Erinnerungen von Leopold Beyl (1909-1986)
Heinz Birk (1922-2006)














Leopold Beyl war der Sohn des Drogeriehändlers Beyl am Ring Nr. 11 in Raudten. Auf meiner Website gibt es von ihm Erinnerungen an die elterliche Drogerie Beyl, das Schützenfest in Raudten, die Kleinbahn Raudten-Polkwitz, über Polach und Beitkau und an das Abitur seiner Klasse im Jahr 1930. Hier folgen Erinnerungen an seine Zeit am Gymnasium in Lüben, besonders als Fahrschüler zwischen Raudten und Lüben und an die Lehrer am Gymnasium. Bescheiden wie er war, gibt es von ihm kaum Abbildungen. Auf einem Klassenfoto des Gymnasiums ist er jedoch - ziemlich versteckt - zu sehen. Ich wäre dankbar für Bilder von ihm, die hier eingefügt werden könnten.

Erinnerungen eines Fahrschülers

Ich besuchte während der zwanziger Jahre die Lübener Penne - es war das Reform-Realgymnasium. Die ersten und die letzten Jahre meiner Schulzeit war ich in der Pension von Muttel Zeutschner auf der Kasernenstraße untergebracht. In der dazwischenliegenden Zeit kam ich täglich mit dem Zug von Raudten nach Lüben. Wenn ich jetzt von dieser meiner Fahrschülerzeit erzähle, läßt es sich nicht immer vermeiden, auch einige Begebenheiten zu schildern, die sich innerhalb der Pensionszeit zutrugen, weil sonst einige Geschehnisse unverständlich bleiben.

Meine liebe Mutter nahm mich während der Inflationszeit aus der Pension, weil es ihr sehr schwerfiel, die im rasenden Galopp steigenden Preise aufzubringen, denn am Ende der Inflation war eine Billion nur eine Briefmarke wert. Als es endlich wieder eine stabile Währung gab, war sie auch nicht in der Lage, einen Pensionspreis von 100 bis 110 Mark und ein Schulgeld in Höhe von 21 Mark monatlich ohne weiteres hinzulegen. Dieser Betrag war in der damaligen Zeit sehr viel Geld.

Auch andere Eltern, die außerhalb Lübens wohnten und es irgendwie ermöglichen konnten, gaben ihre Kinder, sofern sie nicht bei Verwandten unterkamen, nicht in die Pensionen von Frau Zeutschner auf der Kasernenstraße oder Frau Baumgärtner in der Faulhaberstraße bzw. in das unter der Aufsicht von zwei Lehrern stehende Städtische Alumnat auf der Haynauer Straße.

So gab es eben zahlreiche Fahrschüler, die mit dem Fahrrad, dem Pferdefuhrwerk (Autos konnten sich nur Schwerreiche leisten) oder der Eisenbahn täglich von weither zur Schule fuhren.

Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß das Lübener Realgymnasium, das im Laufe der Jahre in ein Reformgymnasium umgewandelt wurde, nicht nur Schüler des Kreises Lüben besuchten, sondern auch solche, deren Eltern in Liegnitz, Wohlau, Winzig, Bunzlau, Oberschlesien, Schneidemühl, Berlin, Ostpreußen und anderswo wohnten.

Wie ich schon sagte, war unsere Penne ein Realgymnasium, d. h. in der Sexta, der untersten Klasse, begann der Fremdsprachenunterricht mit Latein. In der Quarta kamen Französisch und in der Untertertia Englisch als Fremdsprachen dazu.

Anfang der zwanziger Jahre, wohl 1921, wurde der Schultyp bis zum Jahre 1930 in ein Reformgymnasium umgewandelt. (Die Abiturienten des Jahres 1930 waren noch Realgymnasiasten, die des Jahres 1931 Reformgymnasiasten.) Beim Reformgymnasien war die erste Fremdsprache Französisch; Englisch und Latein folgten in Quarta und Untertertia.

Unsere Penne war ursprünglich eine reine Jungenschule. Die Lübener Eltern, die ihre Mädchen die letzten Oberschuljahre nicht nach Liegnitz aufs Lyzeum schicken wollten, setzten sich durch und erreichten, daß ihre Mädchen auch das Gymnasium der Heimatstadt Lüben besuchen durften. Wenn ich mich nicht irre, hatten sie diese Schlacht um die gemeinsame Erziehung oder die Koedukation, wie man heute hochtrabend sagt, im Jahre 1926 gewonnen.

Die erste Schülerin der Oberklassen war die hochbegabte und sehr gute Kameradin Grete Paschke, die Tochter des Eisenwarenkaufmanns Paschke auf der Steinauer Straße. Ostern 1926 mußte Grete Paschke eine Aufnahmeprüfung in allen Fächern ablegen, die sie mit großem Erfolg bestand. Es war eine beachtliche Leistung insofern, da sie durch Privatunterricht bei Herbert Baumgärtner innerhalb von neun Monaten (!) sechs Schuljahre nachholte. Erwartungsvoll sahen wir dem Einzug der künftigen Klassenkameradin entgegen. Hans Helmut Richter aus Guhrau hatte zur feierlichen Gestaltung dieses einmaligen Ereignisses dem Schulhauswart Herrn Siebenhaar eine seiner Geranien geklaut und auf den für Grete Paschke bestimmten Platz gestellt. Als sie nun bangen Herzens den für sie unbekannten Klassenraum betrat, verflog beim Anblick des kläglichen Blümchens ihre Befangenheit und ein strahlendes Lächeln glitt über ihre Züge. Bald schon duzten wir uns alle mit ihr und nahmen sie als gleichberechtigte Kameradin in unsere Mitte auf. In der heutigen geschwollenen Redeweise würde es heißen: sie wurde voll integriert. Ihre große Begabung und ihr umfassendes Wissen erkannten wir neidlos an. Wir wunderten uns nur, wo sie die Kraft und die Zeit zum Lernen hernahm. Sie mußte nämlich oft auch außerhalb der Schule der Mutter im Haushalt helfen. Ihr Abitur war einfach Spitzenklasse!

Zu dieser Zeit war die Höhere Töchterschule noch nicht aufgelöst, dies geschah erst Anfang der 30er Jahre. Die weiteren Mädel wurden ohne Aufnahmeprüfung aufgenommen. In der nachfolgenden Klasse (1927) war ebenfalls nur ein Mädchen (Irmgard Treutler) in der Untertertia. Als die Anzahl der Schülerinnen wuchs, wurde für den weiblichen Turnunterricht, den Näh- und Handarbeitsunterricht eine Lehrerin eingestellt. Als erste Lehrkraft kam Fräulein Zander, ein junges charmantes Wesen. Sie wurde auch von den Schülern voll respektiert. Da ich gerade bei den Lehrern bin, will ich noch darauf hinweisen, daß Anfang der zwanziger Jahre aus dem Leiter der Schule (dem Direktor) ein Studiendirektor, aus den akademisch vorgebildeten Oberlehrern Studienräte und aus den Lehrern (ausgebildeten Volksschullehrern, die an einer Oberschule unterrichteten) Oberschullehrer wurden.

