Aus dem Schulalltag
von Hans-W. Jänsch
Der Aufnahme in den Kreis der "Auserwählten", in die Arme der geistigen Nährmutter ging eine Prüfung voraus, die dem Bildungsstand des vierten Grundschuljahres entsprach und gewöhnlich vom Klassenleiter der Sexta beaufsichtigt wurde. Sie fand auch Im Klassenzimmer der Sexta statt.
Da saßen sie nun, die armen Delinquenten, verschüchtert und beklommen in einer fremden Umgebung, inmitten von zumeist unbekannten Leidensgefährten, in der Regel wohl auch ein wenig verängstigt ob der Ermahnungen und Erwartungen ehrgeiziger Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten und sollten nun ihre Eignung für einen neuen Lebensabschnitt unter Beweis stellen, in den einzutreten dem einen oder anderen gar nicht so sehr am Herzen lag. Drohte doch das Los, aus der bisherigen Schulgemeinschaft, nicht selten sogar Familiengemeinschaft herausgerissen zu werden, alte Freundschaften aufgeben und auf vertraute Gewohnheiten verzichten zu müssen.
Trotzdem war freilich die Freude groß, wenn es gelungen war, die Hürde erfolgreich zu nehmen. Wer auf der Strecke blieb, hatte die Möglichkeit, die Aufnahmeprüfung im nächsten Jahr zu wiederholen.
Vor 1933 war es üblich, daß der Erfolgreiche alsbald für seine Leistung mit der blauen Pennälermütze mit Goldborte belohnt wurde, wenn er einsichtige und zahlungsfähige Eltern hatte. 1933 wurde dieses äußere Zeichen der Zugehörigkeit zur höheren Schule aber als der Volksgemeinschaft abträglich abgeschafft. Freilich dauerte es noch eine Weile, bis sich die in langen Jahren gewachsene und gepflegte Eitelkeit dem obrigkeitlichen Willen fügte. Die Mützen wurden in Lüben gewöhnlich im Laden des Herrn Tschöpe in der Bahnhofstraße, unmittelbar neben Kaiser's Kaffeegeschäft, gekauft. Die Klassenzugehörigkeit der Schüler ließ sich an den verschiedenfarbigen Bändern und bronzenen Sternen erkennen. Die Primaner trugen weiße Mützen.
Nicht alle Schüler traten mit der Absicht in die Schule ein, dort auch das Abitur abzulegen. Manche hatten sich von vornherein nur das Ziel des Einjährigen (mittlerer Bildungsabschluß) gesetzt. Es verlangte mindestens den erfolgreichen Besuch der Untersekunda. Andere entschieden sich erst unterwegs unter dem Druck der Verhältnisse für diese Behelfslösung.
Der Begriff des "Einjährigen" geht auf eine Regelung beim kaiserlichen Militär zurück, das sich bei Wehrpflichtigen mit mittlerem Bildungsabschluß, die den Weg des Reserveoffiziersanwärters einschlagen wollten, mit einer einjährigen Wehrdienstzeit (gegenüber der Regeldienstzeit von drei Jahren) begnügte.
Seit die Schule auch Mädchen offenstand, entschlossen sich insbesondere viele von ihnen für den mittleren Bildungsabschluß. Der eine oder andere verließ die Schule auch schon nach der Quarta. Dieser Abschluß war dem Volksschulabschluß gleichwertig und trug im Schülerjargon den Namen "Quartaabitur".
Der erste Schultag jeden Schuljahres begann - jedenfalls vor 1933 - mit einer feierlichen Andacht in der Aula. Dazu spielte Oberschullehrer Zingel das Harmonium, ein Lehrer verlas vom Podium herab ein Bibelwort. Der Direktor hielt eine Rede und rief die Schulordnung ins Gedächtnis. Dann bezogen die Schüler ihre Klassenräume. Die Neuanfänger betraten ehrfurchtsvoll die Sexta, der Klassenleiter überprüfte ihre Vollzähligkeit, wies ihnen ihre Plätze zu, erteilte Ratschläge und Belehrungen und gab den Stundenplan bekannt. Dann waren sie für den ersten Tag schon wieder entlassen. Ältere ehemalige Schüler erinnern sich, daß solche Andachten wöchentlich jeden Montag und regelmäßig auch am ersten Schultag des Winterhalbjahres stattfanden.
