Hans-Werner Jänsch: "80 Jahre Lübener Gymnasium"
Aus der Biografie von Hans-Joachim Rudolph, Ossig














Ausschnitte aus meiner Biographie
von Hans-Joachim Rudolph (1904-1995), Ossig

Ich kam im Herbst 1917 aus der Quarta des Humanistischen Gymnasiums in Lauban in die Quarta (7. Klasse) des Realgymnasiums in Lüben. Beide Schulen stimmten in den fremden Sprachen gerade noch überein: Ab Sexta Latein, ab Quarta Französisch. Erst in der Untertertia (8. Klasse) hätte ich in Lauban mit Griechisch beginnen müssen. Das blieb mir erspart. In Lüben kam in der 8. Klasse Englisch dazu, und alle 3 Sprachen behielt ich bis zum Abitur. Der Übergang stellte also kein Problem dar; im Gegenteil die Lübener Schule erschien mir leichter zu sein, und schon nach einem halben Jahr wurde ich wieder "Primus".

Schwieriger war der Schulweg von Ossig nach Lüben. Es gab ja keine Bahn! So mußte ich jeden Tag über Land 4 km am Morgen und 4 km mittags laufen, wenn mich nicht ein Pferdewagen mitnahm Es ging anfangs leicht bergan; oben stand eine alte Windmühle, die noch brav Getreide mahlte. In einer Senke lag dann die Kreisstadt Lüben.

Unsere Schule war ein helles, schmuckes Gebäude, damals noch ziemlich neu, nicht überfüllt; ich glaube, die Klassenstärken bewegten sich zwischen 20 und 30. Schräg gegenüber lag die "höhere Mädchenschule". Das gab immer ein fröhliches Winken von Fenster zu Fenster.

Ja, der lange Schulweg! Im Winter mußte man noch im Dunkeln oft durch hohen Schnee stapfen, natürlich immer mit der schweren Mappe unterm Arm. Damals habe ich mir wohl die Rückgratverkrümmung geholt, die später nicht mehr zu beseitigen ging. Manchmal nahm mich der Milchwagen mit, der täglich die Milchkannen von Ossig in die Lübener Molkerei fuhr. Sonnabend war Markt in Lüben; da gab es immer ein freundliches Bauerngespann, das mich auf den "Bock" ließ. Schließlich lernte ich radeln, für einen Obertertianer (9. Klasse) reichlich spät. Der Kantorssohn Otto Brendel, damals wohl schon auf dem Weg zum Diplomingenieur, brachte es mir bei. (Kinderräder gab's ja noch nicht). Nun war 1919 großer Gummimangel, und man war auf die Idee gekommen, anstelle der Gummibereifung Spiralen einzusetzen, die etwas federten. Das klapperte schrecklich, man rutschte leicht aus, und vor allem: Es fuhr sich viel schwerer als auf Gummi. Natürlich stieg ich am "Berg" nie ab. Nach wenigen Monaten hatte ich mir mein Herz so gründlich ruiniert, daß mir der Arzt das Radeln und leider auch den Schulsport verbot, und das bis zum Abitur. In höherem Alter bin ich dann aber doch noch ein begeisterter Radler geworden. Zum Glück hatten wir nur vormittags Unterricht. So brauchte ich, von Ausnahmen abgesehen, immer nur einmal am Tage nach Lüben. Freilich war damit auch eine gewisse Isolation von meinen Schulkameraden verbunden, wie schon in Langenöls.

Meine Lehrer am Lübener Gymnasium stehen mir nach mehr als 50 Jahren alle noch sehr lebendig vor Augen. Eine merkwürdige Vorstellung, daß sich manche meiner Schüler im nächsten Jahrtausend an mich noch ähnlich erinnern könnten. Dabei sind es weniger die üblichen Schulstunden, als vielmehr besondere Ereignisse, Ausflüge, aber auch Pannen, Ausrutscher, Eigenheiten, die haftengeblieben sind. Im Ganzen denke ich mit Dankbarkeit an die meisten zurück; das Positive überwog. Gewiß war der Abstand zwischen Lehrer und Schüler damals größer, das hohe Pult und die Anrede: "Herr Studienrat" selbstverständlich, das ständige Grüßenmüssen auch im Schulgebäude lästig. Irgendwie fühlte man sich immer beobachtet, selbst am Nachmittag, wenn man mal ins Café ging, was allerdings ohne die Eltern verboten war. Gewiß gehörten Einträge und Arrest zum Schulalltag; das Konferenzzimmer war der "heilige Ort" der Pauker, Sitz der ewigen Konferenzen, die über irgendwelche Schwerenöter berieten, was häufig mit dem "consilium abeundi" (Androhung der Verweisung) oder der Verweisung selbst endete. Und doch, und doch - irgendwie war viel wichtiger die Persönlichkeit, die dort als Lehrer vor uns stand, die sich im Grunde genommen souverän über alle Spielregeln hinwegsetzte, oder sich kleinlich daran klammerte, weil die eigene Autorität fehlte. Das ist auch heute nicht viel anders. Und ebensowenig hat sich in dieser Hinsicht die Jugend geändert, trotz aller Unkenrufe der Alten. "Sunt pueri, pueri puerilia tractant". (Jungen sind Jungen, und Jungen benehmen sich jungenhaft!). Vor echten Persönlichkeiten - und diese überwogen in Lüben - hatten wir von selbst Respekt; sie brauchten uns kaum zu strafen (es sei denn wegen Faulheit); pädagogische Nieten jedoch wurden von uns erbarmungslos geärgert, regulär fertiggemacht bis zum Heulen, bis zum Nervenzusammenbruch, schlimmer als heute. Da halfen auch alle Strafen nichts. Ich habe einzelne solcher "Blindgänger" mit meinen Kameraden schier zur Verzweiflung gebracht, was mir bei den angeblich so wenig disziplinierten Schülern der 1960er Jahre nie passiert ist.