Nun aber zurück zur Fahrschülerzeit. Während die anderen Schulkameraden noch früh lange schlafen konnten, mußte ich während der Schulzeit täglich kurz vor 5 Uhr aufstehen, mich schnell waschen, anziehen und frühstücken. Dann im Trab zum Bahnhof, weil der Liegnitzer (der Zug, der über Rinnersdorf, Koslitz, Lüben, Vorderheide, Rüstern nach Liegnitz fuhr) bereits gegen 5.40 Uhr nach Lüben abging. Im Sommer war der Lauf durch die stillen Straßen meines noch schlafenden Heimatstädtchens sehr angenehm, während der anderen Jahreszeiten dagegen weniger, weil die Straßen mäßig beleuchtet waren. Zur Vollmondzeit, auch wenn der Himmelskörper von Wolken verdeckt unsichtbar blieb, war die Beleuchtung ausgeschaltet. Vor 1926, als die Straßen noch nicht die Kleinpflasterdecke aus Strehlener Granit, dem besten Europas, und die mit Platten belegten Bürgersteige hatten, mußte ich in der Dunkelheit sehr darauf achten, daß ich auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Bürgersteige nicht stolperte und bei Schnee, Eis oder Regen nicht ausrutschte. Außerdem gab es keine geraden Bordsteine, und vor vielen Hauseingängen ragten die Treppenstufen vor der Neugestaltung der Straßen weit auf die Bürgersteige (Trottoir genannt). Ein Sturz in der Dunkelheit war jederzeit möglich.

An der Bahnhofssperre war dem Knipser die Schülermonatskarte vorzuweisen. Hatte ich sie vergessen, mußte ich eine Fahrkarte kaufen, die 50 oder 60 Pfennig für eine Fahrt nach Lüben kostete. Für mich bei drei, später fünf Mark Taschengeld im Monat ein sehr hoher Betrag. Eine Schülermonatskarte 4. Klasse kostete nur vier oder fünf Mark. Verraten muß ich schon, wenn ich meine Monatskarte nicht bei mir hatte, was allerdings selten vorkam, kaufte ich mir auf dem Bahnhof Raudten-Stadt keine Fahrkarte, weil mich die Raudtener Bahner alle gut kannten und auf das Vorzeigen der Karte verzichteten. Mit etwas klopfendem Herzen schlängelte ich mich am Knipserhäuschen vorbei, sauste erleichtert die Treppen der Unterführung hinunter und zum Liegnitzer Bahnsteig wieder hinauf. Wenn der Zug einlief, achtete ich darauf, aus welchem Abteil der Zugschaffner ausstieg, kam er aus einem 4.-Klasse-Abteil, ging ich dort hinein, weil ich damit rechnen konnte, daß der Schaffner bis Lüben nicht mehr dort zustieg. Ging das nicht, beobachtete ich auf jedem Bahnhof heimlich, ob er in mein Abteil einsteigen wird, um schnell in der Toilette unbemerkt vor ihm verschwinden zu können.

Die Züge damals hatten nicht nur 1.und 2. Klasse, sondern auch 3. und 4.-Klasse-Wagen. Die Abteile waren nicht zum Durchgehen, sondern jedes war für sich abgeschlossen oder zwei hingen zusammen. Die Sitze der 1. und 2.-Klasse-Wagen waren gepolstert, die der 3. und 4. Klasse nicht. Die 4.-Klasse-Wagen waren für Reisende mit Traglasten gedacht. Deshalb waren diese Abteile nicht schmal, sondern breit und hatten an zwei Seiten je eine Tür mit Fenster und außerdem noch je ein breites Fenster. Auf den Seiten links und rechts von der Tür befanden sich Holzbänke, darüber Bretter zur Kleingepäckablage. In dem großen Freiraum zwischen den Bänken konnte das Großgepäck (Koffer, Körbe u. a.) abgestellt werden oder er diente als Stehplatz. Wenn die Bauern zum Markt fuhren, waren diese Abteile sehr voll.

In Lüben angekommen, ging es ohne Fahrkarte durch die Sperre. Hier verlangten aber die Knipser, die Karte zu sehen. Einer von ihnen war besonders darauf verpicht, einen der vergeßlichen Tunichtgute zu schnappen. Wir Fahrschüler schlugen ihm aber meistens ein Schnippchen. Wir drängten uns unter die Masse der Aussteigenden und ließen uns von der Menge durch die Sperre drücken, während wir zur Täuschung des Knipsers die Schultasche geöffnet in der einen Hand hielten und mit der anderen zwischen den Büchern und Heften aufgeregt nach der nicht vorhandenen Monatskarte suchten.

Schwieriger wurde es bei der Heimfahrt. Wir Fahrschüler blieben deshalb, bis der Zug einlief, hinter den Fenstern des Bahnhofwarteganges und beobachteten noch, aus welchem Abteil der Zugschaffner stieg. Wenn die ersten Fahrgäste an der Sperre anlangten, rasten wir zur Sperre, japsten, als ob wir vor lauter Rennerei keine Luft bekämen und nahmen den Vergeßlichen in die Mitte. Wir Kartenbesitzer fuchtelten aufgeregt mit diesen Karten dem Knipser vor der Nase herum und stürmten wie die wilde Jagd in das voraussichtlich nicht mehr kontrollierte Abteil. Später erschien es mir sicherer, am Schalter in Lüben eine Fahrkarte zu kaufen, jedoch wieder in letzter Minute durch die Sperre zu rasen, ohne die Fahrkarte vorzuzeigen. Gelang der Trick, ich kann mich nicht erinnern, daß je einer von uns erwischt wurde, gaben wir am nächsten Tag die Fahrkarte zurück mit den Worten, daß der Bekannte, für den die Karte gekauft wurde, nicht mitgefahren sei. Wir erhielten das Geld zurück.

Für das Bahnpersonal und die Mitreisenden waren wir nicht immer eine Freude, denn wir waren keine Musterkinder, benahmen uns oft laut und störend, balgten uns und hatten viele Dummheiten im Kopf. Ging das lose Treiben auf dem Bahnsteig los, bevor der Zug einlief, schielten wir zur Wohnung des Bahnhofsvorstehers Rehmie, ob uns dort seine Tochter Erika oder seine Frau zusahen. Wir bildeten uns nämlich ein, sie würden den Vater sofort unterrichten, damit er uns zusammenstaucht.

Die Zugschaffner, die wir alle und die uns alle kannten, hatten auch ihren Kummer mit uns. Sie kamen je nach Temperament mit uns gut oder schlecht aus. Für einen von ihnen waren wir das rote Tuch. Wo er uns schikanieren konnte, tat er es. Wir mieden ihn, soweit das möglich war. Eines Tages hatte er seine Gedanken woanders und rief in Lüben als Station laut "Vorderheide" aus. Für uns ein gefundenes Fressen. Wir äfften ihn sofort nach und pläkten auch auf den anderen Stationen aus den Fenstern "Vorderheide! Vorderheide!" Er rannte mit einem roten Kopf herum, sagte aber nichts. Von diesem Tage an hatten wir vor ihm Ruhe.

