Hier in deutscher Übersetzung ein Auszug aus seinem Buch:
KNAPP ENTKOMMEN - DIE GESCHICHTE EINES JUNGEN, DER UNTER DEN NAZIS AUFWUCHS
Von Albrecht F. Bartsch
Vorwort
Blut und Ehre. Diese Worte waren auf der Klinge meines Messers eingraviert, das mir bei einer Zeremonie zu meinem zehnten Geburtstag übergeben wurde.
Auf dem Griff war ein Hakenkreuz, das Symbol des Nazismus. Während der Zeremonie sangen wir das Lied "Unsere Fahne ist mehr als die Ewigkeit, unsere Fahne ist mehr als der Tod." Alle zehn Jahre alten Jungen erhielten eine Uniform. Sie bestand aus einer kurzen schwarzen Hose, einem hellbraunen Hemd, einem schwarzen Halstuch, das von einem Lederknoten zusammengehalten wurde und einem Lederriemen, der über die Schulter gelegt und vorn und hinten am Gürtel befestigt wurde.
Das Messer wurde in einer Messerscheide am Gürtel an der linken Hüfte getragen. Unsere Winteruniformen waren schwarz und sahen aus wie Skianzüge. Wir hatten eine schöne warme Jacke und eine schwarze Mütze mit Sonnenschild.
Blut und Ehre: Ich wusste damals nicht, ob die Worte bedeuteten, dass es eine Ehre und eine Art von Ruhm sei, im Kampf zu töten, oder ob es bedeutete, dass es eine Ehre war, einer bestimmten Blutlinie anzugehören, und zwar der blonden und blauäugigen. In den Zusammenkünften wurde immer über die großen, blauäugigen und blonden germanischen Krieger gesprochen, die furchtlos, treu und unbesiegbar in der Schlacht waren. Es waren leere Worte, die mich verwirrten. Ich fragte mich, was aus mir werden sollte, denn ich hatte dunkle Haare und braune Augen. Als ich meinen Hitler-Jugend-Gruppenführer danach fragte, bekam ich Ärger. Er erklärte es nie. Er war erst 18 Jahre alt und wurde bald zum Militär eingezogen und in den Krieg geschickt.
Es verfolgt mich immer noch, hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt, und ich habe versucht, meine Gedanken an die schrecklichen Bilder des Krieges zu verdrängen, die mich in meiner Kindheit überfielen. Viele Erinnerungen sind Bilder wie aus einem Traum, scheinbar ohne Zusammenhänge. An andere Dinge erinnere ich mich mit großer Klarheit. Dieser Bericht verbindet, woran ich mich erinnere, was ich als 5- bis 12-jähriger sah, und das, was meine Mutter mir gesagt hat. Als ich älter wurde, half sie mir in Gesprächen Zusammenhänge zu verstehen und erklärte mir Ereignisse, die ich gesehen hatte und an die ich mich erinnere.
Der Schrecken des Krieges endete, als ich 11/12 Jahre alt war. Aber dann begannen andere schreckliche Ereignisse: die Jahre des Überlebens danach. Zuerst hatten wir dem Krieg und den vorrückenden Sowjets zu entkommen und dann mussten wir in dem zerstörten Land überleben.
Kapitel I - Frühe Kindheit
Ich wurde 1934 in Cammin/Pommern, Deutschland in der Nähe der Ostsee geboren. Seit dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands durch die Alliierten kennt man es als Kamień Pomorski, Polen. Mein Vater Erich bekam seinen ersten Lehrauftrag nach dem Studium in dieser Stadt. Meine frisch verheirateten Eltern ließen sich in einem alten Fischerhaus am Ufer des Haffs an der Ostsee nieder. Ich erinnere mich, wie meine Mutter Hildegard mir mit verträumten Augen sagte, wie glücklich sie dort gewesen seien. Sie sagte: "Ich habe dieses Häuschen geliebt. Es war abgelegen und romantisch. Stell dir vor, ich konnte ein Holzfeuer im Küchenherd anzünden, hinauslaufen zu einer Baumgruppe in Richtung der Küste, dort Pilze sammeln und wenn ich zurückkam, war die Butter in der Pfanne geschmolzen und ich bereitete die Pilze für Vaters Mittagessen. Er mochte Pilze sehr gern!" Sie sagte mir auch, dass mein Bruder und ich des Nachts in unseren Kinderbetten dem rhythmischen und beruhigenden Rauschen der Wellen, die an Land rollten, lauschen konnten.