Beginnen wir mit unserem Chef, Direktor Tscharntke. Er war ein echter "Jupiter tonans", und das im wahrsten Sinne des Wortes. Jeden Morgen stand er persönlich um 8 Uhr am Portal und donnerte die Zuspätkommenden "in Grund und Boden"; selbst die Herrn Kollegen zitterten vor dieser "Begrüßung". Als Klassensprecher in der Oberstufe wurde ich vom Pedell (= Hausmeister) öfters zu ihm zitiert. Mit Bangen zögerte ich an dem gefürchteten Rektorat, bevor ich mich traute zu klopfen. Und obwohl mir Herr Tscharntke persönlich sehr gewogen war, brüllte er mich von seinem Schreibtisch aus erst mal an: "Bleiben SIE dort stehen!" Und dann ergoß sich aus dem gehörigen Abstand eine ungeheure Philippika über mein armes Haupt, denn wenn meine Klasse etwas "ausgefressen" hatte, mußte ich dafür geradestehen, selbst wenn ich selbst gar nicht mitgemacht hatte, nach dem alten militärischen Brauch, daß sich der Hauptmann immer an den Leutnant, nie an die Rekruten hält, wenn es irgendwo nicht klappt. Nur war ich ja nicht der Vorgesetzte meiner Klasse, sondern nur ihr Vertreter.

Aber gerecht war der Chef, das mußte wir ihm zugestehen. In der Prima (Klasse 12 und 13) gab er uns Mathematik. Und da bewies er seine Meisterschaft. Seine Beweisführungen waren absolut klar, seine Klassenarbeiten nicht weniger. Er verlangte viel von uns. Mit Vorliebe gab er selbst Vertretungsstunden, so daß wir manche Woche auf sieben Mathematikstunden kamen. Gebiete wie Sphärische Trigonometrie mit gründlicher Kenntnis der Astronomie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Darstellende Geometrie wurden zusätzlich im Abitur verlangt, wobei keinerlei Formelsammlung zugelassen war; wir mußten die Formeln und Beweise alle auswendig können. Schwerpunkte waren wie heute Analytische Geometrie und Infinitesimalrechnung. Mir hat diese harte Schulung großen Spaß gemacht; noch heute habe ich die sauber ausgeführten Aufgaben und Beweise in meinem Archiv, habe oft mit Hilfe der "Rustinschen Unterrichtsbriefe" noch weiter gearbeitet. Wem allerdings die Mathematik nicht lag, der hatte beim "Chef" einen schweren Stand.

Es gab damals nur fünf Zensuren: 1 (sehr gut), 2 (gut), 3 (genügend), 4 (mangelhaft), 5 (nicht genügend). Damit war die "3" absolut Mittelzensur. Man blieb sitzen mit zwei "Vieren" oder einer "5" im Zeugnis. War eine Klassenarbeit im Durchschnitt "4" und darunter, waren mehr als die Hälfte aller Arbeiten "verhauen", so mußte sie noch einmal geschrieben werden; die erste Arbeit war dann ungültig - eine gute Bestimmung, weil sie, schon um Korrekturen zu sparen, die Lehrer zwang, keine zu schweren Arbeiten zu geben.

Daran hatte sich auch unser Chef zu halten. Zu seinem Ärger fiel eine Klassenarbeit in O I (13. Klasse) unter diese Bestimmung: Er mußte sie noch mal schreiben lassen. Ich hatte bis zum Tage davor wegen Herzbeschwerden vier Wochen fehlen müssen, war zu Kur in einem Herzbad gewesen. Trotzdem schrieb ich die Arbeit mit und bekam als einziger eine 1, (die nun auch nicht gewertet werden konnte). Der Chef schnaubte vor Wut. Des Rätsels Lösung? Mein Freund Alfred Bohrisch hatte mich ständig auf dem laufenden gehalten; und ich hatte ja bei der Kur Zeit, viel Zeit!

Ein freundlicher kleiner Mann war unser Physiker Krusche. Er hatte den Spitznamen "Zassel", weil er ewig mit seiner Uhrkette, die seine Weste zierte, "rasselte". Ich denke gern an seine Physikstunden zurück, die damals viel weniger mit Formeln belastet waren als heute, auch natürlich ganze Disziplinen, wie die Atomphysik, Raumfahrt usw. noch gar nicht enthielten. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir "Zassel" je geärgert haben; er machte alles mit Humor, brachte uns aber viel bei; auch in Mathematik.

