Fa. Friedrich Rudolph Beyl, gegründet 1853
von Leopold Beyl
Die Firma F. R. Beyl gründete vor 125 Jahren, am 12. Juli 1853, in Raudten (Schlesien) mein Großvater Friedrich Rudolph Beyl. Fast 34 Jahre zuvor war er in Breslau zur Welt gekommen. Seine Jugend verbrachte er jedoch in verschiedenen Orten Schlesiens, weil sein Vater als berittener königlicher Gendarm, also Landpolizist, mehrmals versetzt wurde.
Mit zwölf oder dreizehn Jahren kam der Großvater zu einem Kolonial- und Eisenwarenhändler in Namslau in die Lehre. Damals war die Ausbildung eines Lehrlings nicht so geschützt wie heute. Es gab keine festen Ladenschlußzeiten und kein Jugendarbeitsschutzgesetz. Die Läden waren von 6 Uhr bis 22 Uhr geöffnet, selbst am Sonnntag hielt man die Geschäfte für ein paar Stunden offen. Begriffe wie Recht auf Freizeit und Anspruch auf ordentlichen Berufsschulunterricht waren unbekannt. Eine Lehrlingsvergütung gab es nicht. Im Gegenteil : Der Vater mußte dem Lehrherrn für die Ausbildung seines Kindes noch Lehrgeld zahlen.
Nach seiner für heutige Begriffe gewiß sehr harten Lehrzeit kam Friedrich Rudolph Beyl nach Bernstadt (Kr. Oels) und später nach Hirschberg im Riesengebirge, wo er als Handlungsgehilfe arbeitete. Im Jahre 1852 pachtete er in Raudten, im Haus Ring 11, von einem Herrn Breither die Kolonial- und Eisenwarenhandlung, die er im Jahr darauf für einige hundert Taler kaufte und unter der neuen Inhaberbezeichnung "F. R. Beyl" weiterführte. Als Grundstückseigentümer erhielt er im gleichen Jahr die Raudtener Bürgerrechte.
Ich vermute, daß mein Großvater das Geschäft mit dem Grundstück damals nur deswegen so günstig erwerben konnte, weil die Stadt wirtschaftlich noch darniederlag. Sechs Jahre zuvor, im Jahr 1847, war fast der ganze Ort durch eine große Feuersbrunst zerstört worden. Am Ring, wie man in Schlesien den Marktplatz nannte, der aber nicht ringförmig sondern rechteckig war und in dessen Mitte das Rathaus stand, an diesem Raudtener Ring sollen alle Häuser mit Ausnahme des Hauses Nummer 11 niedergebrannt sein. Dieses Haus hatte als Posthalterei gedient, ehe es das einzige Kaufmannsgeschäft der Ackerbürger- und Handwerkerstadt Raudten beherbergte. Im Vorderhaus muß neben der Posthalterei ein Schankraum gewesen sein, denn das Grundstück war bis 1945 mit einer Brenn- und Schankgerechtigkeit verbunden, die später allerdings nicht mehr voll ausgenutzt wurde. Im Hinterhaus, das zur Straße "An der Stadtmauer" führte, war der Pferdestall der Posthalterei, die gleichzeitig Ausspann war, untergebracht. Zwischen Vorder- und Hinterhaus erstreckte sich ein langer, hausbreiter Hof, in dem sicherlich auch einmal ein Stück Garten angelegt war. Mein Vater ließ nach 1900 eine Küche und eine Waschküche an das Vorderhaus anbauen und errichtete zwischen der neuen Waschküche und dem Hinterhaus ein Maschinenhaus für einen Motor, Antriebsaggregat für viele kleine Mühlen und Maschinen, um Leinsamen, Mohn, Pfeffer und Scheuerpulver zu mahlen, aber auch um Jagdpatronen zu rändeln. Das Hinterhaus baute er so um, daß er Benzin, Farben, Gifte, Leinöl, Öl und Petroleum lagern konnte. Zwischen Maschinenhaus und Hinterhaus waren drei Aborte untergebracht, Spülklosetts kannte man ja noch nicht. Zwar gab es seit 1909 eine Wasserleitung, doch stellten sich der Abwasserbeseitigung viele Hindernisse in den Weg. Die Abortgrube leerte ein Bauer und düngte damit seine Felder. Angenehm war der Gang über den betonierten Hof bei Regen, Schnee und Kälte nicht; nachts ersetzte den Marsch über den Hof das Nachtgeschirr.