Als ich alt genug war um die Welt bewusst wahrzunehmen, wurde mein Vater zurück nach Schlesien versetzt in die Stadt Lüben, näher an die Umgebung, wo er und meine Mutter aufgewachsen waren. Heute gehört die Stadt zu Polen und ist als Lubin bekannt. Dort habe ich meine frühesten Erinnerungen an eine glückliche und harmonische Familie.
Ilse, die Schwester meiner Mutter, und mein Onkel Max lebten in Siegersdorf, nur eine kurze Zugfahrt entfernt von der Stadt Bunzlau, wo Großvater lebte. Onkel Max war Betriebsleiter der renommierten Bunzlauer Keramikfabrik.
Sie stellten sehr schön dekoriertes und bemaltes Steingutgeschirr her und machten Geschäfte in ganz Deutschland und lieferten bis nach Italien. Mein Bruder und ich verbrachten öfter mal einige Zeit mit Onkel Max und Tante Ilse. Sie hatten keine Kinder. Die Firma stellte Onkel eine Horch-Limousine samt Chauffeur zur Verfügung. Horch-Autos waren damals die direkte Konkurrenz von Mercedes. Als ich etwa 5 Jahre alt war, wurde ich eingeladen, an einer Autoreise teilzunehmen. Mein Onkel hatte geschäftlich im Norden von Italien zu tun und konnte das mit einem ausgedehnten Urlaub kombinieren. Onkel und Tante waren immer tadellos in feinster Qualität gekleidet. Um ihren Erwartungen gerecht zu werden, zog Mutter mir meinen Sonntagsanzug an und forderte mich auf, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Ich mochte es nicht, so herausgeputzt zu sein, es war mir unangenehm.
Ich erinnere mich nicht allzu vieler Einzelheiten meiner frühen Kindheit, aber da waren zwei, die einen großen Eindruck hinterließen. Das erste war, als wir eine Reifenpanne hatten und der Chauffeur den Reifen wechselte. In der Zwischenzeit machten Onkel, Tante und ich einen Spaziergang. Mir wurde aufgetragen, meine schöne Kleidung nicht schmutzig zu machen und manierlich direkt neben ihnen zu gehen. Onkel hatte eine goldene Kette an seiner Weste mit einer goldenen Uhr daran, auf die er hin und wieder schaute. Tante Ilse trug ein schickes Sommerkleid. Ein modischer Hut vervollständigte ihr elegantes Erscheinungsbild. Es war ein schöner Sommertag im Norden von Italien. Bald setzten wir unsere Reise fort. Ich war von dem glänzenden Auto fasziniert. Wie die meisten Limousinen hatte es eine Trennwand zwischen dem Vorder- und Hinterteil des Inneren. Ein Glasfenster, welches hoch oder heruntergedreht werden konnte , sicherte die Privatsphäre. Zwei zusätzliche Sitze waren an der Trennwand angebracht, die für zusätzliche Passagiere hoch- oder heruntergeklappt werden konnten. Eine Messingstange war über den Klappsitzen an der Trennwand entlang befestigt. Ich kniete auf einem der Sitze mit dem Blick nach vorn, hielt mich an der Messingstange fest und beobachtete, wie der Fahrer in die Straßenkurven fuhr. Dann tat ich so, als würde ich durch Drücken oder Ziehen an der Messingstange das Auto selbst führen.