Je einmal in der Woche fuhr eine Dame aus Groß-Rinnersdorf nach Lüben und benutzte für die Rückreise unseren 14-Uhr-Zug. Über unser Benehmen ärgerte sie sich ständig. Eines Tages trieben wir es in dem Abteil wohl gar zu toll. Sie fauchte uns an: "Die heutige Jugend ist roh und gemein. Zu meiner Zeit war das ganz anders." Dieser zornige Ausspruch war Wasser auf unsere Mühlen der Frechheit. Als sie in Rinnersdorf ausstieg, schrien wir diesen Ausspruch aus dem Fenster, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Von da ab mied sie uns wie Aussätzige.

Unser Gemüt war aber auch für die Schönheiten der Natur zugänglich. Wir freuten uns über die Sonnenaufgänge, über die schneebedeckten Felder und verschneiten Wälder, über alles, was grünte oder blühte, was da kreucht und fleucht. Wir wußten genau, wo Rehe standen und Hasen, Kaninchen oder Bussarde zu sehen waren.

Über eine für mich ärgerliche Begebenheit muß ich noch berichten. Trotz des so frühen Aufstehens habe ich den Zug nur einmal verpaßt, und zwar auch noch an einem Ausflugstage. Diesen Pechtag kann ich nicht vergessen.

Aus Ersparnisgründen wurde der 14-Uhr-Personenzug aus dem Verkehr gezogen. Nun konnten wir erst viel später heimfahren, bis dann meine Mutter bei der Reichsbahn-Direktion durchsetzte, daß ich und auch die anderen Fahrschüler den gegen 14.30 Uhr in Lüben abfahrenden Güterzug für die Heimfahrt benutzen durften. Diese Fahrten waren für uns besonders interessant, weil wir im Wagen des Zugführers reisten. So bekamen wir persönlichen Kontakt mit den Bahnern und konnten auf jedem Bahnhof die Rangiererei beobachten. Allerdings dauerte die Reise, je nachdem wie oft rangiert werden mußte, eine halbe bis eineinhalb Stunden länger. Als später ein Personenwagen eingeschoben wurde, damit auch andere Reisende mitfahren konnten, war die Fahrt nicht mehr so schön.

Das größte Übel der Fahrschulzeit war die viele verlorene Zeit. Gegen 6 Uhr morgens waren wir in Lüben. In der Schule warteten wir bis zum Schulbeginn, im Sommer bis um 7 Uhr, im Winter bis um 8 Uhr. Nach dem Schulende mußten wir bis um 14 Uhr bzw. während der Güterzugzeit bis 14.30 Uhr und länger herumsitzen. Daheim traf ich erst gegen 15 Uhr und später ein. Nach dem späten Mittagessen wollte ich mich auch nicht gleich auf die Schularbeiten stürzen und schob sie hinaus. Eine gründliche Arbeit war nicht möglich, höchstens an den Sonntagen. Um 21 Uhr mußte ich bereits zu Bett gehen, damit ich am nächsten Morgen einigermaßen ausgeschlafen war. Ich verschob manche Schularbeit auf den nächsten Tag früh in der Schule. Viel machte ich da auch nicht, weil das Schwätzen oder Spielen mit den anderen Fahrschülern angenehmer war. Obwohl ich gern in die Schule ging, hatte ich aus den eben aufgeführten Schwierigkeiten eine große Abneigung gegen Schularbeiten und wegen der mangelhaften Vorbereitung gegen das Abfragen der gestellten Aufgaben oder das Vorweisen der schriftlichen Hausarbeiten. Noch heute beneide ich die Schüler, die Schulen besuchen können, in denen Hausaufgaben zu stellen verpönt ist.

Mir blieb halt nichts anderes übrig, als mich recht und schlecht durchzumogeln. Bei schriftlichen Hausaufgaben war das schwierig. Meine Schutzbehauptung, ich hätte nicht begriffen, zog höchstens ein- oder zweimal. Beim mündlichen Abfragen bluffte ich mit einem sicheren Verhalten. Stellte der Lehrer eine Frage, sah ich ihn unbekümmert an und meldete mich eifrig, weil jeder Lehrer die Schüler drannimmt, die sich nicht melden oder ängstlich wirken. Kam ich doch dran, nützte mir ein Drumherumreden oder eine Ausrede allerdings wenig, und eine Vier oder Fünf in seinem Notizbuch war fällig. (Vier war mangelhaft, fünf ungenügend.) Konnte ich die Frage beantworten, sah ich den Pauker ängstlich an und erreichte meistens, drangenommen zu werden.

Die ersten Jahre waren wir nicht allzu viel Fahrschüler. Wir verteilten uns auch auf mehrere Klassen. Anfangs war ich der einzige Raudtener. In Koslitz stiegen der Försterssohn Helmut Schulz und der Lehrerssohn Erich Fitzner, später noch sein Bruder Ernst zu. Aus Mlitsch und Oberau kamen sie mit Pferdekutschen, die beim Droschkenkutscher Schulz auf der Schulpromenade eingestellt wurden. Zu diesen Fahrschülern gehörte auch in den Sommermonaten Schägner Kurtel, wenn er in Mlitsch bei seiner Tante wohnte. Im Winter war er bei Muttel Zeutschner in Pension. Er ist ja allen Lübenern von seinen Vorträgen in schlesischer Mundart bekannt. Wer lachte wohl bei ihm nicht, wenn er todernst die ulkigsten Gedichte vortrug oder Geschichten erzählte?

Aus den umliegenden Dörfern kamen mehrere mit Fahrrädern. Im Laufe der Zeit waren wir eine stattliche Anzahl, auch Liegnitzer waren darunter.

Eine von uns Fahrschülern besonders zu respektierende Persönlichkeit war der Pedell Siebenhaar, Wegen uns mußte er schon gegen 6 Uhr morgens die Schulhoftür und eine Hintertür der Schule aufschließen. Hatten wir ihn zu sehr geärgert, z. B. Kleiderhaken auf den Fluren beim Spielen abgebrochen, seine Blumen beschädigt oder andere dumme Streiche begangen, schloß er die Türen eben nicht rechtzeitig auf, und wir mußten im Freien warten. Bei Regen und Kälte war das sehr unangenehm. In einem kalten Winter hatten wir in dem Heizungskeller zuviel Unfug getrieben. Früh hielten wir uns dort gern auf, weil die Klassenräume so zeitig noch nicht durchwärmt waren. Zur Strafe öffnete er einige Tage lang erst sehr spät, und wir froren jedesmal gewaltig. Unser Murren erreichte ihn nicht. Wir griffen zur Selbsthilfe und entriegelten vor der Heimfahrt unauffällig die Kellerfenster, um am nächsten Morgen durch sie einsteigen zu können. Er durchschaute bald den Trick und sorgte für geschlossene Fenster. Jetzt benutzte einer von uns ein Stück Draht als Dietrich und wir waren in der Schule. Nun riß Herrn Siebenhaar der Geduldsfaden. Er meldete den "Einbruch" dem Direx. Uns wurden die Leviten verlesen und der Hauptübeltäter erhielt einen Verweis. Die Tür war jedoch von da ab wieder rechtzeitig offen.