In den ersten Schultagen hatten die "Neuen" noch Mühe, sich im Labyrinth des Gebäudes zurechtzufinden. Aber schon bald hatten sie sich eingewöhnt. Das Erdgeschoß beherbergte die Sexta bis Obertertia und die Oberprima (solange es diese gab), das Musikzimmer, ein Kartenzimmer und das Reich des Pedells. Sein Raum lag unmittelbar neben der geräumigen Treppenhaushalle auf der Hofseite des Korridors. Das Klassenzimmer der Sexta diente nebenher auch als Aufenthaltsraum für die Fahrschüler.
Zur Halle führte vom großen Eingangsportal an der Schulpromenade eine kurze, aber breite steinerne Treppe herauf. Eine Doppelflügeltür, die gewöhnlich offenstand, grenzte sie zum Korridor und zur Halle hin ab. Studiendirektor Tscharntke pflegte nach dem ersten Klingelzeichen oft in dem Durchgang Posten zu beziehen, um Nachzügler in Empfang zu nehmen. In einem verbürgten Fall hat er eine sehr hübsche junge Dame einer oberen Klasse, die schon wiederholt durch Säumigkeit aufgefallen war, mit den Worten begrüßt: "Lotte, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich heute schon gewaschen haben."
An der rechten Wand der Treppenhaushalle befand sich an der Wand zu Sibis Refugium ein grüngefliestes Brunnenbecken mit einem Trinkwasserspender, der auf Druck einen Wasserstrahl freigab, bestens geeignet für allen möglichen Unfug. An der Fensterwand standen in großen Kübeln dekorative Palmen.
Im ersten Stock, zu dem in einer großen quadratischen Kehre eine breite Treppe führte, befanden sich das Allerheiligste, nämlich das Direktorzimmer mit Erker, das Lehrerzimmer, der Physik- und Chemiesaal, die Klassenräume von Untersekunda, Obersekunda und Unterprima, ein Raucherzimmer für die Lehrkräfte und ein Zimmer mit Anschauungsmaterial für den Biologieunterricht.
Zur Auffrischung des Gedächtnisses hier eine Übersicht über die Klassenbezeichnungen und ihre Nummerierung:
Wortbezeichnung |
Bezeichnung in absteigenden lat. Ordnungszahlen |
Bezeichnung in aufsteigenden arab. Ordnungszahlen |
Sexta |
VI |
1. Klasse |
Quinta |
V |
2. Klasse |
Quarta |
IV |
3. Klasse |
Untertertia |
U III |
4. Klasse |
Obertertia |
O III |
5. Klasse |
Untersekunda |
U II |
6. Klasse |
Obersekunda |
O II |
7. Klasse |
Unterprima |
U I |
8. Klasse |
Oberprima |
O I |
9. Klasse |
In einer weiteren großen Kehre führte die Treppe schließlich zum zweiten Stock, der neben der großräumigen, wohlgestalteten Aula noch dem Zeichensaal, der Mädchentoilette und einem Asservatenraum Platz bot.
Die Knabentoilette befand sich in einem niedrigen Anbau am Westende des Korridors im Erdgeschoß. Zu ihr führten ein paar Treppenstufen hinunter. Vom Vorplatz gelangte man über ein paar weitere Stufen in den Schulhof. Dieser Weg mußte in den Pausen benutzt werden. Es gab zwar noch einen weiteren Zugang zum Hof durch den Keller von der Eingangshalle aus. Diesen Weg durften aber nur die Fahrschüler benutzen, vor allem die Radler. Ihnen stand im Keller ein Fahrradabstellraum zur Verfügung. Wegen des Betretungsverbots übten die geheimnisvollen Kellerräume, zu denen auch der Heizungsraum und ein dunkles Altpapierverlies gehörten, magische Anziehungskraft auf uns aus. Vor allem das Altpapierverlies hatte es uns angetan. Dort war es im Winter nicht nur wohlig warm, es ließen sich auch herrliche Schlachten darin schlagen. Man durfte sich nur nicht von Sibi erwischen lassen. Von den Kellerräumen führte nämlich ein Verbindungsgang zu der im Souterrain des östlichen Seitenflügels gelegenen Wohnung des Schulhausmeisters.