Die andere klare Erinnerung habe ich daran, als wir in eine malerische italienische Stadt gereist waren und Onkel Max den Chauffeur bat, vor einer Eisdiele anzuhalten. Er sagte mir, ich könnte etwas von dem leckeren Eis haben, wenn ich hineinginge und selbst auf Italienisch darum bitten würde. Er forderte mich auf zu sagen: "Una portione de gelato al cioccolato, prego!" Ich war schüchtern, aber die Aussicht auf das Eis an diesem heißen Tag ließ es mich wagen. Drinnen hatten die Leute uns und die Limousine seit einiger Zeit beobachtet. Ich ging mutig hinein, stand vor der lächelnden Frau des Inhabers und sprach die italienischen Worte. Sie schien amüsiert, lachte laut, hob mich auf und ging mit mir durch das Geschäft und führte mich begeistert vor, in schnellem Italienisch rufend, "Bambino tedesco, bambino tedesco!!" (Frei übersetzt: "ein kleiner Kraut"!) Immer und immer wieder. Ich war verwirrt und hatte schließlich genug und schrie auf Deutsch: "Ich will ein Eis!" Das führte zu noch mehr Lachen und schließlich wurde mir eine große Eiswaffel gereicht und als ich mein Geld geben wollte, protestierte die Dame und steckte es mir wieder in meine Tasche. Onkel und Tante hatten die ganze Szene aus dem Auto beobachtet und kamen schließlich in den Laden. Der Eigentümer war sehr beflissen und führte sie mit vielen Verbeugungen zu einem Tisch. Onkel Max, der recht gut Italienisch sprach, bestellte einen Kaffee und ein paar Süßigkeiten. Er hatte auch dem Fahrer eine Erfrischung bringen lassen. Die Gespräche und das Lachen wurden lauter und jeder schien sich köstlich zu amüsieren.
Das alte Haus, in dem wir lebten, war aus Stein und ursprünglich ein Schulhaus in dem kleinen Dorf Altstadt, etwa 40 Minuten von der Stadt Lüben entfernt. Als Lehrer war mein Vater ein Staatsangestellter und das Haus war Teil seiner Vergütung. Der Staat hielt das äußere Grundstück recht gut. Innen war das Haus komplett renoviert worden. Meine Mutter hatte es ordentlich, gemütlich und geschmackvoll eingerichtet.
Ein besonderes Zimmer, unsere Bibliothek, wurde "Herrenzimmer" genannt. Wenn Freunde kamen, gab es viele Diskussionen über Philosophie, Politik, Literatur und Kunst. Uns Kindern war nicht erlaubt, die Gespräche zu unterbrechen. Also hörten wir mit großen Augen zu und beobachteten, wie die Männer Schnaps tranken und Zigarren rauchten. Mein Vater war Lehrer im Schulwesen Lüben, bis er Rektor einer Hauptschule in der Stadt Raudten wurde, eine kurze Zugfahrt von Lüben.
Meine Eltern waren stolz auf die Ausstattung unseres Hauses. Tische und Stühle waren aus Nussbaum und Eiche gefertigt. Im Wohnzimmer und im Arbeitszimmer meines Vaters standen schöne Standuhren. Ich liebte es, auf dem Teppich zu liegen und das Tick-Tack zu hören, während ich mit meinem Spielzeug spielte. Zu jeder Stunde gab mir der Klang der Glocken ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit.
Die Mutter hatte zwei Porzellan-Services, das Meißner Porzellan für besondere Anlässe und ein weiteres Service für den täglichen Gebrauch. Sie hatte auch zwei silberne Services; eins aus Sterlingsilber, das andere aus Edelstahl. Jedes bestand aus einem Dutzend Gedecken. Mutter bestand darauf, dass der Tisch für alle Mahlzeiten richtig gedeckt wurde, und dass die Familie beim Essen zusammensaß. Ihr Kochgeschirr war von schwerem Gusseisen und sie kochte auf einem großen Küchenofen, der mit Holz oder Kohle befeuert werden konnte. An einer Küchenseite war eine Tür, durch die man in die Speisekammer gelangte, einen kühlen Raum ohne Fenster, ein paar Stufen aus der Küche nach unten. Kühlschränke gab es nicht. An beiden Enden der gotischen Decke war ein Lüftungsloch. Uns Kindern war nicht erlaubt, die Speisekammer zu betreten, die unsere - sorgfältig von der Mutter verwalteten - Lebensmittelvorräte enthielt.