Das Hauptportal der Schule schloß er erst so fünfzehn bis zwanzig Minuten vor Schulbeginn auf. Wer zu zeitig - ausgenommen die Fahrschüler - da war, mußte warten. Pünktlich schloß er die Tür wieder ab. Wer zu spät kam, war dann gezwungen, um die Schule herum durch den Schulhof und Keller in seine Klasse zu eilen. Stand ein Nachzügler in seiner Gunst, ließ er ihn noch unter verärgertem Brummen durchs Hauptportal hinein.

An Herrn Siebenhaar habe ich aber auch viele schöne Erinnerungen. Ich verbrachte oft in seiner Wohnstube nach Schulende die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Glücklich war ich, wenn er mir seine Erlebnisse als Soldat der deutschen Schutztruppe in unserer ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika erzählte. Als er den Verkauf von sterilisierter Trinkmilch unter sich hatte, kaufte ich sie mir auch bei ihm, seiner lieben Frau oder seinen netten Töchtern.

In der Wartezeit vor Schulbeginn und nach Schulschluß saßen wir nicht gern über unseren Schularbeiten, sondern beschäftigten uns lieber mit anderen Dingen. Im Sommer verbrachten wir die freie Zeit bis zur Abfahrt gern in der Badeanstalt, wo Studienrat Vetter und Lehrer Zingel Stammgäste waren. Wir tobten auch gern durch die Schulräume, spielten Karten, bastelten, lasen oder beschäftigten uns mit anderen interessanten Dingen. Kam ein Lehrer, um Geräte für chemische oder physikalische Versuche aufzubauen, halfen wir mit Feuereifer.

Heinz Gaede (aus Liegnitz?) schnitzte gut und gern. Eines Morgens hatte er bei dieser Beschäftigung viel Späne gemacht. Um sie auf einer Stelle zusammenzubekommen, nahm er den Hut, den Günther Feige im Flur hatte hängen lassen, und fächelte mit ihm so über die Späne, daß der Luftzug sie an der gewünschten Stelle zusammenwehte. Unglücklicherweise spielten mit diesem Hut einige andere Schüler während der Pause Fußball auf dem geölten Flurfußboden, so daß der Hut schmutzig wurde. Diese Spieler konnten nicht festgestellt werden. Bekannt aber war, daß Heinz den Hut zur Säuberung der Klasse verwendet hatte. Die wir früh in der Klasse waren, mußten zum Chef zum Verhör. Er, der für die Fahrschüler ein warmes Herz hatte, war über die Beschädigung fremden Eigentums jedoch so empört, daß er unsere Darstellung als eine Schutzbehauptung ansah. Er blieb bei seiner Ansicht, daß Heinz mit dem Hut nicht gefächelt, sondern gefegt hatte. Er verwarnte uns streng, sprach aber zu unserer Erleichterung für Heinz kein Schulverbot aus.

Die Lehrer des Reformgymnasiums Lüben nach Ostern 1930

Die Lehrer des Reformgymnasiums Lüben nach Ostern 1930: Von links, stehend: Studien-Assessor Hans Schumann (Oberstudiendirektor), akademischer Zeichenlehrer Friedrich-Wilhelm Halfpaap (Oberlehrer), Studienrat Paul Fiedler, Erwin Vetter (Studienrat/Oberstudiendirektor), Studienrat Dr. Konrad Weisker, Studien-Assessor Arved Haase, Studien-Assessor Freudenthal, sitzend: Oberlehrer Gustav Zingel, Studienrat Dr. Albert Krusche, Studiendirektor Erich Tscharntke, Studienrat Heinrich Munderloh, Studienrat Dr. Martin Treblin.

Als ich mit meiner Mutter wegen der Anmeldung das erste Mal in die Penne kam, gingen wir in das Direktorzimmer im 1. Stock, wo Direktor Tscharntke uns empfing. Ich merkte gleich, daß der Mann sich nicht auf der Nase herumtanzen läßt. Im Laufe der Jahre begriff ich, daß eine Schule mit starker Hand geleitet werden muß. Immer wieder geschahen unangenehme Dinge, die oft nicht einmal den Schulbetrieb unmittelbar betrafen, wie schlechte Leistungen, Widersätzlichkeit gegen die Lehrer, Sachbeschädigungen, Schlägereien oder anderes, sondern auch Geschehnisse außerhalb des Schulbetriebes wie Mädelgeschichten, Einbrüche, Getreideschiebungen (in der Inflationszeit) u. a. m.
In schwerwiegenden Fällen mußte der Chef oder Direx, so nannten wir den Studiendirektor, hart bleiben und sogar einen Schulverweis aussprechen. Der Chef bemühte sich jedoch, menschlich gerechte Entscheidungen zu treffen.

Seine Hauptunterrichtsfächer waren Mathematik und Chemie. Während seines strengen Unterrichts gab es aber auch etwas zu lachen. Wenn er im Chemieunterricht über das Glaubersalz sprach, quittierten wir seine Bemerkung "Glaubersalz ist ein Abführmittel für Schweine, aber nicht für Sie, meine Herren" stets mit einem brüllenden Gelächter. Als er einmal beim Betreten des Chemiesaales sich äußerte: "Ich sehe einige, die nicht da sind", lachten wir lauthals. Er war ganz verdutzt, lachte dann aber auch. Durch eine Kriegsverletzung war seine rechte Hand steif (er schrieb mit der linken und sogar leserlich). Wenn er seinen Hut vom Kopfe nahm, steckte er ihn oft beim Betreten der Klasse vor dem Aufhängen unter die rechte Achsel und preßte ihn an den Körper. Eines Tages geschah das wieder. Er glaubte dann wohl, er hätte ihn schon auf den Kleiderständer gehangen oder irgendwohin gelegt, denn plötzlich begann er ihn zu suchen. Wir Bösewichte schwiegen grinsend. Als er ihn endlich unterm Arm entdeckte, ging das Gelächter an, in das er einstimmte. Ein Fehler von ihm war zu glauben, er könne von seinen Schülern während des Unterrichts und besonders während der Klassenarbeiten nicht bemogelt werden. Da irrte er sich jedoch gewaltig. Gerade bei ihm machten wir uns einen Sport daraus, unbemerkt vorzusagen oder abzuschreiben. Diebisch freuten wir uns, wenn er die Übeltäter nicht bemerkte.