In O III (Klasse 9) hatten wir als Mathematiker einen glatten Versager. Otto Graumann war wohl krank, bog sich oft vor Schmerzen, konnte durch seine dicken Brillengläser nur schlecht sehen. Und er vermochte uns selbst einfache Formeln und Aufgaben nicht klarzumachen. In seiner Verzweiflung rief er, wenn er selber nicht mehr recht weiter wußte, immer wieder: "Das muß sicher richtig sein!" Wir Jungen im Flegelalter - die Obertertia galt immer als die schwierigste Klasse - nützten die Schwächen des unglückseligen Lehrers natürlich reichlich aus. Es ging praktisch im Unterricht drunter und drüber. Mehrmals bemächtigten wir uns heimlich seines Zensurbüchleins und änderten die Eintragungen zu unseren Gunsten. Um uns milde zu stimmen, sah er, sofern er es merkte, von Bestrafungen ab. Mit Vorliebe riefen einige von uns, wenn er der Klasse beim Schreiben an der Wandtafel den Rücken zudrehte, seinen Vornamen: "Otto, Otto!" Beleidigt drehte er sich um, erwischte aber natürlich nie einen der Schwerenöter. Schließlich hatte ein Teil der Klasse die Sache satt. Wir lernten ja nichts mehr. Unser damaliger Klassensprecher Eberhard von Köckeritz, ein feiner Kerl, sammelte die Ordnungswilligen um sich und erklärte vor der Stunde:" Wer heut wieder laut stört und "Otto" ruft, dem haue ich eine runter!" Voller Spannung erwarteten wir die Mathematikstunde. Anfangs hielt sich die "Opposition" zurück. Dann: Der erste laute Ruf: "Otto!" Eberhard stand wortlos auf und, hinter dem Rücken des Lehrers, knallten zwei saftige Ohrfeigen. Im nächsten Augenblick war die Hölle los. Die beiden etwa gleich starken Parteien lieferten sich im Klassenzimmer eine erbitterte Schlacht. Hefte und Tintenfässer - die gab es damals noch auf jedem Platz - flogen durch die Luft. Man raufte sich, bis Blut floß. "Otto" stand beinah heulend vor der Tafel, schrie, bettelte, flehte um Ruhe. Niemand kümmerte sich um ihn, der doch die eigentliche Ursache dieser Schlacht war. Schließlich lief er raus, um den Chef zu holen. Aber vor dem besagten Rektorzimmer verließ ihn der Mut. Welcher Lehrer holt sich auch den Chef, um ihm seine schreckliche Blamage zu zeigen! Das Läuten der Glocke erlöste Lehrer und Kämpfer. Eine Strafe erfolgte nicht. Aber diese Stunde werde ich nie vergessen: Niemals habe ich als Lehrer Groteskeres erlebt. "Zassel" hatte dann in U II (10. Klasse) Mühe, uns in Mathematik wieder auf Stand zu bringen; wir folgten ihm dankbar.

Man jammert heute auf unseren Gymnasien so über Klassenarbeiten und Zensuren. Wir waren damals damit bestimmt nicht weniger eingedeckt; trotzdem kann ich mich nicht erinnern, daß uns die Nerven versagt oder daß einer von uns gar den Versuch gemacht hätte, sich das Leben zu nehmen. Waren wir härter, gesünder? Ich weiß es nicht. Statt zweimal gab es damals dreimal Zeugnisse im Jahr: Zu "Michaelis" (also im Herbst, darauf folgten 10 Tage Herbstferien, Anfang Oktober), zu Weihnachten (man hatte noch keine Hemmungen, uns mit den Zeugnissen in die Weihnachtsferien zu schicken) und zu Ostern. Versetzt wurde bei Beginn der Osterferien, m. E. viel günstiger als vor den Sommerferien. Denn im Februar und März lockt draußen nicht viel; an Skilaufen dachte noch niemand. So gab es Zeit und Ruhe zum Arbeiten. Später, im Mai und Juni, konnte man dann ruhig "bummeln" - die nächsten Zeugnisse waren noch weit.

Französisch und Englisch hatten wir in der Oberstufe bis zum Abitur bei unserem Klassenlehrer Weisker. Wir schätzten "Old Waverly", wie wir ihn nannten, menschlich sehr. Nie brauchte er sich um Disziplin zu bemühen, obwohl er manchmal minutenlang schweigend zum Fenster hinausstarrte; wir ruhten dann auch ganz gern. Sein Unterricht war geistvoll, aber nicht modern. Es war die auch heute noch vielfach verbreitete Übersetzungs- und Grammatikmethode. Man sprach mehr Deutsch als in der Fremdsprache. Infolgedessen lernten wir in beiden Fächern leider nicht sprechen. Versuchte Weisker doch mal Sprechübungen ohne Buch, einige Sätze in Französisch oder Englisch, so blieben wir stumm. Das hat mir dann mein Leben lang geschadet. Nie gelang es mir, mich fließend in der Fremdsprache auszudrücken. Dafür schrieben wir in der Oberstufe französische und englische Klassenaufsätze, die wir allerdings im stillen brav aus dem Deutschen übersetzten. Immerhin: Unser französischer Aufsatz im Abitur hieß "Die Leichenrede des Mark Antonius aus Shakespeares 'Julius Caesar'". Eigentlich ja eine rechte Schnapsidee!

Es war leicht, Weisker vom Thema abzulenken. Nur zu gern erzählte er, und dann war die Stunde schnell rum. Eines seiner Lieblingsthemen waren die englischen Adelstitel, ihr historische Entstehung und Bedeutung. Auch davon, obwohl oft wiederholt, ist nicht viel haftengeblieben - wozu auch? Wertvoller waren seine philosophischen Betrachtungen. Allerdings gab es da ein naturphilosophisches Problem, auf dem er leidenschaftlich herumhackte: Das war der Darwinismus! Darwin und Häckel waren für ihn die Menschheitsverderber schlechthin, übelster Materialismus! So war ich, wie ich meinem Tagebuch vom 8.4.1921 (17 Jahre) entnehme, empört, daß sich ein auswärtiger Redner in seinem Thema "Entstehung von Erde und Menschheit" "als übler Monist und Anhänger Darwins erwies, was den sonst ganz guten Vortrag stark beeinträchtigte". Und wie erstaunte ich dann im 1. Semester in Breslau, als der von mir so verehrte Prof. von Frisch seine ganze zoologische Grundvorlesung auf der Entwicklungslehre Darwins aufbaute! Davon hatten wir auf der Schule nie etwas gehört.

Auch nicht im Biologieunterricht? Das ist ein trauriges Kapitel. Wir hatten in der Unter- und Mittelstufe einen recht kümmerlichen "Naturkunde"-Unterricht, der mir so wenig Eindruck gemacht hat, daß ich mich nicht mal an unseren Lehrer erinnern kann. Zum Abschluß gab es in Untersekunda (Klasse 10), dann etwas "Menschenkunde". In der ganzen Oberstufe der Gymnasien also keine Biologie.(Eine Ausnahme bildeten die rein mathem.-naturwiss. orientierten Oberrealschulen!) Das hat sich erst im 3. Reich geändert und ist dann so geblieben: Aus "Naturkunde" wurde "Biologie", und im Abitur wurde sie geprüft.