Sie bewahrte auch Sauerkraut in hohen irdenen Töpfen in der Speisekammer auf. Die Kohlmischung wurde durch Holzdeckel niedergehalten, beschwert mit einem Stein für eine sichere Gärung. Vor Weihnachten bewahrte sie in einem ähnlichen irdenen Topf selbstgemachte Plätzchen auf. Um den Schatz vor uns Kindern zu verbergen, versteckte sie den "Plätzchen-Topf" zwischen denen mit dem Sauerkraut. Uns Kindern fiel es schwer, der Versuchung zu widerstehen, davon zu stibitzen. Eines Tages entdeckten wir die Plätzchen. Wir dachten, ein paar weniger würde niemandem auffallen, also nahmen wir eine Handvoll und setzten den Holzdeckel und den Stein wieder ein. Immer wieder bedienten wir uns an den Plätzchen, bis wir zu unserem Entsetzen bemerkten, dass der Deckel und der Stein tiefer und tiefer in das Gefäß sanken. Dies haben wir ausgeglichen, indem wir zerknülltes Papier hineinlegten, den Deckel wieder auflegten und ebenso den Stein. Aus den Augen aus dem Sinn!
Alles war gut, bis Mutter kurz vor Weihnachten den Diebstahl entdeckte und die elenden Diebe zum Rapport rief. Da standen wir nun, mit gesenkten roten Köpfen und und gaben unsere Schandtat zu. Als Strafe ließ Vater uns bis Heiligabend Schnee schaufeln, und dann erklärte er, uns sei vergeben und die Geschenke vom Weihnachtsmann könnten kommen. Meine Mutter und Vater haben uns ein wunderbares Zuhause geboten und wir fühlten uns immer geliebt...
Die Mutter hatte ein Dutzend von allen Haushaltsdingen wie Bettwäsche, Handtücher, Tischdecken, was auch immer in einem gut geführten Haushalt benötigt wurde. Weil man nicht jeden Tag waschen konnte (es gab keine Waschmaschinen), wurde eine große Anzahl dieser Dinge benötigt. Eine Versorgung mit sauberer Wäsche hatte über einen Zeitraum von 6 Wochen zur Verfügung zu stehen, und wenn dann der Waschtag kam, was eine große Sache war, dauerte das in der Regel 3 Tage.
Neben unserem Haus war die "Waschküche", ein separates kleines Gebäude. Es enthielt einen großen Kessel, umgeben von Ziegeln. Ein Feuer erhitzte das Wasser im Kessel und ließ die Wäsche zum Kochen bringen. Es gab auch verschiedene Werkzeuge und Apparate zum Waschen von Kleidung. Drei Frauen aus dem Dorf kamen Mutter an Waschtagen helfen. Wir Kinder verstanden, dass sie an diesen Tagen nicht gestört werden durfte und wir uns allein beschäftigen mussten. Ich erinnere mich, dass ich einmal die Tür zur Waschküche öffnete, um die Mutter um etwas zu bitten. Im Inneren war so viel Dampf, dass ich sie kaum sehen konnte. Unter dem Kessel loderte das Feuer. Mutter und die Frauen schrubbten die Wäsche von Hand auf Waschbrettern. Man hörte ihr lautes Geschnatter. Manchmal sangen die Frauen bei der Arbeit.
Bevor die Wäsche auf die Leinen kam,, wurde jedes Wäschestück durch eine Maschine geschoben, die zwei Gummirollen übereinander enthielt. Durch Kurbeln mit einem Griff an der Seite konnte man zwischen den Rollen das Wasser aus dem Stoff herauspressen. Es war eine allgegenwärtige Gefahr, einen Finger zwischen den Rollen einzuklemmen. Manchmal geschah dies, und wir mussten einen Schmerzensschrei hören.
Am zweiten Tag wurde die Wäsche auf Wäscheleinen gehängt und in der Sonne getrocknet. Die Frauen beteten immer um sonniges Wetter, weil die Sonne zum Bleichen der Wäsche gebraucht wurde. Es gab keine speziellen Seifen oder Bleichmittel; nur eine Art von Seife stand zur Verfügung, die so genannte Kernseife (eine Laugenseife, hergestellt aus Kali und Tierfett.) Wenn es regnete, musste die ganze Last auf den Dachboden unseres Hauses geschleppt werden, direkt unter den sichtbaren Sparren und dem Ziegeldach. Dieser riesige Raum überspannte den gesamten Grund des Hauses und Wäscheleinen wurden von einem Ende zum anderen aufgespannt.