Unterrichtsbeginn war viele Jahre hindurch im Sommer um 7.00 Uhr, im Winter um 8.00 Uhr. Wohl mit Rücksicht auf die Fahrschüler wurde die Sommeranfangszeit später auf 7.30 Uhr verlegt. Die Woche hatte fünf Unterrichtstage. Da die Wochenstunden je nach Klasse zwischen 30 (in den unteren Klassen) und 35 (in den oberen Klassen) lagen, ergaben sich pro Tag durchschnittlich sechs bis sieben Unterrichtsstunden zu je 45 Minuten. Mit dieser Unterrichtsbelastung können wir heutigen Schülern ohne Minderwertigkeitskomplexe in die Augen schauen. Daneben gab es übrigens noch Vertiefungsunterricht in Arbeitsgemeinschaften, z. B. für Geopolitik, neue deutsche Literatur, Kunstgeschichte, Vermessungskunde und andere Fachgebiete. Schließlich fielen zusätzliche Übungszeiten für die Angehörigen des Schulchores und des Schulorchesters an. Wer Stenographie lernen wollte, konnte das gegen ein geringes Entgelt bei Studienrat Fiedler tun. Den Unterricht erteilte er teils im Gymnasium, teils in Räumen der Berufsschule an der Haynauer Straße. Als ich damals davon Gebrauch machte, ahnte ich nicht, wie notwendig ich in meinem Beruf Steno einmal brauchen
würde.
Die Nachmittage waren bis auf zwei Stunden Spielturnen (für die unteren Klassen) wöchentlich grundsätzlich unterrichtsfrei. Ein Nachmittag wöchentlich war hausaufgabenfrei. Bis auf die große Pause, die nach meiner Erinnerung jeweils auf die dritte Unterrichtsstunde folgte und 15 Minuten dauerte, waren die übrigen Pausen nur kurz. Wenn es das Wetter erlaubte, mußten wir uns während der großen Pause auf dem Schulhof aufhalten. Dort hatte jede Klasse ihren angestammten Platz; die Sexta unter der großen Linde, die wohl noch aus der Zeit des Pestfriedhofs stammte, die Quinta im Hofeck an der alten Bretterbude usw. Wehe dem, der die überkommene Hackordnung durchbrach! Da setzte es dann schon mal ein paar Püffe. Im übrigen herrschten die uralten weltweiten Gepflogenheiten: Die Großen gingen auf die Kleinen und die Buben gingen auf die Mädchen los. Sehr wesentlich wurde das Geschehen auf dem Pausenhof vom Durchsetzungsvermögen des aufsichtshabenden Lehrers bestimmt. Der eine oder andere brachte es sogar fertig, uns zu einem halbwegs gesitteten Rundgang zu bewegen. Die "alten Herren" der Prima waren abwechselnd als Aufsichtshilfskräfte eingesetzt. Sie hatten vor allem darauf zu achten, daß niemand in der Klasse zurückblieb. Das war hart für diejenigen, die noch an ihren Hausaufgaben feilten. Sie mußten ihre hektische Tätigkeit dann in die Toilette verlegen, wo aber das Risiko, erwischt zu werden, auch nicht gerade gering war. Routinierte Abschreiber fanden in dem weitläufigen Gebäude aber immer ein geeignetes Plätzchen.
Den älteren Schülern diente die Toilette auch als heimlicher Rauchersalon. Den Posten des Aufpassers mußte unter der Androhung von Ohrfeigen gewöhnlich ein jüngerer Schüler übernehmen. Wer sich mit Sibi gut verstand, der konnte seinen Pausenbedarf an Glimmstengeln schon mal bei ihm zum Selbstkostenpreis erstehen. Den Frevel des verbotenen Qualmens zu unterbinden, war das besondere Hobby des passionierten Nichtrauchers Studienrat Fiedler, während so leidenschaftliche Tabakfreunde wie Studienrat Munderloh oder Oberschullehrer Halfpaap (seinen nikotingebrannten Schnauzer sehe ich heute noch vor mir) ihre Augen schon eher einmal verständnisvoll zudrückten.