In der Menschenkunde sparte man die Sexualität aus. Aber einmal bestellte der Chef einen Arzt, um uns, reichlich spät, mit 16 Jahren "aufzuklären". Der Mann im weißen Kittel zeigte uns fast zwei Stunden nur grauenhafte farbige Glasbilder von Geschlechtskrankheiten, eins scheußlicher als das andere. Einen Sanitäter hatte er gleich mitgebracht, der in einem vorbereiteten Nebenraum die Ohnmächtigen betreute (drei waren es mindestens, die man raustrug). Zum Schluß rieb sich der Chef die Hände und meinte befriedigt: "Nun, das dürfte genügen. Die Burschen werden sich bestimmt nicht den Schw... verbrennen!"

Neun Jahre hatten wir dagegen Latein! Was hätte man daraus machen können! Noch 100 Jahre zuvor hielten die Abiturienten Vorträge in lateinischer Sprache, verfaßten ihre Doktorarbeit Lateinisch. Uns Realgymnasiasten hielt man fast künstlich zurück. Jahre lasen wir den langweiligen Caesar, seinen "Bellum gallicum" und "Bellumcivile", bis wir's nicht mehr hören konnten. Dann ein bißchen Ovid, Cicero, Livius - aus! Mosel war unser sehr steifer Lehrer; er verstand es in keiner Weise, uns für antike Kultur zu begeistern. Stur wurde Kapitel um Kapitel übersetzt und am Anfang der nächsten Stunde wiederholt. An sich bereue ich es nicht, Latein gelernt zu haben. Es ist nun mal die Grundlage für die wichtigsten modernen Sprachen, und in Lateinisch sind alle biologischen Namen, die mir sonst im meinem Studium ziemlich unverständlich geblieben wären. Aber waren dazu neun kostbare Schuljahre notwendig? Vier oder fünf hätten's auch getan, und dann wäre Zeit für eine Vertiefung der doch viel wichtigeren neueren Sprachen geblieben - oder für etwas ganz anderes. Heute kann ich, o Schande, kaum mehr ohne Lexikon eine lateinische Inschrift, etwa an einem alten Grabmal, übersetzen.

War Mosel langweilig, so war der andere Lateinlehrer, Munderloh, etwas boshaft. Wenigstens empfanden wir ihn so. Er legte uns rein, wo er nur konnte. Auf mich hatte er es offenbar besonders abgesehen. Wenn sich mehrere beim Übersetzen schon blamiert hatten, rief er mich mit honigsüßer Stimme auf: "Na, nun wollen wir doch mal sehen, was unser lieber Primus, unser Muster, kann!" Wenn ich dann, schon leicht verwirrt, losstockerte, unterbrach er mich schnell: "Auch nichts, auch nichts! Muster ohne Wert!" Und prompt "verpetzte" er mich dann bei Onkel Martin im Lehrerzimmer.

Nun muß ich allerdings etwas abschwächend sagen: Ein Held war ich, der ewige Primus, in den Sprachen nicht. Von der 1 in der Unterstufe rutschte ich allmählich über die 2 auf ein mageres "Genügend" ab, und das im Abitur in allen drei Sprachen. Vatel, der viel sprachbegabter war, hat sich oft darüber geärgert, hat meine vielfach schlampig geführten Hefte gerügt. Er konnte nicht verstehen, daß ich noch in der Oberstufe peinliche grammatische Fehler, besonders in Französisch (Englisch hatte er nie gelernt), beging. "Hans, Du hast eben keinen sprachlichen Bauch! So was muß man doch fühlen!" Weil mir die Sprachen keinen rechten Spaß machten, war ich darin oft ganz schön faul; wirklich fleißig also nur in den Fächern, die mich interessierten. Vermutlich hätten mich meine Frau und alle meine drei Kinder rasch von meinem ersten Platz verdrängt, wenn sie, komische Vorstellung, in meine Klasse als Mitschüler gekommen wären. Aber wie heißt das Sprichwort: "Unter lauter Blinden ist der Einäugige König!"

Nein, zum Medizinstudium hätte heute meine Durchschnittsnote 2,0 nun trotz vieler Einser und Zweier nicht gereicht. Aber zum Glück gab es damals noch keinen "Numerus clausus", der uns vorwärtsgepeitscht hätte. Möchte er verschwinden, bis meine Enkel so weit sind!

Unser beliebtester Lehrer war Onkel Martin (Dr. Martin Treblin, der Bruder meiner Mutter). Ihn allein konnte man als modern im besten Sinne des Wortes bezeichnen. Für ihn war seine Lehrtätigkeit nicht einfach ein "Job", sondern echte Berufung, ja Leidenschaft. Langweilige Stunden gab es bei ihm nicht. Jede Stunde gestaltete er zu einem Erlebnis. Dabei verlangte er viel. So mußten wir in Geschichte alle wichtigen Jahreszahlen sicher beherrschen, also auch alle Regierungszahlen der deutschen Kaiser. Wie aber verstand er es, diese toten Ziffern mit Leben zu erfüllen! Er war ein begeisterter Historiker und nicht weniger ein fesselnder Geograph. Wir lernten alle gern bei ihm. Er gab Deutsch bis zur Mittleren Reife (damals sagte man: "bis zum Einjährigen", weil Schüler, die so weit kamen, nur ein Jahr beim Militär zu dienen brauchten, statt drei Jahre wie die ehemaligen Volksschüler!), und Geschichte und Erdkunde bis zum Abitur, daneben manchmal auch Religion. So konnte ihn eine Klasse in vier Fächern haben, sehr beneidet von den anderen.