Am dritten Waschtag wurden die trockenen Bettlaken, Kissenbezüge und Tischdecken durch die Rollen einer größeren Maschine, der Wäschemangel, gezogen. Sie war so breit wie die größten Bettlaken und dies wurde getan, um die Falten herauszupressen. Jedes Stück wurde dann gebügelt, zusammengelegt und weggeräumt in Schränke und Schubladen. Die Hausfrauen zeigten stolz die Ergebnisse ihrer Arbeit, fein säuberlich aufgehängt oder gestapelt wie zum Verkauf in einem Geschäft.
Musik war eine dominierende Kraft in unserem Leben. Mein Vater spielte Klavier, Kirchenorgel, Flöte und Geige. Er leitete auch einen Chor. Meine Mutter spielte Klavier und Mandoline. Sie spielten oft zusammen zu Hause. Ich erinnere mich, dass mein Vater von seiner Lehrtätigkeit nach Hause kam, seinen Mantel auszog und sich mit Mutter ans Klavier setzte. Sie spielten Musik klassischer Komponisten oder manchmal leichte Musik zusammen. Meine Mutter hatte am Morgen viel geübt, um mit meinem Vater mitzuhalten, der ein versierter Musiker war.
Am Sonntag beim Gottesdienst spielte mein Vater die Orgel und mein Bruder und ich ließen die Glocken läuten, die hoch oben im Turm hingen. Die schöne alte Pfeifenorgel war auf dem Balkon der Kirche. Die Pfeifen des Instruments wurden durch zwei große Pedale an der Rückseite aktiviert. Jemand hatte mit dem rechten und linken Fuß kontinuierlich in die Pedalen zu treten. Heutige Orgeln werden von einem Elektromotor betrieben. Es war in der Regel ein Helfer des Pfarrers, der diese Pflicht erfüllte.
Gleich um die Ecke neben den Tasten der Orgel war ein schmaler Pfad, der zum Kirchturm führte. Der Turm war mehrere Stockwerke hoch. Man konnte die Spitze über eine steile Treppe erreichen. In jede Etage waren zwei Löcher geschnitten und zwei schwere Seile erreichten so den ganzen Weg bis auf die Ebene, wo die Orgel war. Auf diese Weise konnten die Glocken von einem kleinen Weg hinter der Orgel geläutet werden.
Als ich sieben war, war es meine Aufgabe, an der Ecke zu stehen und meinem Vater beim Spielen zuzusehen. Zu gegebener Zeit des Gottesdienstes, wenn die Glocken geläutet werden sollten, gab mein Papa mir lächelnd durch ein Nicken zu verstehen, dass es so weit war und ich machte mich auf den Weg zu meinem Bruder, der mit den Seilen in der Hand dort wartete. Ich packte das Seil der kleinen Glocke und mein älterer Bruder das Seil der größeren und wir begannen zu ziehen. Wir konnten die Glocken im Turm läuten hören. Der Helfer des Pastors, Herr Langner, bearbeitete die Pedale und würde uns signalisieren, wann wir aufhören mussten. Die Glocken anzuhalten, war der größte Spaß. Wir hingen an den Seilen und ließen die Glocken uns auf- und abtragen, bis unser Gewicht das Geläut enden ließ.
Am Ende des Gottesdienstes liebte es Vater, Musik von Johann Sebastian Bach oder Bachs zeitgenössischem Komponisten Buxtehude zu spielen, der auch großartige Musik für die Orgel geschrieben hatte. Vater spielte wunderschön und wir hörten neben ihm sitzend mit Freude und Stolz zu, während der Pfarrer unten das Geld der Kollekte zählte und schließlich die Kirche zuschloss.
Ich erinnere mich an schöne Sommerabende, an einen schönen Garten und eine Gartenecke mit feinem Kies unter einem riesigen von schattigen Haselnusssträuchern umgebenen Birnbaum. Die Birnen fielen manchmal direkt auf den Kaffeetisch, wenn sie reif waren. Es gab Nebengebäude, an deren Seiten Trauben wuchsen, Gemüsebeete, Beerensträucher und einen speziellen Spielplatz für uns Kinder mit einer von Stachelbeeren umgebenen Schaukel. Ich erinnere mich auch an eisig kalte Winternächte mit Temperaturen unter Null und viel Schnee von Oktober bis März...