Bei schlechtem Wetter mußten wir in den Korridoren promenieren. Das Gedränge begünstigte jeden Unfug. Die Aufsicht hatte ihre liebe Not.
Für den Turnunterricht stand dem Gymnasium die Turnhalle des Männerturnvereins D. T. von 1862 in der Haynauer Straße zur Verfügung. Die Form des Gebäudes ließ unschwer erkennen, daß es ursprünglich ein Sakralbau war. Es wurde 1877 als Irvingianer-Kapelle errichtet, diente aber nur ein Jahrzehnt kirchlichen Zwecken. 1888 wurde es vom Männerturnverein übernommen und innen zur Turnhalle umgebaut. Heute wird das Gebäude wieder kirchlich genutzt. Benötigten wir für den Sportunterricht Medizin-, Hand- oder Fußbälle, so mußten wir sie bei Sibi in Empfang nehmen und dort auch wieder abliefern. Leichtathletik und Ballspiele betrieben wir auf dem städtischen Turnplatz am Schillerpark. Sportwettkämpfe fanden bisweilen auch auf dem Kleinen Exerzierplatz statt.
Der in geordneten, starren Bahnen verlaufende Schulalltag hatte aber doch auch seine Höhen und Tiefen. Zu letzteren gehörte die Zeugnisverteilung. Dreimal jährlich mußten wir sie in banger Erwartung über uns ergehen lassen. Solange die Schuljahre zu Ostern begannen, gab es Zeugnisse zu Michaelis (Ende September), zu Weihnachten und zu Ostern. Nach der Umwandlung auf den August-Beginn des Schuljahres, erhielten wir Zeugnisse dann Anfang Juli, Weihnachten und Ostern. Die gefürchteten "blauen Briefe" wurden dementsprechend erst zu Weihnachten, später zu Ostern verteilt.
Zu den geschätzten Höhepunkten gehörten in erster Linie die Ferien. Ihre Dauer war im Laufe der Jahre Schwankungen unterworfen, insbesondere in den Kriegszeiten. Im allgemeinen gab es relativ kurze Ferien (von rund 14 Tagen) zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und im Herbst (Kartoffelferien). Die großen Ferien dauerten gewöhnlich von Anfang Juli bis Mitte August.
Freudig begrüßte Ereignisse waren auch die Wandertage, die während der Sommerhalbjahre regelmäßig (drei- bis viermal) stattfanden. Gewöhnlich führten sie in die Lübener Umgebung und beschränkten sich auf die vormittägliche Unterrichtszeit. Ziele für die unteren Klassen waren z. B. die Oberförsterei, Stadtziegelei, der Findling im Stadtforst, die Exnermühle, Vorderheide, der Wasserwald bei Kaltwasser, der Koslitzer Pilz (216 m), Rinnersdorf und dgl. mehr. Mit dem Aufstieg in die höheren Klassen wurden auch die Ziele anspruchsvoller. Da ging es dann schon mal mit dem Fahrrad zur Grenzkirche nach Kriegheide oder zur Wallfahrtskirche in Hochkirch.
Ein Wandertag jährlich erstreckte sich über den ganzen Tag, mitunter auch über mehrere Tage. So erinnert sich unser Mitschüler Alfred Grosser noch an folgende große Jahresausflüge:
Quinta: Haßberge bei Jauer
Quarta: Bad Salzbrunn
Untertertia: Isergebirge, Talsperre Goldentraum, Marklissa, Ruine Greiffenberg, Tafelfichte, Heufuderbaude, Bad Flinsberg
Obertertia: Fürstensteiner Grund, Schloß Fürstenstein, Bad Salzbrunn
Obersekunda: Mit Fahrrad zum Schlawaer See
Unterprima: Dreitägige Radtour durch das Boberkatzbachgebirge
Oberprima: Mehrtägige Kammwanderung im Riesengebirge.
Besonders beliebt, wohl wegen seiner hervorragenden archäologischen und prähistorischen Fachkenntnisse, waren die von Studienrat Dr. Treblin geführten Ausflüge. Als Mitinitiator der Lübener Wandervogelbewegung hatte er - wie von vielen Ehemaligen hervorgehoben wird, ein besonders harmonisches Verhältnis zu seinen Schülern.