Onkel Martin begnügte sich nicht mit dem Unterricht. Er kam auch nachmittags und sonntags mit Schülern zusammen. Dazu gründete er in Lüben den "Wandervogel", war viele Jahre sein Führer. Die Jugendbewegung stand ja in den Jahren um den 1. Weltkrieg in hoher Blüte. Mit seinen Jungen wanderte er fast an jedem Wochenende durch die nahen Wälder, oft 20-30 km weit; erstaunlich, was er seinem kranken Körper da zumutete. Aber vielleicht hat ihm das viele Wandern gerade gutgetan. Ich war oft dabei und verdanke ihm, daß ich, auch unorganisiert, eigentlich mein ganzes Leben ein "Wandervogel" geblieben bin. Bewußt kleideten wir uns anders als damals üblich: mit offenem "Schillerkragen", kurzen Hosen, manche mit etwas verwegenen Locken, also die "Hippies" von damals. Aber im Gegensatz zu der heutigen Jugend waren Alkohol und Nikotin streng verpönt, von "Hasch" gar nicht zu reden. Es sollte ja ein Protest gegen das Bierphilistertum der damaligen Väter sein. Onkel Martin duzte sich mit seinen Wandervögeln, aber nicht im Unterricht. Da war er ganz unparteiisch. Mich hat er stets nur beim Nachnamen aufgerufen. Seine Wandervogelkleidung, die er auch in der Schule trug, vor allem den offenen Schillerkragen - wurde von vielen Kollegen stark kritisiert, wie man ihn überhaupt als "Outsider" betrachtete. Er hatte oft Konflikte mit Direktor Tscharntke. Übrigens gehörten dem Lübener Wandervogel nur Gymnasiasten an.

Onkel Martin hatte immer irgendeine Leidenschaft, die er in seiner Begeisterung auf seine Umwelt zu übertragen suchte. So hieß er als Student scherzhaft der "Hebbel", weil er jeden überzeugen wollte, daß der Dramatiker Friedrich Hebbel damals der größte Dichter wäre. Zu unserer Zeit war es ein "völkischer", also volks-und rassebewußter Dichter, den er überaus schätzte und, wo er nur konnte, bekannt zu machen bestrebt war: der Schlesier Eberhard König. Er war eben durch und durch "völkisch" eingestellt, wie die Mehrzahl der Gebildeten damals. Daran änderte auch der verlorene Krieg nichts - im Gegenteil.

Freiwillig rückten Schüler der Oberklassen schon 1921 wieder ins Feld, um die in Oberschlesien eingefallenen Polen zurückzutreiben. Unter hohen Verlusten erstürmten sie dort den Annaberg und brachten den polnischen Vormarsch zum Stehen. Im selben Jahr wurde in Lüben das Ehrenmal für die gefallenen Dragoner eingeweiht. Daran nahmen die Klassen O III bis O I (9.- 13. Kl.) teil und marschierten anschließend im Parademarsch (!) an einem General vorbei; was vorher natürlich geübt werden mußte! Man bedenke zwei Jahre nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages! So wundert es nicht, wenn man unsere Aufsatzthemen dieser Jahre liest:
"Gut verloren, etwas verloren;
Ehre verloren, viel verloren;
Mut verloren, alles verloren".
(12.03.1921, U II)

Oder das Thema: "Wo sich die Völker selbst befreien, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn" (15.05.1920, U II ) Und am 07.12.1920: "Die Handlung in Kleists "Hermannschlacht". Und schließlich ein Thema in O II (11. Kl.) "Spricht die Geschichte Athens für oder gegen die Demokratie?" Diese Aufsätze spiegeln den damaligen Deutschunterricht wider, und das keineswegs nur bei Dr. Treblin, sondern ab U II (10. Kl.) auch bei seinem von uns ebenfalls hochgeschätzten Nachfolger Erwin Vetter. Hier wird einem klar, daß es Hitler 10 Jahre später leicht hatte, die gebildete deutsche Jugend zu begeistern und zu gewinnen. Er riß sozusagen offene Türen ein!

Der Deutschunterricht bestand natürlich keineswegs nur aus nationalen Themen. Treblin (mein Onkel) und Vetter verstanden es trefflich, uns die großen Klassiker nahe zu bringen. Wir lasen sie mit verteilten Rollen, versuchten uns auch mal an der Darstellung kurzer Szenen. Nie fanden wir diesen Unterricht langweilig oder abgedroschen.

Es war ja für die meisten von uns die einzige und letzte Gelegenheit, intensiv in die Welt der Dichter eingeführt zu werden. Später liest man Dramen in der Regel doch nur noch als Textbuch vor der Aufführung im Theater!

Übrigens gab es Haus- und Klassenaufsätze. Die häuslichen, mit Abgabefristen von 8-10 Tagen, waren eine rechte Plage. Man schob sie vor sich her bis zum letztmöglichen Termin, schrieb sie oft erst in der letzten Nacht ins Reine. Stets bekamen wir nur ein einziges Thema, hatten also nie eine Themenwahl. Wie gut haben es da die heutigen Schüler! Oder auch wie schwer: Denn wer die Wahl hat, hat die Qual.

In der Unterprima bekamen wir (12. Kl.) einen Deutschlehrer, den der liebe Gott im Zorn zum Pädagogen gemacht hatte. Krenke hieß er, und gekränkt hat er uns solange, bis... Nun, das lohnt sich zu berichten. Dem guten Mann fehlte völlig die Gabe, etwas selbständig darzustellen. So beschränkte er sich, aus dem Lesebuch vorzulesen oder Einzelne von uns Vorträge ablesen zu lassen. Es herrschte gähnende Langweile, vor allem, als er wochenlang den an sich ziemlich ledernen "Laokoon" von Lessing Seite um Seite "behandelte", bis wir das Thema nicht mehr hören konnten. Natürlich wehrten wir uns durch Unruhe, Schwatzen, Witze. Krenke rächte sich mit Strafarbeiten, Einträgen, Arrest wie bei kleinen Schülern. Auf unsere Bitte kam der Chef in den Unterricht. Krenke versuchte vergeblich, uns ein Gedicht zu interpretieren. Da unterbrach der Direktor, der Mathematiker, ihn schroff, übernahm selbst die Stunde, trug mit kurzen kräftigen Worten das Gedicht und seinen Inhalt vor und verließ wütend die Klasse. Die beiden Kontrahenten hatten übrigens in der Schule die Spitznamen "Aneas" und "Andreas". Wunderte sich der Chef: "Eigentlich doch sehr ehrenwerte Namen?" Allerdings betonten die Herren Schüler Die Worte etwas anders": "Das "eene Aas" und das "andre Aas"! Der eine war ihnen zu tüchtig, der andre das Gegenteil!