Alle Kinder im Dorf kannten einander und die dazugehörigen Eltern und Großeltern. Das Leben im Dorf war angenehm, bis ich elf Jahre alt geworden war. Dazu gehörten die ersten vier Jahre des Krieges, als der noch fern von uns war. Jeden Tag waren wir draußen, manchmal auf diesem oder jenem Bauernhof oder streunten durch die Felder und die Landschaft. Nur das schlechteste Wetter veranlasste uns im Haus zu bleiben.
Wir Kinder nutzten die asphaltierte Straße, um mit unseren Kreiseln zu spielen. Es gab mehr als 20 Kinder, die sich auf der Straße nach oben und unten bewegten, wobei sie die Kreisel mit einer Peitsche schlugen. Diese flogen sich weiterdrehend durch die Luft und landeten ein paar Meter weiter wieder auf dem Asphalt und drehten sich dort immer weiter. Wir sprangen dann zu unserem Kreisel und wiederholten das Spiel. Kein Verkehr unterbrach unser Spiel, weil es nur wenige Autos gab.
Was unser Spiel unterbrach, war regelmäßig ein Wagen des Gutsbesitzers Moltrecht, der aus Groß Krichen kam, einem Dorf ein paar km straßaufwärts. Wir konnten die beschlagenen Hufe von zwei schönen schwarzen Pferden hören, die in schnellem Trab klapperten, bevor wir sie um die Kurve kommen sehen konnten. Hoch oben auf dem Kutschbock saß ein Kutscher mit einer schicken Peitsche. Auf der Rückseite seines Wagen saß aufrecht Herr Moltrecht, ein älterer Herr. Er war elegant gekleidet. Er sah auf dem Weg in die Stadt weder rechts noch links, scheinbar in Gedanken versunken. Er war ein wichtiger Mann. Wir rätselten immer, warum er solch großen Einfluss hatte.
Gegenüber von unserem Haus war der Eingang zum Gut Laux. Die Besitzer lebten in einem Herrenhaus, das von einem feinen Eisenzaun auf einem Steinsockel umgeben war. Schöne Gärten mit hohen Kastanienbäumen verliehen dem Ganzen zusätzlichen Charme. Man betrat das Haus, indem man zuerst zahlreiche flache Stufen aus Stein und dann das Haus durch massive geschnitzte Türen betrat. Steinskulpturen schmückten jede Seite der Treppe. Wenn Herr Laux erschien, bellte er seine Befehle mit lauter Stimme von der obersten Treppenstufe. Sein Pferd Lotte, ein schöner Morgan der amerikanischen Pferderasse, wurde auf die Unterseite der Treppe geführt und Laux bestieg es, um die Felder zu inspizieren oder anderen Geschäften nachzugehen.
Zu Ostern und Weihnachten wurden die Kinder auf seinen Hof eingeladen und erhielten Geschenke. Es war eine Ehre, eingeladen zu werden. Von Zeit zu Zeit lud Frau Laux meinen Bruder und mich in den Salon, um ihr über unsere Schularbeit zu berichten. Es gab immer eine kleine Belohnung für uns. Im Herbst ließ sie uns Kastanien unter ihren schönen Bäumen in den Gärten sammeln. Kastanien wurden von Kindern als Spielzeug geschätzt. Im Gegenzug hatten wir die gelben Blätter zu Haufen zusammenzuharken, die später durch Arbeiter weggebracht wurden. Wir liebten, was wir taten und wir mochten den Geruch der Blätter und sprangen in die Blätterhaufen.
Der Großvater meines besten Freundes Gerhard Linke war einer der Arbeiter auf dem Gut, deren Aufgabe es war, Getreide vom Feld in die Scheune zu schleppen. Er war verantwortlich für zwei Pferdegespanne. Während ein Gespann ruhte, arbeitete das andere. Wir verbrachten viel Zeit mit den Pferden, den Scheunen und Wagen und halfen die Ställe zu reinigen oder die Tiere zu füttern.