Meinem Großvater diente im Vorderhaus eine Stube als Laden, die durch eine Tür vom Ring aus betreten wurde. Ein Schaufenster war nicht vorhanden. In die Privaträume, wie Hinterstube und Küche, konnte man zwar auch vom Laden aus gelangen, der eigentliche Zugang war aber von der seitlich gelegenen Haustür über den Hausflur. Vom Hausflur führte ein Gang in den Hof; hier war aber auch die Treppe zum Obergeschoß und zum Dachboden, letzterer unterteilt in einen Unterboden und einen Oberboden. Mein Vater ließ die Haustür zumauern, um Platz für einen geräumigeren Laden zu schaffen. Links und rechts von der neugestalteten Ladentür ließ er für die damalige Zeit moderne Schaufenster einbauen (vgl. die Aufnahme zum 60jährigen Firmenjubiläum). Auch nach dem Ladenumbau wurde der Zuckerhut, der spitze Messingkegel über der Ladentür, wieder als Wahrzeichen der Firma angebracht, obwohl aus der einstigen Kolonial- und Eisenwarenhandlung eine Drogerie geworden war, die kaum noch Lebensmittel führte.
Gegen Ende des 2. Weltkrieges wurden die Häuser auf der Westseite des Ringes zerstört, ausgenommen die Häuser Nummer 10 und 11. In Nummer 10 war zuletzt die Drogerie Erich Zaske. Dieses Haus hatte der Familie Wichmann gehört, die hier die Gaststätte "Zum Goldenen Frieden" führte. Heute befindet sich darin ein Geschäft. In meinem Vaterhaus wurden die Schaufenster entfernt, der Laden in eine Wohnung verwandelt, von der einstigen Firma F. R. Beyl ist nichts mehr zu erkennen.
Mein Großvater hatte nicht nur eine harte Lehr- und Gehilfenzeit gehabt, er mußte auch als selbständiger Kaufmann schwer arbeiten, um voranzukommen. Gute Warenkenntnisse und freundlich und zuvorkommend zu bedienen genügten nicht. Ein reichhaltiges Warenlager mußte vorhanden sein. Dies wird er anfangs nicht gehabt haben, weil er sein mühsam erspartes Kapital für den Erwerb des Geschäftes und des Grundstückes verbraucht hatte. Wie lange er mit Eisenwaren handelte, weiß ich nicht. Wenn das Geschäft noch zur Zeit seines Todes im Jahr 1878 eine Kolonial- und Eisenwarenhandlung gewesen war, dürfte mein Vater den Handel mit Eisenwaren eingestellt haben. Eines ist sicher: Mein Vater Rudolf Beyl wandelte das Kolonialwarengeschäft in eine Drogerie um.
Der Einzelhandelskaufmann von heute weiß meist gar nicht, was sein Berufskollege von damals für Arbeiten zu machen hatte, bis die Ware verkauft war. Fest- oder Richtpreise gab es nicht, der Kaufmann hatte keine Kalkulationshilfe. Die Waren wurden in Fässern, Glasballons, Kisten oder Säcken geliefert und mußten für jeden Kunden einzeln gewogen und in Beutel, Büchsen, Flaschen oder Tüten gefüllt werden. Das Verpackungsmaterial wurde im Unterboden des Dachgeschosses in einer Flaschen- und in einer Tütenkammer aufbewahrt. Vieles wurde aber auch selbst hergestellt. So machte mein Vater aus Ruß und Terpentin Schuhkrem; aus Bienenwachs, später Stearin, goß er Kerzen. Er brannte anfangs noch selbst Schnaps, bezog aber bald reinen Alkohol, den er zu Medikamenten, Likören und Trinkbranntwein verarbeitete - bis auch hier der Einkauf von Fertigwaren billiger und rentabler wurde. Rohkaffee wurde bezogen und auf dem Dachboden, in der Kaffeekammer, in Säcken aufbewahrt. An bestimmten Tagen durchzog herrlicher Duft das ganze Haus: im Kaffeebrenner wurde Rohkaffee geröstet. Um schmackhaften Kaffee zu erhalten, mußten die edlen mittelamerikanischen Sorten aus Guatemala und Nikaragua mit weniger guten aus Brasilien im richtigen Verhältnis gemischt werden. Diese "richtige" Mischung war - und ist - oft Hausgeheimnis. Der Zucker wurde fest gepreßt in 4 bis 5 kg schweren Zuckerhüten geliefert. Der Kaufmann zerschlug den Zuckerhut und verkaufte die Stücke nach Gewicht. Das Zerkleinern zu Streuzucker war dann Arbeit des Kunden: Man legte ein Stück Zucker auf eine feste Unterlage, deckte ein Tuch darüber, damit keine Splitter wegfliegen konnten, und klopfte dann den Zucker mit einem Hammer - oder Stein! - klein.