Es änderte sich bei Krenke nichts, konnte sich nichts ändern. Schließlich entschlossen wir Primaner uns, die hohe Schulbehörde in Breslau anzurufen und um Ablösung des Versagers zu bitten, ein damals ziemlich einmaliger Akt. Als Klassensprecher fiel mir die Aufgabe zu, alle Verhandlungen zu führen, die Eingabe abzufassen und einzureichen. Ihren Entwurf habe ich hier vor mir. Er schließt mit den Sätzen: "Wir bitten deshalb, uns einen anderen Deutschlehrer zu gewähren. Jede Stunde ist kostbar für uns, jede Stunde bei Studienrat Krenke ist für uns verloren!"

Unterdessen kam es zu offener Rebellion. Krenke hatte die ganze Unterprima nachmittags in Arrest bestellt und begrüßte uns mit den Worten:" Ich habe Sie "lediglich" (eins seiner Lieblingswörter) herkommen lassen, damit Sie mal eine Stunde ganz still sitzen lernen. Er setzte sich aufs Pult und starrte uns an, registrierte jeden Laut. Wir dösten vor uns hin und sannen auf Rache. Als wir endlich erlöst waren, formierte sich die Klasse in Marschkolonne und marschierte schweigend durch Lübens Gassen hinter ihrem Lehrer her, folgte ihm auf jedem Umweg bis vor seine Haustür. Es war eine peinliche, aber sehr eindrückliche Demonstration. Als Krenke am nächsten Morgen unsere Klasse wegen "schwerster Aufsässigkeit" verklagte, saß bald er, wie wir erfuhren, als der Angeklagte in der Konferenz. Wenige Tage später erschien Oberschulrat Jantzen persönlich, überzeugte sich von der "Güte" des Unterrichts, ließ sich von mir noch mal mündlich alles berichten und putzte uns dann in der letzten Stunde nach Strich und Faden wegen der "Rebellion" zusammen. Dann aber versprach er uns einen baldigen Lehrerwechsel. "Es ist das erste Mal während meines Dezernats, daß ich eine solche Maßnahme treffen muß. Aber es ist auch ein besonders schwerer Fall!" Wir hatten gesiegt, und nicht nur für uns, sondern für die ganze Schule. Krenke wurde pensioniert und verschwand auf sein kleines Gut in Schleswig-Holstein. Versöhnlicher Abschluß: Er schrieb uns nach einigen Monaten einen Brief, worin er uns dankte, daß er nun endlich "nicht mehr leeres, sondern volles Stroh dreschen dürfe".

Und wir hatten bald einen netten neuen Deutschlehrer. Leider nur einige Monate; dann tauchte eine neue Niete auf, Herr Laux, ein junger Mann, aber fast noch unfähiger als Krenke, von uns noch weniger ernst genommen. Auch Riedel, unser Chemielehrer, war eine "Flasche". Und nochmal hatten wir Glück. Bei dem großen gemeinsamen Sommerausflug der Schule in Juni 1923 kam es zu unglaublichen Szenen. Die beiden jungen Herren hatten sich sinnlos betrunken. Im Zuge auf der Heimfahrt nach Lüben sang Riedel gröhlend, schlug um sich, soff vor seinen kleinen Schülern aus der Schnapsflasche. Sein Kollege Laux rollte in Lüben sternhagelvoll aus dem Zug und mußte aus dem Bahnhof herausgetragen werden. Wieder ergriffen wir Primaner die Initiative, denn die mitfahrenden Lehrer schwiegen aus falscher Kollegialität; und diesmal ging alles viel schneller: Die beiden Lehrer wurden postwendend strafversetzt . Und wir starteten nun mit einem wirklich guten Lehrerteam ins Abitur. Demokratie in der Schule 1923!

Übrigens wurde damals allgemein ziemlich viel "gesoffen". Auch Teile unserer Klasse trafen sich heimlich in einem Lokal außerhalb der Stadt und zechten dort wie Korpsstudenten. Mit schuld daran war das Verbot für alle Schüler, bis hin zum Abitur, ohne Erwachsene ein Lübener Lokal zu betreten. Selbst in ein harmloses Café durfte man nachmittags nicht gehen. Und das verlockte natürlich zu heimlichen Saufereien, die dann, wenn sie entdeckt wurden, schwer bestraft wurden, im schlimmsten Fall mit der Verweisung von der Schule.

So rückte die Oberprima heran, mein letztes Schuljahr. 1923 war eins der traurigsten Jahre der Nachkriegszeit, in wirtschaftlicher und in politischer Hinsicht. Das Abitur fand im Frühjahr 1924 statt. Fünf Arbeiten wurden geschrieben: Ein deutscher Aufsatz, ein französischer Aufsatz, eine lateinische Übersetzung, Mathematik und Physik. Die Lehrer reichten selbst ihre Vorschläge ans Provinzialschulkollegium ein, für jedes Fach drei; davon wurde einer ausgewählt. Jeder Fachlehrer wußte, was drankommen könnte, und bereitete seine Klasse vorsichtig darauf vor. Vom französischen Aufsatz über ein Thema aus Shakespeares "Julius Caesar" habe ich schon berichtet. In Latein kam ein Text aus Livius dran, Übersetzung aus dem Lateinischen.