Für Abwechslung im Einerlei des Schulalltags sorgten auch die verschiedensten Veranstaltungen wie Weihnachtsfeiern mit Krippenspielen (vor 1933), Konzerte des Schülerorchesters und -chores, Theateraufführungen, Reichsjugendwettkämpfe, der Verfassungstag am 11. August (vor 1933), der Besuch von Filmvorführungen in Lüben oder auch in Liegnitz. So erinnert sich unser Mitschüler Martin Nieke (Eintritt 1925) noch gut an die Aufführung des Theaterstückes "Bergen op Zoom" auf selbstkonstruierter Bühne im Jahr 1933 und an mehrere Hans-Sachs-Spiele. Und Karl Ernst weiß zu berichten, daß unter der Leitung von Dr. Treblin die Stücke "Tenores" und "Stein" von Eberhard König, "Heinrich von Ofterdingen" von Lienhard und "Zriny" von Theodor Körner erfolgreich aufgeführt wurden. Manche Veranstaltungen in der Aula sind denen, die daran teilnahmen, unvergeßlich geblieben. Das gilt z.B. für
- die Trauerfeier für den verstorbenen ersten Schulleiter Dr. Caspari im Januar 1918,
- die Enthüllung der marmornen Gedenktafel für die im 1. Weltkrieg gefallenen Lehrkräfte und Schüler,
- die Trauerfeier für den verdienten und beliebten Lübener Bürgermeister Otto Faulhaber im März 1919,
- die schon erwähnte Feier zum 25jährigen Bestehen der Schule im April 1933 und schließlich
- die Trauerfeier für unseren hochgeschätzten unvergessenen Oberschullehrer Gustav Zingel im April 1943.
Auch an die jährlichen Abiturfeiern soll erinnert werden, die in Anwesenheit aller Klassen und des Lehrerkollegiums regelmäßig in der Aula stattfanden. Mitschüler Alfred Grosser, Abitur 1934, erinnert sich noch gut an seine Abiturientenfeier: "Am 11. und 12. März fand das mündliche Abitur statt. 15 von uns erhielten das Reifezeugnis, doch nur dreien wurde die damals noch besonders zuzusprechende Hochschulreife zuerkannt, ein Prädikat das meines Wissens 1935 wieder abgeschafft wurde. Einige Tage später fand die feierliche Entlassung in der Aula statt. Sie war umrahmt von Gesängen des Schulchors, einem Geigensolo von Hans-Eberhard Weisker und einem Quartett, bei dem Studienrat Fiedler das Cello spielte. Er als unser letzter Klassenlehrer hielt auch die Abschiedsrede des Lehrerkollegiums und unser Klassenkamerad Walter Neumann die der Abiturienten. Sie stand unter dem für die damaligen Verhältnisse bezeichnenden Motto :"Deutsches Volk, in hundert Jahren kam Dir ein solcher Frühling nie". Anschließend verteilte Studiendirektor Tscharntke die Reifezeugnisse. Am Abend versammelten sich die Abiturienten, ihre Angehörigen und die Lehrkräfte im "Grünen Baum" zum Festkommers. Das Abitur 1924 beschreibt Mitschüler Hans-Joachim Rudolph in den Ausschnitten aus seiner Biographie bildhaft, treffend und detailliert.
Erwähnung verdienen an dieser Stelle auch die beliebten Veranstaltungen des VDA (seit 1933 Volksbund für das Deutschtum im Ausland). Er war zwar keine schulische Einrichtung, aber eng mit der Schule verbunden, gleichsam der Schulverein schlechthin. Seine ganz große Zeit war vor 1933. Mitschülerin Eva Munderloh geht in ihrem Aufsatz VDA und Schule näher darauf ein.
Zu den angenehmen Seiten des Schulalltags gehörte auch der Zeichenunterricht bei Oberschullehrer Halfpaap, vornehmlich wenn er uns dafür Motive in den abgelegenen Winkeln des Städtchens auswählte. Eine bessere Gelegenheit zur Zweckentfremdung des Unterrichts konnte es nicht geben. Mitschüler Leo Beyl, Abitur 1930, berichtet darüber Ergötzliches in seinen Erinnerungen eines Fahrschülers.