Das maschinelle Rändeln der Jagdpatronen (Marke "Waidmannsheil" der Firma F. R. Beyl) - ich habe es bereits erwähnt - brachte gegenüber der Handrändlung großen Zeitgewinn. Mein Schwager Erich Zaske, im Gegensatz zu meinem Vater ein eifriger Jäger, übernahm als Pächter der Firma die Patronenherstellung. Meine Mutter hatte von ihrem bereits 1917 verstorbenen Mann die Fertigung gelernt und konnte dem Schwiegersohn ihre Kenntnisse vermitteln. Pulver, Schrotkugeln, Patronenhülsen mit Zündhütchen, Filzkorken, Verschlußplättchen und Verpackungsmaterial wurden von einer Firma bezogen. Uns blieb noch folgendes zu tun: 25 leere Patronenhülsen wurden in die vorgefertigten Löcher eines Brettes gestellt. Auf der Pulverwaage wurde die Pulvermenge für jede einzelne Patrone genau ausgewogen und in die leeren Hülsen gefüllt. Darüber kam der Filzkorken. Dann wurden die Schrotkugeln aus einem Maß hineingetan. Mit der Rändelmaschine wurde der obere Rand der Papphülse umgebogen, so daß das zuvor über das Blei gelegte Verschlußplättchen fest angedrückt wurde. Nun konnten je 25 fertige Jagdpatronen in einen Karton verkaufsgerecht verpackt werden. Die Jäger aus Raudten und Umgebung schossen wegen der guten Patronenqualität gern mit unserer Marke "Waidmannsheil".
Da mein Vater schon als junger Mann leidenschaftlich gern fotografiert hatte, richtete er sich eine Dunkelkammer mit Entwicklungs- und Kopiergeräten ein und nahm Fotoapparate und -artikel in sein Sortiment auf. Anfangs mußte er die Fotoplatten selbst herstellen. Auf zugeschnittene Glasplatten goß er in der Dunkelkammer eine Kollodiumschicht. Die Platte mußte anschließend gleich in eine Kassette und mit dieser in den damals noch unförmigen Fotoapparat eingelegt werden, der auf einem großen, schweren Stativ stand. Die Belichtung einer Platte dauerte etwa 30 Minuten. Deshalb mußte bei Porträtaufnahmen das arme Opfer den Hals in eine Haltevorrichtung legen, damit es den Kopf nicht bewegen konnte. Sonst wäre die Aufnahme verwackelt gewesen. Mein Vater machte auch von Raudten viele Aufnahmen, von denen er einige als Postkarten drucken ließ und verkaufte. Inländische Teesorten wurden von den "Teeweibeln" geliefert. Die frischen Blätter wurden dann bei uns getrocknet und im Teeraum aufbewahrt, bis man sie - gemischt oder ungemischt - in Schüben oder Gefäßen im Laden zum Verkauf bereitstellte.