Unvergeßlich aber ist mir die Physikarbeit geblieben, mit einem der merkwürdigen Zufälle meines Lebens. "Zassel" hatte bei der Wiederholung in der Klasse das "Dopplersche Prinzip" etwas zu kräftig betont. Als Abiturient ist man ja sehr hellhörig. Es handelt sich dabei bekanntlich um die Tonerhöhung beim Herannahen einer Tonquelle (z.B. einer pfeifenden Lokomotive). Mit Hilfe einer einfachen Formel kann man entweder die Geschwindigkeit der Tonquelle (also hier der Lokomotive) oder die wahre Tonhöhe ausrechnen. Ich stellte mir nun selbst eine passende Aufgabe zusammen, wobei ich auf bequemes Kürzen des Bruches achtete, wie es Krusche gern tat und wozu sich nur wenige Zahlen eigneten. Als ich eben fertig war, kam ein Mitschüler zu Besuch und sah mir neugierig über die Schulter. Was ich denn da hätte? Scherzhaft flunkerte ich: "Das ist unsere Physikaufgabe (zumindest eine von drei Möglichkeiten). Aber sag es niemandem weiter, ich habe sie aus einer geheimen Quelle!" Nun glaubte man immer, ich erführe solche Dinge von meinem Onkel, was aber nie der Fall war. Natürlich verbreitete sich die Mär rasch durch die ganze Klasse. Alle paukten das Dopplersche Prinzip - denn man mußte eine Abhandlung zur Aufgabe schreiben - und prägten sich die Aufgabe ein. Am Morgen der Physikarbeit öffnete der Chef selbst vor unseren Augen das versiegelte Schriftstück. Und er las - ich versank fast vor Schreck in den Boden - Wort für Wort und Ziffer für Ziffer meine Aufgabe vor. Verstohlen blickten sich die Kameraden nach mir um, nickten mir freundlich zu: "Fein hast Du das gemacht!" Alle schrieben diese Arbeit 1 oder 2 ; nur einer hatte den "Betrug" von sich gewiesen, ein ganz Frommer; er allein hat dann die Arbeit prompt verhauen. "Zassel" konnte sich das Ergebnis natürlich nicht erklären, witterte einen Großbetrug, der aber im Abitur fast unmöglich war (wir durften in den 3 Stunden nicht austreten). Ich habe ihm die Sache nach dem Abitur erzählt, und er hat nur herzlich gelacht.

Gut ging auch die wirklich nicht leichte Mathematikarbeit mit drei großen Aufgaben, endlosen fünfstelligen Logarithmen. Und nun hieß es, geduldig warten. Aber längst nicht so lange wie heute, wo die Arbeiten erst mal zur Zweit - und Drittkorrektur im Lande herumgeschickt werden. Die Pause zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen betrug wenige Wochen. Die mündliche Prüfung fand statt am 14. März 1924.

Eines Morgens wurde ich wieder mal zum Chef bestellt, der übliche Gang mit schlechtem Gewissen. Und prompt brüllte der Gewaltige von seinem Schreibtisch her: "Bleiben Sie an der Tür stehen!" Pause. Was ist denn nun bloß wieder passiert, so kurz vor dem Abitur? "Gehen Sie zu Herrn Vetter (unserem Deutschlehrer) und lassen Sie sich ein Thema für die Rede bei der Entlassungsfeier geben!" Das aber hieß, einfach ausgedrückt: Befreiung von der mündlichen Prüfung; keine Paukerei mehr, frei, frei! Als ich stumm meine Verbeugung machte, grinste "Jupiter" übers ganze Gesicht. Nur mir wurde dieses Glück zuteil. Die anderen büffelten bis zur letzten Stunde. Ich half natürlich, wo ich konnte. Aber vor allem oblag mir nun die ganze Vorbereitung des Abschieds, der 1924, als sich Politik und Währung erfreulich beruhigt hatten, zum ersten Mal seit dem Kriege wieder etwas festlich begangen werden sollte. Unerfahren auf diesem Parkett, die reine "Unschuld vom Lande", passierten mir dabei reihenweise Pannen, die mich nur deshalb nicht mehr besonders aufregten, weil ja die "Penne" praktisch schon hinter mir lag. Die Sache begann mit der Abiturientenzeitung, damals Novum ohne Vorbild. Ich sammelte Material; es floß mehr als spärlich, dieweil die "Kollegen" vor dem Mündlichen andere Sorgen hatten. Und meine dichterische Begabung war bescheiden. Einiges tröpfelte, aber mir fehlte ein "Reißer". Da sprang meine vielseitige Mutter ein. Sie war als "Familiendichterin" bekannt, bedichtete jedes Jubiläum, ja sogar Hochzeiten im Dorf. Den notwendigen Stoff lieferte ich ihr. Und so schmetterten wir dann am Abschiedsabend ihr Lied nach der Melodie "O alte Burschenherrlichkeit", als ob wir schon als Verbindungsstudenten in der Kneipe säßen:

1) O alte Schülerherrlichkeit,
wohin bist du entschwunden?
Bald liegst du hinter uns so weit.
Nun sind wir ungebunden.
Wir drücken keine Bänke mehr,
Wir pauken nicht Vokabeln mehr.
O jerum, jerum, jerum.
O quac mutatio rerum.

2) Die Schülermütz bedeck' der Staub,
Die Mappe fall' in Trümmer,
Grammatik werd' des Feuers Raub,
Ade, ihr Klassenzimmer!
Wie war das Pauken oft so schwer.
Wir kriegen keine "Vieren" mehr.