Als Chef der Schule bestand sein Ehrgeiz darin, Abiturienten mit einem umfassenden Wissen in allen Fächern aus der Schule zu entlassen. Er warnte uns deshalb ständig vor der Reifeprüfung mit den Worten: "Tippen Sie nicht, meine Herren." "Tippen" bedeutete im Schülerjargon, daß vor einer Klassenarbeit oder Prüfung genau überlegt wurde, welches Thema könnte an der Reihe sein. Auf dieses Thema beschränkte sich dann meistens unser Lerneifer, d. h. wir tippten. Wir hatten nämlich die Erfahrung gemacht, daß die Lehrer in ihrem eigenen Interesse keine zahlreich schlecht benoteten Schüler wollten. (Wenn in einem Fach der größte Teil der Klasse schlecht war, taugte der Lehrer doch nichts. Wollten wir einen Lehrer fertigmachen, lernten wir deshalb in seinen Unterrichtsfächern nichts.) Die Pauker nahmen daher oft vor einer Prüfung oder Klassenarbeit ein bestimmtes Gebiet mit besonderer Sorgfalt durch. Hatten wir dann trotzdem falsch getippt, war unsere Bedrängnis groß. Davor wollte der Direx uns beim Abitur bewahren. Seine Appelle blieben jedoch wirkungslos, weil selten eine Tippniete gezogen wurde.

Als ich ihm einmal bei einem Schwefelsäureversuch half, sprang das Glas und die Säure spritzte in der Gegend herum. Er erschrak, glaubte auch, sein Arbeitskittel sei bespritzt, gab mir einen leichten Schlag und rief ärgerlich: "Sie Schwein!" Anschließend war zwei Stunden Zeichenunterricht. Danach ließ er mich rufen, gab mir die Hand und sagte: "Leo, Sie konnten nichts dafür. Entschuldigen Sie bitte mein Verhalten!"

Mir selbst war ganz mulmig, als ich gerufen wurde, weil ich aus einem anderen Grunde ein sehr schlechtes Gewissen hatte. Ich war glücklich, daß alles gut für mich verlief. Im Zeichenunterricht hatte Papen (der Zeichenlehrer Halfpaap) drei Kameraden und mir gestattet, in die Stadt zu gehen und uns irgendein Motiv zu suchen, weil wir mit unseren Linolschnitten fertig waren. Wir hatten uns das Portal der Schloßkapelle ausgesucht, um nicht lange zeichnen zu müssen. Bald waren wir fertig und verschwanden im Hinterstübchen des Hotels zum "Grünen Baum", um ein Bier zu trinken. Da es für Schüler streng verboten war, ohne Begleitung von näheren Angehörigen ein Lokal aufzusuchen, noch dazu während des Unterrichts, paßte "Kurtel", der Ober, mächtig auf, um uns rechtzeitig zu warnen, falls gerade ein Pauker auftauchen sollte. Erst nach dem zweiten Bier trollten wir uns wieder in die Schule. Als der Chef meinen Typ verlangte, glaubte ich, ich sei von jemandem verpetzt worden. Das hätte den Verweis von der Schule bedeuten können, falls ich mich nicht hätte glaubwürdig herausschwindeln können.

Die Sitten und Gebräuche der Schule waren streng. Auf ihre Einhaltung wurde vom Chef und dem Lehrerkollegium genau geachtet. Lokalbesuche waren untersagt. Als Untersekundaner durften wir am Sonntag und auch an einem bestimmten Wochentag die Konditorei Neumann, später auch Hilbig aufsuchen. Ab 21 Uhr hatten alle Schüler daheim zu sein. "Ausnahmsweise" wurde gegen den abendlichen Bummel auf dem Ring zwischen 18 und 19 Uhr nichts eingewendet, obwohl die holde Weiblichkeit dort stark vertreten war. Als jugendliche Wasserratten baten, die Badeanstalt wenigstens an einigen Tagen oder Stunden für einen Familienbadebetrieb freizugeben, wurde dem Ansinnen wegen moralischer Bedenken nicht stattgegeben. Bademeister Pohl wird die Entscheidung begrüßt haben, weil ihm dadurch gewiß Ärger erspart blieb. Die Richtigkeit dieser Entscheidung möchte ich jedoch anzweifeln. Männliche und weibliche Badelustige radelten halt an schönen Sommertagen zu den Groß-Reichener Teichen, wo sie unter sich waren. In Schusters Kintopp, das erste deutsche Kino, durften wir auch nur gehen, wenn der betreffende Film von der Schulleitung freigegeben war.

Der erste Lehrer, mit dem ich von Anfang an zu tun hatte, war Gustav Zingel, von uns liebevoll, manchmal auch respektlos "Gustav" genannt. Bei ihm machte ich die Aufnahmeprüfung und hatte ihn in den unteren Klassen als Deutsch-, Rechen-, Naturkunde- und Schönschreiblehrer. Als Musiklehrer war er auch in den oberen Klassen tätig. Während der Aufnahmeprüfung war er durch sein väterliches Verhalten eine große Beruhigung für mich. Man muß wissen, daß ich in der für mich völlig fremden Umgebung zwischen unbekannten Mitprüflingen einen großen Bammel hatte.

Nach bestandener Prüfung war nicht die Beschaffung von Lehrmaterial beim Buchhändler Scholz auf dem Ring die größte Sorge, sondern die Anfertigung der schmucken blauen Schülermütze mit dem goldenen Streifen durch den Kürschnermeister Stenzel am Ring. Damals trugen die Schüler aller Klassen die blauen Schirmmützen, allerdings mit unterschiedlichen Bändern. Später erhielten die Primaner das Recht, weiße Mützen zu tragen.

Nun aber zurück zu Gustav Zingel. Bei ihm hatten wir gern Unterricht. Seine Güte nutzten wir jedoch manchmal schamlos aus. Im Botanikunterricht brachten wir ihm z. B. eine von uns verstümmelte Pflanze und fragten ihn scheinheilig, in welche Pflanzengattung sie einzureihen sei, weil sie nur soundsoviel Blüten- und Kelchblätter besäße.

Wenn er auch merkte, daß wir ihn veräppeln wollten, strafte er uns höchstens mit einem leichten Klaps oder "fauzte" uns, d. h. mit der linken Hand kniff er die Polster der rechten Gesichtsbacke und gab auf die linke einen gelinden Schlag. Hatten wir ihn allerdings zu sehr geärgert, züchtigte er uns mit der "Mangelkeule". Das war aber keine dicke Holzrolle, wie sie zum Wäschemangeln benutzt wird, sondern der Haselnußzeigestock. Den ließ er dann wild auf dem Hinterteil des Übeltäters tanzen, den er mit einer Hand festhielt. Zu unser aller Gaudium schrie der Gemaßregelte jämmerlich und sauste an Gustavs Hand im Kreise herum, damit die Wucht der Schläge gering wurde. Meistens setzte er sich nach der Züchtigung grinsend auf seinen Platz.

In Gustavs Musikunterricht liebten wir besonders die letzten Bankreihen, auf die die Nichtsänger und die Stimmbrucher verwiesen wurden. Hier konnte man sich ziemlich ungestört auf die nächste Stunde vorbereiten oder 66 spielen. Manch einer gab an, stimmlich unpäßlich zu sein, um hier die Stunde absitzen zu können. Ich hatte dort als unmusikalischer Nichtsänger einen Dauerplatz. Allerdings mußte ich mich ab und zu einer stimmlichen Zwischenprüfung unterziehen. Gustav beendete sie mit der ärgerlichen Feststellung: "Setz dich. Brummbär."