Mitschüler Gerhard Kindler, Abitur 1925, steuert dazu folgendes bei: "OL Halfpaap war einer der Lehrer, die uns für voll nahmen und anständig behandelten. So fehlte uns jeder Anreiz, ihn zu verärgern. Er war immer verständnisvoll, großzügig und hilfsbereit. Wenn wir mit den Zeichenblöcken in der Stadt unterwegs waren, uns aber anstatt zu zeichnen auf die nächste Stunde vorbereiteten, kam er nicht selten und half uns, sofern er erkannte, daß nicht Faulheit, sondern die Schwierigkeit einer Aufgabe der Grund für den Fehlgebrauch seiner Zeichenstunde war. Wir staunten oft über seine fremdsprachlichen, aber auch mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse."
Bei aller Glorifizierung, zu der der nach 50 oder mehr Jahren Rückschau Haltende neigt, darf doch nicht übergangen werden, daß der eine oder andere den täglichen Schulbesuch als rechte Tortur empfunden hat. War doch die Prügelstrafe noch an der Tagesordnung und das bevorzugte Erziehungsmittel mancher Lehrer. Mitschüler Gerhard Kindler, selbst ein im Dienst ergrauter Schulmann, hat keine gute Erinnerung an seine Schulzeit in Lüben, die noch in die Zeit des 1. Weltkrieges fällt. Er schreibt: "Viele Ungerechtigkeiten und Schikanen, ja Brutalitäten, die wir von der Sexta bis zur Quarta erdulden mußten, kann ich einfach nicht vergessen. Vor dem Klassenleiter der Quinta, Krenke, zitterte ich schon, wenn er die Klasse betrat. Jeden Tag gab es Prügel mit dem Rohrstock. Ein wahrer Sadist war auch Studienassessor Thur. Man sah ihm förmlich an, wie er die Qualen der Gezüchtigten genoß. Besonders hatte er es auf meinen Freund Otto Priesemuth abgesehen. Als der einmal eine große Tüte Birnen mitbrachte, um den schlagwütigen Lehrer sanft zu stimmen, sagte Thur grinsend: "Danke schön, Otto, und nun bück Dich, jetzt kriegst Du doch noch Deine Prügel." Von Studienrat Riedel bekam unser Klassenkamerad in der Untersekunda, Hemmrich, eines Tages eine so kräftige Ohrfeige, daß das Trommelfell platzte. Die Körperverletzung blieb folgenlos für den Lehrer. Gerhard Kindler weiß aber zu differenzieren. Er verschweigt nicht, daß die Mehrzahl der Lehrer aus tüchtigen, verständnisvollen Pädagogen bestand, die ihrer Aufgabe gewachsen waren und sich großer Achtung und Beliebtheit erfreuten. Nur sie konnten eben den tieferen Eindruck der prügelnden Minderheit nicht wettmachen.
Anders als heute gab es damals weder Lernmittel- noch Schulgeldfreiheit. Auch wenn die Leistungen, die die Erziehungsberechtigten aufzubringen hatten, nur ein Tropfen auf den sprichwörtlichen heißen Stein gewesen sein mögen, so waren die Schulträger offensichtlich doch darauf angewiesen. Im übrigen muß diese Regelung in ihren historischen Zusammenhängen begriffen werden. Höhere Bildung war ursprünglich ein Privileg der besseren Schichten und mußte auf eigene Rechnung erworben werden. Bei den kommunalen Lehranstalten, also auch in Lüben, richtete sich die Höhe des Schulgeldes nach den staatlichen Sätzen. Diese wurden in gewissen Abständen der allgemeinen Teuerung angepaßt. Im Schuljahr 1927/28 z. B. wurde von den Schülern ein Jahresbetrag von 200 RM erhoben. Für auswärtige Schüler kam ein Zuschlag von 25 % hinzu. Das Schulgeld einschließlich Zuschlag ermäßigte sich für die weiteren Kinder eines Erziehungsberechtigten. Ab dem 4. Kind bestand Schulgeldfreiheit. Mitschüler Fritz Arlt, Lüben (Eintritt 1935), erinnert sich an einen Jahresbetrag von 240 RM. Tüchtige Schüler konnten ganz oder teilweise von der Schulgeldzahlung befreit werden. Bedürftigkeit der Eltern für sich allein war aber kein Ermäßigungsgrund. Die Entscheidung oblag der Schule. Daneben bestanden an der Schule für hochbegabte Schüler armer Eltern drei Freistellen des Landkreises, zeitweilig auch der Stadt . Der Landkreis, mitunter auch der Staat, gewährten darüber hinaus in besonderen Fällen Beihilfen für Lernmittel oder/und Unterkunft im Alumnat. Ferner bestand an der Schule eine Unterstützungsbibliothek, die an begabte, bedürftige Schüler Lehrbücher auslieh.