3) Ade, Ihr lieben Pauker all.
Wie habt Ihr uns geschunden!
Am "schönsten" war'n auf jeden Fall
Andreas' deutsche Stunden.
Er las uns vor Literatur,
Wir brauchten's nachzulesen nur.

4) Wenn er mit strengem Angesicht
Die Vorträg' kritisierte,
Er fragte nach dem Inhalt nicht,
Die Haltung er zensierte.
Wie wir die Arm und Bein 'gesetzt,
Das wurde nur von ihm geschätzt.

5) Französisch ist ein ödes Fach,
Philosophie wir lieben;
Grammatik wird mit Ach und Krach
Daneben nur getrieben.
Doch lernten wir für's Leben mehr,
Als wenn es nur Französisch wär'.

6) Wer nicht Latein verstehen kann,
Der ist "wie in der Wüste".
Erst damit fängt die Bildung an.
Sonst ganz verloren biste.
Das ut, ne, quin, quod, quominus,
Das ist der Weisheit höchster Schluß,

7) Doch keine Weisheit kommt Dir nah,
Mathematik, Du Beste!
War mal ein Lehrer nicht gleich da,
Schon paukt der Direx feste.
Wir ochsten früh, wir ochsten spät
14 Stunden, bis die Sonn' aufgeht.
Er bringt uns ohne Gnade
zum Professorengrade.

8) Begeisterung für Ideale lehrt
Der Feuergeist, der feine;
Wohl niemand Bismarck so verehrt.
Nur der gilt ganz alleine.
Doch "König " ist sein anderer Held,
Er kämpft für ihn in aller Welt.

9) Und nun zum Schlusse lassen wir
Die alte Penne leben!
Geh'n wir auch froh hinaus aus ihr,
'nen Dank wir gern ihr geben.
Wir denken stets an sie zurück.
Doch vorwärts nun den frohen Blick!

Es wurde der größte Erfolg meiner hektographierten Zeitung. "Nun, sag mir bloß", hieß es "wer hat den tollen Kantus verfaßt?" Ich zuckte die Achsel; es hat keiner der Kameraden je erfahren.

Dann kam ich auf die Idee, im Rahmen des Abschiedsabends ein offizielles Essen in einem Lübener Hotel zu geben. Schon rollte ja seit vier Monaten die gute neue Rentenmark. Und dazu lud ich unsere wichtigsten Lehrer ein: "Zum Abschiedskommers der Abiturienten beehre ich mich ..." Sie kamen, erfahren in solchen Bräuchen, in gewürfelten Kommersjacken. Wir begrüßten sie feierlich in unseren dunklen Abiturientenanzügen. Entsetzt rief mich unser guter Deutschlehrer Vetter beiseite: "Aber Rudolph, das ist doch kein Kommers!" Ja, wie sollte ich auch schon wissen, was man da tun oder nicht tun darf!

Nun hatten wir uns vorher geeinigt, unserem langjährigen Klassenlehrer Weisker die gesammelten Werke des schlesischen Dichters Hermann Stehr, den er sehr verehrte, zu schenken. Ich überreichte sie ihm mit den üblichen Dankesworten. Kurz darauf verließ der Chef den Raum und ward nicht mehr gesehen. Er nahm mir tödlich übel, daß wir ihn, der wohl irgendwie an unserer Klasse einen Narren gefressen hatte, übergangen hatten. Die Versöhnung erfolgte erst Wochen danach bei meinem Abschiedsbesuch, der damals allgemein üblich war. Schließlich flog ich spät abends, leicht angeheitert, auf die Nase und kam am nächsten Morgen ziemlich zerschunden zur offiziellen Entlassungsfeier in die Schule. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Das tat der Chef denn auch gründlich, aber eiskalt. Und dabei hatte ich doch die Ehre, die offizielle Abschiedsrede zu halten! Vetter hatte mir ein Thema gegeben, das mir nicht gefiel. Hochtrabend wählte ich das Bismarck-Wort: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der Welt!" Das Manuskript, das ich, im Reden noch gänzlich ungeschult, wörtlich ablas, liegt hier vor mir. Schrecklich peinlich die Fülle der großen Worte, die wir heute einfach nicht mehr hören können, die aber wohl damals üblich waren: "....Laßt uns dafür Sorge tragen, daß der nationale Gedanke wieder in jedes deutsche Herz einziehe!... Und wenn Deutschland nicht auf friedliche Weise den Weg zum Lichte findet, dann muß es sich mit der Waffe in der Hand diesen Weg bahnen!.... Unser deutscher Gott fordert es, unerbittlich, hart..." Vetter meinte nachher nur lächelnd: "Ich glaube, mit meinem Thema wären Sie besser gefahren!" Ich sang danach noch im Chor mit, und davon ist mir eine bekannte Strophe im Gedächtnis geblieben, die mich ergriff und die später wörtlich zutraf:
"Heut noch sind wir zu Haus,
Morgen geht's zum Tor hinaus;
Denn wir müssen wandern,
Keiner weiß vom andern!"

Tatsächlich haben wir 15 Abiturienten von 1924 uns sehr schnell aus den Augen verloren. Noch ein paar Briefe mit Freund Bohrisch - dann schlief auch das ein. Von keinem einzigen weiß ich, was aus ihm geworden ist. Dazu trug später vor allem bei, daß der Verlust unserer Heimat uns in alle Winde zerstreute. Es gab keinen Sammelpunkt mehr.

Abschnitt 1: Vorwort Abschnitt 2: Die Chronik Abschnitt 3: Aus dem Schulalltag Abschnitt 4: Die Lehrkräfte Abschnitt 5: Die Schüler Abschnitt 6: Schülererinnerungen von Eva Munderloh Abschnitt 7: Fahrschülererinnerungen von Gustav Fechner, Raudten   Abschnitt 9: Erinnerungen von Erich Archner und Rudolf Behnisch Abschnitt 10: Erinnerungen des Fahrschülers Leo Beyl, Raudten