Im Schönschreibunterricht mußten wir nach dem Kommando "Auf und ab" oder "Eins und zwei" die Buchstaben malen. Ich gehörte zu seinen guten Schönschreibern, bereitete ihm aber trotzdem großen Kummer, weil ich sonst sehr unleserlich schrieb. In den Zensuren stand stets: "Schönschreiben 2", "Handschrift 4" (mangelhaft).

Mit leuchtenden Augen hörten wir ihm zu, wenn er uns von dem Freiheitskampf der Tiroler im Jahre 1809 gegen Napoleon unter der Führung von Andreas Hofer und dem Speckbacher erzählte. Dicht umlagerten wir ihn, wenn er uns anschaulich die Bilder vom Freiheitskampf erklärte. Besonders beeindruckend fanden wir das Bild von der Schlacht am Berg Isel, auf dem nach seinen Worten der Josef Speckbacher um die Ecke "linste" (linsen für scharf äugen). In der deutschen Grammatik war er unerbittlich bemüht, uns die schwierigen Regeln der Sprachlehre beizubringen. Was er uns lehrte, saß.

Lehrer des Gymnasiums in den 1930er Jahren

Von links, sitzend: Studienrat Heinrich Munderloh (Gittigitt), Studienrat Dr. Albert Krusche (Zassel), Studienrat Dr. Konrad Weisker (Bottel, Peff, Favour), Oberstudiendirektor Erwin Vetter (Chef, Direx), Oberlehrerin Margarete Leupold (Marta), Mittelschullehrerin Maria Schoen (Mia), Studienrat Dr. Martin Treblin (Trebbel); stehend: Studienrat Paul Fiedler (Spießer, Fifi, Collegio), Oberlehrer Friedrich-Wilhelm Halfpaap (Papen), Studienassessor Göbel, Studienassessor Erich Scheffler (Isidor), Studienrat Hans Schumann.

Es war üblich, daß ein Klassenlehrer eine Klasse drei Jahre führte. Studienrat Erwin Vetter - Oberstudiendirektor, nachdem Studiendirektor Tscharntke nach Breslau ging - hatte ich aber sechs oder sogar mehr Jahre als Klassenlehrer, was ich persönlich begrüßte, weil er mir trotz seines nüchternen Unterrichts sehr gefiel. Er war ein Lehrer, der uns auf Grund seines Wissens und Verhaltens nicht anregte, ihm einen Spitznamen zu geben. Wenn wir es gut mit ihm meinten, sprachen wir vom Erwin. Stets war er ruhig und beherrscht, achtete streng darauf, daß nicht gemogelt wurde. Er war zu meiner Zeit der einzige Lehrer, bei dem wir während einer Massenarbeit nicht unbemerkt abschreiben oder uns etwas zuflüstern konnten. Er hatte nämlich ein sehr gutes Gehör und stellte sich seitlich so geschickt hin. daß er mit seinen bebrillten Augen alles übersehen konnte. Was uns an ihm besonders imponierte, war sein Gerechtigkeitssinn, sein Eintreten für die Schüler seiner Klasse und seine Kameradschaftlichkeit, die wir während der ein- oder mehrtägigen Klassenausflüge kennenlernten. Sein Unterricht war klar und verständlich. Von uns verlangte er nicht nur ein ständiges Mitarbeiten, sondern auch ein kritisches Denken. In den Deutsch- und Geschichtsstunden sprachen wir über Tagesereignisse und debattierten mit ihm heftig über Dawes- und Youngplan oder die Herabsetzung des Wahlalters auf achtzehn Jahre. Auch wenn ein großer Teil von uns seine Meinung nicht teilte und wir ihn scharf angriffen, hatten wir nie darunter zu leiden. Vor dem Abitur beruhigte er uns mit den Worten: "Wer stets gelernt hat, braucht keine Angst zu haben. Es wird nur das verlangt, was durchgenommen wurde."

Als in der Unterprima zwei Klassenkameraden einem Schüler einer anderen Klasse, der auf Weisung von Studienrat Fiedler, den wir nicht leiden konnten, eine Landkarte aus unserem Raum holen sollte, von hinten die Jacke über den Kopf stülpten und ihn dann verprügelten und verschwanden, führte er eine strenge Untersuchung durch. Als er nichts aus uns herausbekam, appellierte er an das Ehrgefühl der Übeltäter und forderte sie auf, sich zu melden. Daraufhin standen alle 24 Schüler einschließlich der Damen auf. Dieser Klassengeist gefiel ihm so, daß er sich in der Lehrerkonferenz so für uns einsetzte, daß die Sache im Sande verlief.

Studienrat Dr. Krusche, Zassel genannt, unterrichtete Mathematik, Physik, Chemie und Naturkunde. Bei chemischen und physikalischen Versuchen baute er schon früh um 6 Uhr die dafür erforderlichen Geräte in der Schule auf. Wir Fahrschüler waren glücklich, wenn wir ihm dabei helfen durften. Zassel wurde so wegen seiner zasselnden Sprechweise genannt. Dabei schob er seine gelben Oberkieferzähne über die Unterlippe, ließ die listigen Äuglein hinter den Brillengläsern funkeln und preßte durch die Zähne: "Wissen Se, wissen Se, die nächste Ersatzarbeit wird nächstes Jahr geschrieben", oder: "Das Beste hoffen und auf das Schlimmste gefaßt sein" und anderes mehr. Er hielt einen strengen Unterricht und war gefürchtet, weil er trotz kleiner Figur hart durchgriff, wenn jemand zu mogeln versuchte. Ein Eintrag in das Klassenbuch war dann bestimmt fällig.

Wer in Mathematik gut war, brauchte ihn nicht zu fürchten. Gelernt jedenfalls haben wir bei ihm viel. Für schlagfertige Antworten, Zwischenrufe und witzige Dialoge war er aufgeschlossen. Eine passende Antwort hatte er stets zur Hand.

Mußte Zassel eine mathematische Aufgabe nochmals erklären, weil sie der eine oder andere nicht verstanden hatte, döste ich vor mich hin oder malte etwas in mein Heft oder machte eine dreckige Bemerkung. Plötzlich stand er vor mir und zasselte: "Wissen Se, wissen Se, Beyl schläft, lästert oder moalt." Auf meine dreckigen Zwischenbemerkungen folgte meist ein Klassenbucheintrag. In jeder Zensur stand unter Bemerkungen: "Stört durch dauerndes Sprechen."

Studienrat Dr. Weisker verstand es vortrefflich, uns nicht nur die englische und französische Sprache in ruhiger Weise beizubringen, sondern auch das Denken und Handeln der Menschen beider Völker anschaulich darzustellen. Er hatte als Student oder Studienreferendar in diesen Ländern gelebt und sich mit ihrer Geschichte, Kultur, Literatur und ihrem Recht eingehend bis in die Gegenwart befaßt. Dieses Wissen gab er uns in den Stunden, aber außerhalb des Lehrplanes preis, wenn er zum Reden aufgelegt war. Da wir diesen Ausführungen lieber lauschten als dem vorgeschriebenen Lehrstoff, versuchten wir ihn durch allerhand Tricks zum "Loabern" zu bringen, wie wir es nannten.