Gerhards Großvater, Herr Tschierschke, erlaubte uns, auf dem leeren Wagen hinaus auf die Felder zu fahren. Während die Wagen beladen wurden, füllten wir unsere Bäuche mit Kirschen oder anderen Früchten der vielen verschiedenen Obstbäume, die neben den Feldern wuchsen. Wenn der Wagen beladen war, stiegen wir auf und lagen mit vollen Bäuchen im Heu oder auf den Säcken und sahen auf dem Weg nach Hause in den Himmel, während der Wagen schwankte.
Nach einem harten Arbeitstag führte Gerhards Opa die Pferde, noch angeschirrt am Wagen, zu einem Teich, der etwa einen Meter tief war. In der Mitte des Teiches hielt er an, watete ins Wasser und bürstete und wusch die verschwitzten Pferde. Das war ein echter Genuss für die Tiere. Wir waren auf dem Wagen und genossen die Szene. Nachdem die Pferde gewaschen waren, fuhr er das Gespann weiter und führte sie auf der anderen Seite des Teiches heraus.
Der Teich war auch das Schwimmloch für die Dorfkinder. Es war nicht sehr sauber, aber das störte uns nicht. Denken wir zurück, frage ich mich, warum niemand Krankheiten fürchtete. Wir gingen den ganzen Sommer barfuß und hatten viele Kratzer und Schnittwunden, und manchmal war nicht zu vermeiden, mit nackten Füßen durch Kuh- oder Pferdemist zu waten. Wir wuschen sie in der nächsten Pfütze oder im Bach ab. In der Schule hatte man uns allerdings gegen Tetanus immunisiert.
Im Herbst rumpelten riesige Wagen mit Zuckerrüben beladen und gezogen von starken Pferden über die Pflastersteine auf dem Weg zur Zuckerfabrik. Als Zucker später streng rationiert wurde, standen wir Kinder auf der Seite der Straße und bettelten den Fahrer des Pferdegespanns um Zuckerrüben an. Viele warfen uns einige Rüben hinunter, die wir eifrig aufsammelten. Andere Fahrer ignorierten uns. Deshalb entwickelten wir eine Taktik, sie abzulenken, während ein oder zwei von uns von hinten auf den fahrenden Wagens kletterten, um einige Zuckerrüben zu stehlen. Manchmal wandte sich der Fahrer mit der Peitsche nach hinten und schlug uns ins Gesicht. Die Zuckerrüben wurden gewaschen, geschnitten und in einem großen Kessel zu Brei gekocht. Dann wurde der Brei durch eine Fruchtpresse gepresst und der Saft gesammelt. Der Rest wurde an die Tiere verfüttert. Der Saft wurde in großen Pfannen gekocht und zu köstlichem braunem Sirup reduziert. Mutter füllte damit so viele Gläser, wie sie konnte und im Winter schmeckte der Sirup köstlich zu Pfannkuchen.
Im Winter liefen wir Schlittschuhe oder spielten Eishockey mit selbstgemachten Hockeyschlägern. Wir verwendeten einen flachen Stein als Puck. Die Kälte zwang uns mehrmals im Laufe des Tages in das Haus, um die nassen Wollhandschuhe und Schuhe gegen trockene einzutauschen. Es gab immer ein paar Handschuhe und Schuhe, die auf der Holzbank in der Nähe des gekachelten Holzofen trockneten, wohin Mutter sie gelegt hatte. Die Schlittschuhe waren sehr einfach und wurden an den Lederschuhen mit einem Schraubmechanismus mit Schraubenschlüssel befestigt.
Unsere Kirche befand sich auf einem ansehnlichen Hügel, dem Ski- und Rodelhang, dem Kirchberg. Neben ihm war ein Werk, in dem Eichenfässer für Bier oder Gurken gebaut wurden. Wir entdeckten, dass ausrangierte Eichendielen für den Bau von Fässern eine Biegung hatten, woraus man zu Hause Skier machen konnte. Richtige kommerzielle Ski standen uns nicht zur Verfügung; die gab es nur für die Wehrmacht. Wir entwickelten Bindungen, indem wir ausrangierte Schuhe auf die Planken nagelten, gewachst wurden sie mit Kerzenwachs und schon konnten wir den Hügel hinuntergleiten. Unsere Skistöcke wurden auch zu Hause gemacht, wir schnitten sie von Haselnusssträuchern.