Als mein Großvater vor 125 Jahren die Firma gründete, hatte er wirtschaftliche und persönliche Schwierigkeiten. Er war noch ledig und holte seine verwitwete Mutter und seine jüngste Schwester von Hirschberg im Riesengebirge nach Raudten, damit sie ihm den Haushalt führen sollten. Für diese kurze Reise benötigte die Mutter einen Reisepaß, die erst 17jährige Schwester hingegen noch nicht. Unterschrieben hatte die Mutter mit "Beil", nicht mit "Beyl", weil sie kein "Ypsilon" schreiben konnte. Sie hatte ihrem Sohn einmal geschrieben, sie könne nur "Ipsilon" schreiben. Als Geburtsort stand Haynau im Reisepaß. Doch stellte ich später anhand des Patenbriefes fest, daß sie in Heinersdorf (Kr. Liegnitz) geboren war. So genau nahm es damals die Polizei eben nicht, denn das Personenstandswesen im heutigen Sinn entstand ja erst rund zwanzig Jahre später als mittelbare Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Als die Mutter bereits im Juni 1855 mit 61 Jahren starb, führte die Schwester den Haushalt bis zu ihrer Verheiratung im Januar 1857 weiter. Im Mai des gleichen Jahres heiratete mein Großvater die jüngste Tochter des herzoglichen Hofgärtners Johannes Neumann aus Carlsruhe (Oberschlesien). Er hatte bereits 1853 um ihre Hand angehalten, war aber abgewiesen worden. Ich vermute, daß er als ziemlich mittelloser Selbständiger für nicht standesgemäß gehalten wurde. Die Brüder der Pauline Neumann waren Offiziere. Rudolf, einer der Brüder, wurde wegen seiner Verdienste um die preußische Artillerie als Generalleutnant in den erblichen Adelsstand erhoben, besuchte aber trotzdem mehrmals seine Schwester in Raudten, die es durchgesetzt hatte, ihren Friedrich Rudolph heiraten zu dürfen. Kennengelernt dürften sich die beiden haben, als mein Großvater noch Handlungsgehilfe in Bernstadt (Kr. Oels) gewesen war.
Aus Unterlagen, die alle durch die Kriegsereignisse 1945 verlorengingen, weiß ich, daß er literarisch interessiert war. Über seine politischen Ansichten hinterließ er nichts. Ich kann mir allerdings nicht denken, daß er als Sohn eines königlich preußischen Gendarms und Schwiegersohn eines Hofgärtners des Herzogs von Oels und Württemberg dem politischen Geschehen teilnahmslos gegenüberstand. Damals forderte vor allem die Jugend eine Auflösung der vielen Kleinstaaten und die Abschaffung absolutistischer Monarchien zu Gunsten eines einigen demokratischen Deutschen Reiches. Erinnert sei an den Deutschen Zollverein 1834, die Demagogenverfolgung, die Revolution von 1848 und das erste deutsche Parlament in der Paulskirche zu Frankfurt am Main. Es folgten der Aufstieg Bismarcks und dessen kleindeutsche Lösung (ein Deutschland ohne Österreich) nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Von meinem Vater weiß ich, daß er liberal eingestellt und schon wegen seiner groß-deutschen Haltung - er war ein Befürworter eines Deutschen Reiches mit Österreich - kein Freund Bismarcks war. Er sprach aber nicht viel darüber, sicherlich um keinen Ärger mit der Familie zu bekommen.
Am 16.12.1885 bestellte F. R. Beyl - Kaufmann in Raudten - bei der Firma Johann Maria Farin in Köln zwei Collis Eau de Cologne mit Flaschen verschiedener Größen "von bester Qualität und kräftigem Geruch", Zahlung würde sofort nach Empfang geleistet. Referenzen könnten erbracht werden. Hochachtend F. R. Beyl
Es ist mir eine große Freude, dieses Dokument des in Raudten und nach dem Krieg von allen Lübenern so geachteten Mannes hier vorzustellen. Wie im Lübener Heimatblatt zu lesen war, ist die Familie Beyl bis in die USA verstreut. Sollte ein Familienmitglied diese Seite gefunden haben, würde ich mich über eine Kontaktaufnahme sehr freuen! Heidi T. |
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Bei seinem Tod hinterließ mein Großvater ein renommiertes Geschäft. Nachfolger wurde sein zweiter Sohn, mein Vater. Da er 1878 erst siebzehn Jahre alt war, mußte er erst für volljährig erklärt werden, damit er das Geschäft ohne Vormund leiten konnte. Er führte die Firma erfolgreich weiter und baute sie zu einer Drogerie aus. Vom Vater Gelerntes machte er nach übernommenen Rezepten von Teemischungen, Kaffeerösten, die Produktion von Schuhkrem und das Kerzenziehen. Neues wie Foto- und Jagdartikel, Drogen und Farben, kam hinzu. Eine große Arbeitserleichterung sollte der Einbau eines Flaschenzuges werden, um die schweren Lasten, wie Säcke und Kisten, leichter und bequemer zum Dachboden transportieren zu können. Im Treppenflur des ersten Stockwerkes und im Fußboden des Unterbodens vom Dachgeschoß waren Öffnungen von etwa l qm Größe ausgesägt, die man durch eine Klappe verschließen konnte. Der im Dachboden eingebaute Flaschenzug hievte alles durch die Öffnungen nach oben.