Über die Abwicklung der unvermeidlichen Verwaltungsarbeiten waren Einzelheiten nicht mehr zu ermitteln. Sicher ist nur, daß Stadt und Schulleitung sich darein teilten. Beiden Seiten stand dafür, jedenfalls während der Zeit der Weimarer Demokratie, ein Schulausschuß zur Seite, dem außer dem Bürgermeister und dem jeweiligen Schulleiter Ratsherren, Stadtverordnete, Lehrkräfte und angesehene Bürger angehörten, ob das von Direktor Dr. Caspari in seiner Dankadresse angesprochene "Kuratorium" als Vorgängerin des Schulausschusses zu gelten hat oder ob ihm nur als einer Art Bauausschuß des Stadtparlaments die befristete Aufgabe oblag, alle im Zusammenhang mit der Errichtung des Schulgebäudes notwendigen Entscheidungen zu treffen, ließ sich nicht mehr feststellen.
Die gesamte Personal, Finanz- und Wirtschaftsverwaltung oblag wohl städtischen Stellen. Der Schulleiter wird vorwiegend für die im Lehr- und Erziehungsbereich anfallenden Verwaltungsarbeiten zuständig gewesen sein. Ab wann ihm für die Büroarbeiten eine Hilfskraft zur Verfügung stand, war nicht mehr zu ermitteln. Gesichert ist jedenfalls, daß von 1938 bis 1940 Frau Lydia Schultz und von 1940 bis 1945 Frau Gertrud Bialucha als Schulsekretärinnen arbeiteten. Zu den Aufgaben des Schulleiters gehörte auch die Herausgabe der Jahresberichte. Zwei solcher Berichte, die als Anlage abgedruckt sind, hat Mitschüler Rudolf Behnisch (Abitur 1931) zur Verfügung gestellt. Drei weitere, die mir in Abdruck vorliegen, konnten in der Bayer. Staatsbibliothek ausfindig gemacht werden. Leider wurde die Herausgabe von Jahresberichten etwa ab 1933 eingestellt. Die Hintergründe und Zusammenhänge sind unbekannt.
Während der Weimarer Republik bestand an der Schule auch ein Elternbeirat. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte dieses Gremium die Interessen der Schülereltern wahrnehmen und wohl auch beratend und bei Kontroversen ausgleichend tätig werden. In der Praxis war seine Existenz anscheinend aber zur inhaltslosen Formsache verkümmert. Jedenfalls lassen das die Ausführungen vermuten, die der Direktor in seinen Jahresberichten der Tätigkeit des Elternbeirats widmet. Vielleicht lag das an seiner Konstruktion. Da auch im Elternbeirat der Bürgermeister den Vorsitz hatte, blieb möglicherweise für Initiativen und Aktivitäten der Eltern nicht viel Raum.
Als Pedell mit selbstübertragener Allzuständigkeit (ich und der Herr Direktor haben beschlossen...) werkelte und wieselte in Haus und Hof der geschätzte und angemessen gefürchtete Erwin Siebenhaar, unterstützt von seiner tüchtigen Frau, neben deren kräftiger Statur er geradezu zierlich wirkte. Für uns war er nur der "Sibi" oder "Sevenhair". Die Anekdoten, die sich um seine Person ranken, übersteigen bei weitem die Wiedergabekapazität dieser Abhandlung. Er diente der Schule vom ersten bis zum letzten Tag, nur unterbrochen durch seinen Kriegsdienst im 1. Weltkrieg.