Im Dorf gab es einen Jungen, dessen Vater als Melker auf dem Gut von Laux arbeitete. Er verbrachte viel Zeit mit seinem Vater und der Milchviehherde und er hatte immer Kuhdung an seinen Schuhen oder an den Füßen. Er war klein und dünn und wurde oft von den anderen Jungen gehänselt. Er war unter seinem Spitznamen "Stinkfuß" bekannt. Eines Tages zeigte er sich oben auf dem Hügel mit einem echten Paar Skier mit Stahlkanten und echten Skistecken. Wir konnten kaum glauben, was wir sahen. Jetzt konnte er besser Ski fahren mit seiner neuen Ausrüstung als wir alle auf unseren lächerlichen Planken. Von diesem Tag an wurde er mit anderen Augen betrachtet und genoss neues Ansehen.
Die Kirche auf dem Hügel war umgeben vom Dorffriedhof, der von einer Steinmauer begrenzt war, niedrig genug, damit wir Kinder über sie springen konnten. Manchmal war das unser Fort, das verteidigt werden musste. Einige der Jungen waren die Verteidiger, die anderen die Angreifer, die den Hügel stürmten. Wir warfen Stöcke oder Schneebälle aufeinander. Im Winter spielten wir oft, wenn es dunkel wurde oder bei hellem Mondschein.
An einem kalten Abend bemerkten wir, dass jemand im Schnee dort unter der Mauer lag. Es war ein Man, gekleidet in eine dicke Jacke von der Art polnischer Zwangsarbeiter. Er schlief und wir konnten ihn nicht wecken. Wir rannten den Hügel hinunter zum Pfarrer. Der Pfarrer und ein Helfer eilten mit uns Kindern im Schlepptau mit einer Lampe den Hügel hinauf. "Er ist tot!", sagte der Pastor und schüttelte den Kopf. "Wir müssen die Polizei informieren!" Dann kniete er nieder und betete. Danach wandte er sich an seinen Helfer und sagte: "Die arme Seele muss Alkohol bekommen haben, dann ist er eingeschlafen und erfroren. Es war wohl Holzalkohol, der ihn getötet hat. Ich kann es riechen." Nach einer Weile sagte er: "Geht nach Hause, Kinder!" Wir hatten Geschichten von polnischen Arbeitern gehört, die aus Mangel an genießbarem Alkohol Holzalkohol (Methanol) getrunken hatten und blind geworden waren.
Eines Morgens wachte ich auf und bemerkte eine seltsame Art von Schorf auf meiner Kopfhaut, nachdem ich eine Arztpraxis besucht hatte. Soldaten auf Urlaub hatten diesen Arzt zuvor aufgesucht und so vermutete man eine ansteckende Hauterkrankung. Unser Hausarzt hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen. Verschiedene Heilmittel halfen nicht und schließlich riet er der Mutter, in Liegnitz den Rat eines Spezialisten zu suchen. Es sah so schlimm aus, dass die Leute mich komisch ansahen. Wir fuhren mit dem Zug nach Liegnitz und der Spezialist diagnostizierte es als etwas, was russische Gefangene untereinander und bei deutschen Soldaten verbreitet hatten.
Er rasierte mir die Haare, gab mir eine Spritze direkt in die Kopfhaut und Mutter musste versprechen, nie jemandem von der Behandlung zu erzählen, da das Medikament ausschließlich für die Wehrmacht vorbehalten war. Ich ärgerte mich und schämte mich, dass ich keine Haare hatte. Der Arzt machte eine Art Turban aus Gaze und Bandagen und sagte mir, ich könnte jedem sagen, dass ich wie ein Soldat verletzt worden sei. So würden Soldaten in Lazaretten häufig aussehen. Die Jungen und Mädchen im Dorf waren voller Ehrfurcht. Ich hatte einen besonderen Status, bis ich eines Tages mit meinem Schlitten vom Hügel hinunterraste, meinen Verband verlor und meine Glatze aller Welt ausstellte. Schlimmer noch, der Schorf war während des Heilungsprozesses lila geworden und ich wurde zum Gespött der Dorfkinder. Mutter sagte, wir hätten von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. So bekam ich eine wertvolle Lektion. Die Medizin wirkte gut und bald wuchs mein Haar wieder und alles war gut...