Die Stunden verflogen dann im Nu. Das Läuten der Pausenglocke kam immer viel zu früh. Für mich war das "Loabern" das Wertvollste aus dem Sprachunterricht. Bis heute brauchte ich das Bild über die beiden Völker, das ich von Dr. Weisker vermittelt erhielt, nicht zu ändern. An seinem Vertiefungsunterricht nahm ich auch gern teil. Die Teilnahme war nicht vorgeschrieben (war fakultativ). Er wurde nachmittags für Schüler der Prima abgehalten, um ihnen die Gelegenheit zu geben, einen bestimmten Stoff selbst zu erarbeiten. Es dürfte den heutigen Arbeitsgemeinschaften entsprochen haben. Bevorzugte Themen von Dr. Weisker waren Philosophie und Familienforschung.

Der Englisch- und Französischunterricht bei Studienrat Munderloh - Gittegitt genannt - war wesentlich anders. Er bemühte sich, den vorgeschriebenen Lehrplan zu erfüllen. Er hatte viele Sorgenkinder, darunter auch mich, deren Wissen seinen Anforderungen nicht genügte. Bei einer falschen Antwort oder beim Schweigen wegen Nichtwissens fuhr er erregt mit dem Daumen am Jackenrevers auf und ab und gab durch eine abschätzende Handbewegung unterstreichend dem Unglücksraben den Rat: "Gittegitt, geh ab (oder in den oberen Klassen: .Gehen Sie ab') und fahr Mist oder sammle Briefmarken. Englisch oder Französisch wirst Du nie begreifen. Dafür bist Du zu dumm." Wenn ihn ein Schüler sehr geärgert hatte, erhielt er mit den Handknöcheln Kopfnüsse, oder "Gittegitt" erfaßte mit dem Daumen und Zeigefinger Schläfenhaare und drehte sie genüßlich herum. Eine noch schmerzhaftere Prozedur als die Kopfnüsse.

Auch ein sehr beliebter Lehrer war Studienrat Dr. Martin Treblin, "Trebbel" genannt. Als begeisterter Wandervogel kam er gegen alle Gepflogenheiten mit Schillerkragen (ein offener Kragen, der um den Jackenausschnitt getragen wurde), kurzen Hosen, kniefrei, Wadenstrümpfen und Sandalen bekleidet, auch im Winter, in den Unterricht. Hut oder Mütze trug er nie.

Sein Unterricht: Deutsch, Erdkunde, Religion, hatte Schwung. Er gestaltete ihn auch sehr interessant, vor allem lehrte er uns, die Dinge kritisch zu betrachten. Auch mit Gegenwartsfragen mußten wir uns bei ihm auseinandersetzen, wie seine Aufsatzthemen "Moloch Großstadt", "Teufel Alkohol" u. a. bewiesen.

Die mündliche Reifeprüfung sah er für überflüssig an. Er war der zutreffenden Meinung, die Durchschnittsleistungen der beiden letzten Schuljahre geben ein gerechteres Bild über das Können und Wissen eines Schülers als die kurze Abiturprüfung, bei der die Examensangst noch hinzukommt. Er riet uns, bei der mündlichen Prüfung frisch darauflos zu sprechen und Unkenntnis nicht merken zu lassen, weil von dem Examensgremium nur der prüfende Fachlehrer wüßte, was falsch oder richtig sei. Dieser aber wird durch geschickte Zwischenfragen helfen, die richtige Antwort zu geben.

Für sein privates Hobby, die Vorgeschichtsforschung, hatte ich auch viel Interesse. Wie bekannt sein dürfte, hat er im Kreise Lüben viele vorgeschichtliche Funde gemacht. Krankheitshalber fiel er leider in den Herbst- und Wintermonaten als Lehrer viel aus, was wir sehr bedauerten.

Bei Studienrat Fiedler, der in späteren Jahren an unsere Penne kam, wohl nach dem Tode von Studienrat Mosel, hatte ich Latein- und Religionsunterricht. Auch lernte ich bei ihm im Anschluß an die Schulstunden zweimal wöchentlich Stenografie. Wir konnten ihn nicht leiden. Warum, weiß ich nicht. War es sein Spitzbart oder seine schlechte Aussprache, seine Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge? Wir äfften seine Sprechweise gern nach und sprachen nicht mehr Bibel, sondern Bibbel, und nicht Worte und Taten, sondern Wotte und Tatten u. a. m.

Gern hatten wir beim akademischen Zeichenlehrer Halfpaap, kurz Papen genannt, Zeichnen und Kunstgeschichtsunterricht. Besonders gefiel uns, wenn er an warmen Tagen mit uns in die Stadt ging und uns im Freien zeichnen ließ. Auch war er so großzügig, einzelnen Schülern, die ihre Arbeit eher als die anderen fertiggestellt hatten, die Erlaubnis zu geben, nicht im Zeichensaal zu bleiben, sondern in der Stadt sich selbst das nächste Motiv zu suchen, also ohne seine Aufsicht zu arbeiten. Häufig kam es vor, daß von einem Vergeßlikus in der Zeichenstunde der Bleistift, Radiergummi, Pinsel oder das Lineal geklaut wurde. Meldete man es, stellte er den Übeltäter fest, ließ sich den Bestohlenen vor den Dieb stellen und stieß beider Stirnen gegeneinander. Damit war für ihn der Fall ausgestanden. Er konnte Petzen nicht leiden. Damit erreichte er, daß wir ihn nicht mehr mit diesen Dingen belästigten, sondern zur Selbsthilfe griffen, die manchmal sehr unsanft ausfiel.

Da er es liebte, uns die tollsten selbsterlebten Abenteuer zu erzählen (z. B. Luftballonflug über Konstantinopel - Istanbul oder sehr langes und tiefes Tauchen im Meer u. a.) nannten wir ihn auch Karl May oder Münchhausen. Keine Flunkerei war seine große und kostbare Briefmarkensammlung.

Lehrer des Gymnasiums Lüben 1941

Lehrer des Gymnasiums Lüben 1941: Von links, hinten: Studienrat John, Studienrat Dr. Martin Treblin, Oberstudiendirektor Erwin Vetter, Studienrat Dr. Konrad Weisker, Oberlehrer Gustav Zingel, Hausmeister Erwin Siebenhaar.
Vorn: Oberstudiendirektor Karl Hassel, Studienrat Heinrich Munderloh, Margarete Leupold, Helene Wyrwich, Maria Schoen, Studienrat Paul Fiedler

Aufgrund von Krankheitsfällen und Versetzungen wurden wir auch von Paukern unterrichtet, die nur eine kurze Gastrolle gaben. An Dr. Thur und Studienassessor Wachs kann ich mich nur wenig erinnern. Studienrat Dr. Kapuste gab französischen Unterricht. Er war ein hochgewachsener sportlicher Typ. Während des Unterrichts sprach er mit uns nur französisch. Seine Anforderungen waren sehr hoch, unsere Noten bei ihm schwach. Privat hatte er große Sorgen, weil sein kleiner Sohn schwer herzkrank war.

