat. Nach dem Krieg traf ich sie wieder in Lüben, wo sie bis 1946 blieb und dann nach Thiemendorf zu Pfarrer Rogier umsiedelte, mit dem sie auch evakuierte. Als ich in Waldheim/Sachsen Gefängnispfarrer war, besuchte sie uns oft. Viele tiefe Gespräche habe ich mit ihr geführt. Sie hatte einen wachen Geist. Schließlich zog sie zu ihrer Schwester und ist dort hochbetagt gestorben.

Pfarrer Irmler, 1991


Im Jahr 2016 erinnert der ehemalige Lübener Gymnasiast Hans Werner Jänsch sich so an sie:

In der misslichen Situation der kriegsbedingt fehlenden Lehrer gelang es dem Direktor des Lübener Gymnasiums 1943, das in Englisch, Französisch und Italienisch perfekte und auch sonst hochgebildete Fräulein Strack (auf die Anrede "Fraulein" legte sie Wert!) trotz ihrer 74 Jahre für die Obersekunda als Lehrkraft für Englisch und Französisch zu gewinnen, und zwar - wie er selbst darüber schreibt - "gegen alle Bestimmungen".

Fräulein Strack, 1868 als Kind eines armen Züchnermeisters in Lüben zur Welt gekommen, absolvierte die Volksschule als Schulbeste. Rektor Schwedowitz stellte nach ihrem Abgang fest: "eine wie die Strack-Anna werde ich wohl nie wieder bekommen". Mil 15 Jahren verließ sie Lüben und begann in Breslau eine unbezahlte Lehre in einem Weißwaren- und Tapisseriegeschäft. Daneben bemühte sie sich sofort unermüdlich und energisch um ihre geistige und musische Fortbildung, anfangs in Breslau, dann in Leipzig, Berlin und schließlich in Frankreich, wo sie sich in einer Klosterschule, in der sie als Deutsche bei einem Schülerwettbewerb in Französisch am besten abschnitt, zur Lehrerin für Englisch und Französisch ausbilden ließ. Nach nur kurzen Zwischenaufenthalten in Deutschland, während der sie als Franzöosischkorrespondentin in Wirtschaftsbetrieben und Erzieherin in namhaften Adelsfamilien tätig war, folgte sie erneut einem Ruf nach Frankreich, zeitweilig auch nach Italien, wo sie als Erzieherin die Kinder hochgestellter Familien in Deutsch, Englisch und Französisch unterrichtete. Kriegsbedingt kehrte sie schließlich 1918 nach etwa 35-jähriger Abwesenheit in ihre Heimatstadt zurück, wo man im Lübener Stadtblatt alsbald die Anzeige lesen konnte:

"Privatstunden in Englisch, Französisch und Italienisch
erteilt A.-M. Strack, Liegnitzer Straße
(gegenüber der katholischen Kirche)"
.

Von diesem Angebot haben bis zum bitteren Ende unzählige Lübener Pennälerinnen und Pennäler Gebrauch gemacht und mit ihrer Hilfe in der Regel annehmbare Noten in den neusprachlichen Fächern erreicht, wenn nicht gar die Versetzung in die nächste Klasse. Auch während ihrer illegitimen Tätigkeit am Lübener Gymnasium, die sie pflichtbewusst und couragiert bis zum letzten Schultag durchgehalten hat, war sie wegen ihrer fachlichen und padagogischen Kompetenz bei den Schülerinnen und Schülern geachtet und beliebt.