Der Schule angegliedert war das städtische Alumnat. Später setzte sich die Bezeichnung Schülerheim durch. Anfangs bestand es aus zwei Häusern, dem Haus "Jugendheim", Haynauer Straße 8 (in dem später die katholische Volksschule untergebracht war) und aus dem Haus "Frohsinn", Ecke Haynauer Straße/Hann von Weyhernstraße (das später die Landwirtschaftsschule beherbergte). Jedem Haus standen ein Alumnatsinspektor und eine Hausdame vor. Die Funktion des Hausinspektors hatte immer ein Angehöriger des Lehrerkollegiums inne. Die beiden Häuser wurden aufgegeben, als unmittelbar neben der Schule an der Faulhaberstraße ein neues Schülerheimgebäude errichtet und bezogen worden war.
Auswärtige Schüler, die nicht in eines der städtischen Alumnate aufgenommen werden konnten oder wollten, bedurften über viele Jahre zur Wahl einer Privatpension der Einwilligung des Direktors. Wie lange diese Regelung galt, ist unbekannt.
Die Fachaufsicht über die Schule führte das Provinzialschulkollegium (PSK) bei der Provinzialverwaltung in Breslau. Die für Lüben zuständigen Dezernenten hatten regelmäßig den Vorsitz in der Reifeprüfungskommission. Folgende Dezernenten sind noch überliefert:
1912 Kgl. Prov.-Schulrat Klau
1922 Oberschulrat Jantzen
1925 Oberschulrat Volkmer
1927 Oberschulrat Prof. Dr. Kothe
1932 Oberstudienrat Dr. Frede
Über den pädagogischen und fachlichen Ruf unseres Gymnasiums gab es schon damals unterschiedliche, ja widersprüchliche Äußerungen. Die einen glaubten, daß man an ihm leichter als anderswo über die Runden kommen könne, andere behaupteten das Gegenteil. Auch heute noch herrscht dieser Meinungsunterschied unter den ehemaligen Schülern, je nach den Erfahrungen, die der Einzelne etwa noch an anderen Schulen gemacht hat oder wie er den individuellen Lebensanforderungen mit der erworbenen Allgemeinbildung gerecht werden konnte. So schreibt unser Mitschüler Alfred Grosser (Abitur 1934): "Das dort erworbene Wissen sowie die vorgelebte moralische und ethische Haltung ermöglichten mir in Konkurrenz mit vielen anderen Abiturienten der verschiedensten Schularten einen reibungslosen Verlauf meines weiteren Lebens."
Tatsache ist jedenfalls, daß der Anteil an Schülern von außerhalb des Landkreises relativ hoch war. Am 1. Februar 1925 waren z. B. von den insgesamt 188 Schülern nur 82 aus Lüben, 106 aber von außerhalb, von denen wiederum kaum mehr als 20 aus dem Landkreis kamen. Von den 10 Abiturienten des Jahres 1925 waren nur 4 aus Lüben und 6 von außerhalb des Landkreises. Im Februar 1928 war das Verhältnis ähnlich. Von insgesamt 233 Schülern waren nur 111 aus dem Schulort, 122 aber von auswärts, davon wiederum rund 90 nicht aus dem Landkreis. Von den 25 Abiturienten des Jahres 1928 waren nur 7 aus Lüben und dem Landkreis. Nicht selten besuchten auch Ausländer, insbesondere Türken, die Schule. Das alles spricht doch eigentlich für ihren guten Ruf. Er wird auch von Schülern bestätigt, die ihre Ausbildung nach dem Krieg an anderen deutschen Schulen fortsetzen mußten und fanden, daß deren Niveau das unserer Schule nicht erreichte. Bei diesem Vergleich muß freilich berücksichtigt werden, daß unmittelbar nach dem Krieg alle Schulen große personelle Probleme hatten. Womöglich liegt wie so oft im Leben die Wahrheit in der Mitte. Für unser Andenken ist die Frage ohnehin ohne Belang.
Vor unserem Schülerheim steht eine Linde, unter ihr: Christa Noack, Inge Zischkale, Sigrid Kabitz