Studienassessor Hielscher gab auch Französisch. Vor ihm hatten wir keinen Respekt. In seiner Unterrichtsstunde herrschte oft Unruhe, auch Stinkbomben wurden geworfen! Sein Spitzname war "Käsekill". In seiner sonderbaren französischen Sprechweise mit schlesischem Dialekt sprach er "qu'est-ce qu'il" = "käsekill" aus. Die französischen Arbeiten fielen bei ihm überdurchschnittlich gut aus, bis der Chef davon Wind bekam. Käsekill nahm die Themen, die er für die nächste Klassenarbeit ausersehen hatte, vorher gründlich durch. Uns fiel das auf, wir bereiteten uns daheim gut vor - und hatten richtig getippt.

Einige Monate kam Studienrat Selke aus Liegnitz, um Lateinunterricht zu geben. Er war ein liebenswürdiger Lehrer und hatte ein enormes Wissen, jedoch bei uns überhaupt keinen Respekt, wohl wegen seiner Unterrichtsmethode. Zum Beispiel fragte er: "Wer hat das Kapitol gerettet, Herr von Mutzenbecher?" Dessen Antwort, ohne aufzustehen: "Die Gänse". Darauf Studienrat Selke: "Gut." Er zückte sein Notizbuch und trug eine 2 ein! Vicki von Mutzenbecher war sicher, nicht so bald wieder von ihm gefragt zu werden und trotzdem in Latein eine 2 zu erhalten.

Wenn er eine Lateinarbeit schreiben lassen wollte, ersannen wir manche Schliche, um sie zu verhindern. Einmal wollte er nach einer Turnstunde die Arbeit schreiben lassen. Als er mit den Heften die Klasse betrat, japsten wir alle noch nach Luft und erklärten ihm, wir seien zu erschöpft vom Turnen gekommen. Wir zitterten und könnten keinen Gedanken fassen. Erst als er in seiner Verzweiflung den Chef zu Hilfe holte, bequemten wir uns, die Arbeit zu schreiben.

Bei ihm und dem Studienassessor Hielscher meldeten wir uns auf sonderbare Art. Wir hoben nicht den Zeigefinger, sondern schlugen ständig den Zeigefinger mit dem Mittelfinger so kräftig zusammen, daß es knallte. Dabei erhoben wir uns halb vom Sitz, legten uns etwas über die Bank, drückten die Unterlippe nach vorn und gaben röchelnde Laute von uns. Den Lehrer machte es nervös, uns aber Spaß. Als Käsekill einmal mit einer heftigen Handbewegung andeuten wollte, wir sollten mit dieser Dummheit aufhören, schlug er sich den Kneifer von der Nase. Das tat uns leid. Wir unterließen seitdem bei ihm die Ungezogenheit. - Vorbild für diese Verrücktheit war Schulkamerad Hans Pulvermacher aus Berlin. Dessen größtes Freizeitvergnügen war es, in seinem Zimmer in der Pension Zeutschner, in der er untergebracht war, große Pappmache-Soldaten in Reih und Glied aufzustellen. Standen sie dann alle ordentlich auf dem Tisch, hüpfte er abwechselnd von einem Bein auf das andere, schwenkte beide Arme und knallte mit den Fingern und gab die komischen Töne von sich.

In den ersten Jahren meiner Lübener Pennälerzeit lehrten noch die beiden Pauker Krenke und Mosel. Studienrat Krenke, der häufig "Ische" sagte, wie andere "äh" sagen, nannten wir Ische. Ich hatte bei ihm keinen Unterricht. Er ging wohl bald in den Ruhestand. Soviel ich mich erinnere, erteilte er französischen und Naturkunde-Unterricht. Neben dem Schulhof hatte er einen botanischen Lehrgarten. Einige Beete standen den Schülern zur Bepflanzung und Pflege zur Verfügung. Er soll Schrankenwärter gewesen sein und nach Selbststudium die Reifeprüfung gemacht haben, um studieren zu können. - Wenn dem so war, eine sehr beachtliche Leistung!

Studienrat Mosel gab Latein, Religion und starb Anfang der zwanziger Jahre. Er war ein langes Leiden (ca. 198 cm) mit bebrilltem und kurzgeschorenem Haupt und komischen eckigen Bewegungen. Wegen seiner Strenge lernte man viel bei ihm. Gegen Vorsagen oder Abschreiben hatte er eine gewaltige Abneigung. Wen er erwischte, forderte er mit einer eckigen und sehr steif wirkenden Bewegung seines langen Armes und nach unten gerichtetem Zeigefinger auf, vor ihn hinzutreten, und sagte dazu: "Komm mal hierher!" Stand nun das kleine Häuflein Unglück vor dem Riesen, legte er wieder mit sehr eckiger Bewegung den Zeigefinger an seine Nasenspitze und forderte: "Sieh mich mal an. Sag die Wahrheit, dir passiert nichts. Hast du abgeschrieben (oder vorgesagt)?" Wenn nach mehrmaliger Aufforderung der Sünder das Vergehen stotternd zugab, verschwand der Zeigefinger von der Nasenspitze und landete knallend zusammen mit dem Mittelfinger auf der Backe des Übeltäters. Zu diesem sagte er dann: "Nun geh auf deinen Platz, jetzt trage ich dich in das Klassenbuch ein." Nach einer steifen Kehrtwendung von 180 Grad schritt er gemessen und würdig zum Katheder und trug den ein, der an sein Wort, daß ihm nichts passieren werde, geglaubt hatte. Die Folge dieser falschen Erziehungsweise war, daß wir ihn künftig so lange belogen, bis er den Gegenbeweis führen konnte. Lustig sah es auch aus, wenn sich "Mosella" (die lateinische Bezeichnung für den Fluß Mosel) den Kopf kratzte. Er bewegte dann seinen Arm erst steif in die Höhe, winkelte den Unterarm ein und drehte die Hand eckig nach unten über den Kopf, kratzte ihn mit den Fingernägeln und machte anschließend die gleichen Bewegungen rückwärts.

Nun bin ich am Ende meiner Erzählung angekommen. Beim Aufzeichnen meiner Erlebnisse kamen mir Erinnerungen an meine liebe Mutter, an Raudten, an Raudtener, an Lüben, die Lübener, die Penne, die Pauker und die Mitschüler, mit denen ich jahrelang Freud und Leid teilte, wieder recht klar vor Augen. Es fällt mir leicht, zu gestehen, daß ich trotz der Erschwernisse, die ich als Fahrschüler gegenüber den anderen Schulkameraden hatte, gern in die Schule fuhr und mich mit meinen Lehrern, denen ich sehr viel verdanke, noch heute verbunden fühle. Leider hat sie schon der Tod hinweggerafft. Mögen meine Ausführungen über sie als dankbarer Nachruf gewertet werden.

Leopold Beyl, 1976