Etwas Branchenfremdes war die Anschaffung von riesigen Bohrern und eines Pyramidenflaschenzuges, so daß mein Vater Brunnen bohren konnte. Auf seinem Grundstück legte er zwei Brunnen an, um von den öffentlichen Brunnen Raudtens unabhängig zu sein. Solche Brunnen gab es an der Nord- und an der Südseite des Rathauses, am Steinauer (in der Nähe der katholischen Kirche), am Glogauer (bei der Bäckerei Nitschke) und wahrscheinlich auch am Polkwitzer Tor. (Obwohl die Tore längst abgerissen waren, gebrauchte man noch im 20. Jahrhundert dieses Ortsbezeichnungen.) Das Wasserwerk auf dem Kreidelwitzer Berg und die Wasserleitung wurden erst 1909 gebaut.
Neben dem Fotografieren hatte mein Vater noch ein teures Steckenpferd: Hochradfahren. Ein Hochrad, Vorläufer unseres Fahrrades, kostete damals 400 Mark, und es erforderte viel Mut, Kraft und große Geschicklichkeit, damit zu fahren. Das Hochrad hatte einen Durchmesser von ungefähr 1,50 m. In der Radmitte befand sich die Nabe, von der Speichen zur Felge führten. Links und rechts an der Nabe waren die Pedalen befestigt und die Stangen, die zum Lenker und zu dem ungefederten Sattel nach oben führten. Unter dem Lenker war eine parallel zum Rad gekrümmte Stange vernietet, an der ein kleines Rad befestigt war, das normalerweise nicht den Erdboden berührte. Es sollte ein Vor- oder Zurückkippen des Fahrers verhindern. Um auf den Sattel zu gelangen, mußte der Fahrer im Laufen aufspringen, damit das Rad in Bewegung kam und nicht umkippte, ehe es mit den Pedalen angetrieben wurde. Mein von Gestalt kleiner Vater muß ein Akrobat gewesen sein, um auf den Sattel des Ungetüms, aber auch wieder von ihm heruntergekommen zu sein. Eine Fahrt bei einer solchen Radübersetzung auf den schlechten, nicht befestigten Straßen war bestimmt eine Strapaze, zumal es keine Luftreifen, nur Holz- oder Hartgummireifen gab. Verletzungen waren bei dieser Sportart an der Tagesordnung.
Von 1916 bis 1919 lebten wir in dem von Raudten zwei Kilometer entfernten Dorf Polach . Die dortige Wassermühle mit dem über ein Morgen großen Obstgarten gehörte meinem Vater. Anstelle des alten Hauses hatte er ein neues mit Erd- und Obergeschoß, Dachboden und flachem Dach bauen lassen. Anfangs wohnte sein Bruder Reinhold mit Familie in dem Neubau. Er war Feinmechaniker und hatte einen großen Raum als Werkstatt eingerichtet. Sein Sohn Martin war Dentist und hatte auch einen Raum für die Patienten. Das Wasserrad der Mühle war seinerzeit nicht abgerissen worden. Es diente dazu, Wasser in einen Tank auf dem Dachboden zu pumpen, aus dem die Wasserleitung des Hauses versorgt wurde: Damals wohl die erste Wasserleitung in weitem Umkreis. Außerdem hatte mein Onkel das Haus "elektrifiziert": In unserem Haus in Polach sorgte das Waserrad dafür, daß ein Stromaggregat die Hausleitung mit elektrischer Energie versorgte, so daß abends nicht Kerzen oder Petroleumlampen Licht im Haus spendeten - sondern Glühbirnen. Ebenfalls damals eine Einmaligkeit weit und breit, erfolgte doch die Energieversorgung durch die Überlandzentrale erst im Jahr 1924. Im Haus in Raudten hatte mein Vater eine Gasleitung legen lassen, die Gaslampen wurden mit Azetylen gespeist. In einen mit Karbid gefüllten Behälter wurde Wasser geleitet, wodurch sich das entsprechende Gas entwickelte.
Im Jahr 1916 zog mein Onkel mit seiner Familie nach Polkwitz. Er modernisierte nicht nur ständig sein Haus, er vermittelte sein Wissen auch an seine Umwelt, seine Mitbürger: Er war Fahrlehrer und brachte den damals noch wenigen Bewerbern das Autofahren bei.
Nun, da das Haus frei war, wohnten wir dort. Das Geschäft in Raudten wurde offengehalten. Mein Vater fuhr täglich mit dem Fahrrad in die Stadt. Als er schwer erkrankte, konnte meine Mutter das Geschäft nur kurze Zeit weiterführen. Sie verlegte es bald nach Polach, und die Folge war, daß der Umsatz zurückging. Bedingt durch den Krieg, erhielt sie überdies nur wenig Waren zum Verkauf zugeteilt. Wie sie es trotzdem schaffte, zwei ihrer Kinder nach Hirschberg im Riesengebirge und mich nach Lüben aufs Gymnasium zu schicken, bleibt mir ein Rätsel.
Mein Vater starb im Oktober 1917; im Frühjahr 1919 zogen wir nach Raudten zurück, wo meine Mutter das Geschäft wiedereröffnete. Das Polacher Grundstück verpachtete sie erst, verkaufte es aber während der Inflationszeit, weil sie sich, wie soviele andere, nicht vorstellen konnte, daß Geld - im Gegensatz zum Grundbesitz-einmal keinen Gegenwert haben würde, die Geldscheine bloße Makulatur werden sollten. Dieses Haus in Polach wurde Anfang 1945, während der schweren Kämpfe im Raum Raudten, zusammen mit anderen zerstört. Heute ist das ganze Dorf Polach verschwunden, weil der neu entstandene Stausee die Dörfer Tarnau, Barschau und Polach unter sich begraben hat.
Im Jahre 1918 ging zwar der Krieg zu Ende, aber nicht Hunger und Not. Hinzu kam die allmählich um sich greifende Inflation, die auch noch den letzten Spargroschen verschlang. Trotz Geldentwertung und meist nur minderwertiger Waren gelang es meiner Mutter, die Firma F. R. Beyl durch die Inflationszeit zu bringen. Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß das am Morgen eingenommene Geld am Abend bereits wertlos war. Da der US-Dollar stabil war, wurde er zur Leitwährung und Richtschnur für die Geldwertbemessung. Rechnungen wurden in US-Dollar ausgestellt, und gerissene Geschäftsleute, Handwerker und Bauern hielten ihre Waren zurück oder tauschten sie heimlich gegen andere Waren und Wertgegenstände. Als schließlich im November 1923 die Rentenmark (gefolgt von der Reichsmark im August 1924) eingeführt wurde, waren zwar zehn Milliarden Mark nur noch einen Rentenpfennig wert, aber alles atmete erleichtert auf. Der Spuk hatte ein Ende. Ich kann mich noch gut erinnern, daß meine Mutter vor Glück weinte, als sie die ersten Geldscheine über 25 Rentenpfennig und eine Rentenmark eingenommen hatte.
Bis zur Verheiratung hatten meiner Mutter die beiden Töchter Marie und Paula (Mietze und Mime) geholfen, Marie jedoch nur kurze Zeit, weil sie als gelernte Drogistin noch Kenntnisse in anderen Drogerien sammeln wollte. Durch ihre Heirat mit dem Lehrer Erich Obst kehrte sie aber nach Raudten nicht mehr zurück.
Im Jahr 1926 verpachtete meine Mutter die Firma F. R. Beyl an ihren Schwiegersohn Erich Zaske. Die Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre machte ihm schwer zu schaffen. Durch die entstandene Geldverknappung wurde die Kauflust der Bevölkerung ständig geringer, der Warenabsatz stockte und die Arbeitslosigkeit nahm zu, was zu weiterem Schwund an zahlungskräftigen Käufern führte: Ein Teufelskreis war entstanden. Als im Jahr 1936 mein Schwager sich selbständig machte, übernahm meine Mutter wieder die Firma und baute mit Hilfe des Drogisten Joachim Greczmiel, den sie eingestellt hatte, vor allem das Fotolabor aus. Im 2. Weltkrieg litt das Geschäft erneut unter Warenmangel. Das 90jährige Firmenjubiläum wurde am 12. Juli 1943 sehr schlicht gefeiert. Ein Jahr später pachtete der wegen des Bombenterrors aus Berlin evakuierte Drogist Haase das Geschäft; seiner Familie überließ meine Mutter einige Wohnräume. Als am 26. Januar 1945 Raudten wegen des Heranrückens sowjetischer Truppen geräumt wurde, verließen auch meine Mutter und Familie Haase den Ort. Eine Rückkehr nach Raudten und eine Weiterführung der Firma F. R. Beyl verhinderte der weitere Verlauf der Geschichte.
Leopold Beyl in LHB 19/20/1963