Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 1
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Erste Kapitel


Es muß aber eingangs gesagt sein: er hatte Glück gehabt, geradezu maßlos viel Glück, und das auch noch mehrere Male angesichts des maßlosen Unglücks, das in den Zeitläuften, in die er schuldlos hineingeboren ward, ihn und so unendlich viele andere jäh, wenn auch dennoch nicht ganz ohne ahnende Furcht überkommen hatte. Glück und Unglück - solche Worte stellen sich ein wie von selbst, unterschwellig und irgendwie harmlos, als ob sie über die Zeitläufte gekommen wären von ganz allein und ohne Zutun von allen; niemand also könne etwas dafür, und niemand könne darum haftbar gemacht werden.

Wir wollen das jetzt aber auf sich beruhen lassen und die Geschichte berichten, um die es hier geht.

Er selber also hatte, wie schon betont, Glück gehabt, geradezu maßlos viel Glück, was aber zu dem ebenfalls bereits betonten maßlosen Unglück nicht recht zu passen scheint. Es soll ja auch eigentlich nur ganz einfach heißen, dass er davongekommen ist mit seinem Leben und sonst nichts weiter. Das ist schon viel, eigentlich alles, für damalige Umstände und Läufte, wie man sie sich heute nicht mehr vorstellen mag. Man könnte auch sagen, er habe gerade überlebt wie auch seine Familie, von der er freilich getrennt wurde in den letzten höllischen Tagen und Wochen, in denen der ungeheuerliche Krieg, angezettelt böswillig und ohne jede Not, sich seinem katastrophalen Ende zuneigte - getrennt nämlich als ein im Kindesalter Rekrutierter noch und darum geradezu Symbol des verzweifelten letzten Aufbäumens eines Staates in dem Inferno seines Untergangs.

Dies geschah in Schlesien, im Osten. Freilich erwartete man dort nicht eine Befreiung durch die sich herankämpfenden feindlichen Truppen, wie das vielleicht im Westen hätte sein können - es war eher das todesängstliche Zittern vor der Rache wilder Sieger ob der grauenvollen Verbrechen jenes Mannes und seiner allzu vielen Helfer, angerichtet in verblendeter Siegeszuversicht und Bedenkenlosigkeit, solange die Dinge an den Fronten günstig sich gestalteten. Natürlich, und das muß durchaus festgehalten werden, gab es da den Jubel der allermeisten und allzu vielen, solange es eben gutging, die Stunde günstig und erfolgreich schien. Im übrigen aber - auch das sei eingeräumt - blieb das Ausmaß der Bedenkenlosigkeit, des politisch und militärisch Abenteuerlichen den meisten verborgen, war hinter einer schlau und intelligent inszenierten Propaganda nicht wirklich zu durchschauen; Strafe des Todes drohte jenen, die wagten, sich andernorts Kenntnisse zu beschaffen, bei fremden Sendern etwa, um ein weniger verzerrtes Bild zu gewinnen über das, was geschah in der wirklichen Welt. An Zeitungen der anderen war ohnehin nicht zu gelangen. Es blieb die tödliche Drohung, real und durchaus vollzogen. Dennoch - es entschuldigt nicht ein Versagen von historischer Dimension.

Jener Mann also, rechts gescheitelte Frisur, glatte Strähne links über die Stirn, bedeutungsvoll spießiges Bärtchen über der oberen Lippe: der nämlich meinte, die Welt erobern zu müssen, und andere, die dieser Meinung nicht beitraten, mit Krieg überziehen zu dürfen. Freilich, er fand kein Ende mehr daraus, und so setzte die Welt ihm ihrerseits dann ein Ende, langatmig, aber schließlich mit Entschlossenheit, wendete die Gewalt endlich gegen ihn, die einst er anderen zugedacht hatte. Sicher, auch früher schon wurden Kriege veranstaltet, inszeniert, mit oder ohne Not - natürlich war das stets der Brauch; Humanität, Zivilisiertheit, Anstand blieben immer auf der Strecke und ohne Gültigkeit, zu allen Zeiten und allem Firnis von Kultur zum Trotz. Die Maßlosigkeit nun jedoch, die durchgeplante technische Effizienz, die ganze moderne Kriegsmaschinerie in Verbindung mit radikaler Bedenkenlosigkeit unter Verlust jeder moralischen Bindung im Dienste einer verblendeten Ideologie wurde die neue und unerhörte Dimension des Schreckens. Dies nämlich war das Neue, das eigentliche maßlose Unglück, das über die Welt kam und alles in einen Abgrund stürzte.

Das zog nun herauf, als er beschloß, in diese Welt einzutreten - eigentlich: als beschlossen wurde, ihn da eintreten zu lassen. Ihre, der Welt nämlich, labile Beschaffenheit mochte merklich kaum sein zunächst für die meisten und spürbar sicher nur dem Empfindlichen. Vermeidbar vielleicht und zu korrigieren aber wäre das Unheil wohl noch gewesen. Ihm aber geschah es, schuldlos hineingeboren zu werden in solch mühselige Umstände, sich in ihnen, später freilich erst, zu bewahren und zu bewähren inmitten ihrer Widrigkeiten. Dies ereignete sich im Dezember des Jahres des Herrn eintausendneunhundertachtundzwanzig, exakt zwei Tage vor dessen Hochfest an Weihnachten. Füglich durfte man es noch immer als ein Jahr des Herrn betrachten - ohngeachtet oben schon angedeuteter Merkwürdigkeiten. Seine Geburt also, wie bereits gesagt, ereignete sich in einer kleinen Stadt, zu Lüben in Schlesien nämlich, und zwar in einer Einrichtung genannt Augustaheim und gelegen in der Bismarckstraße, welche führte zu der weitläufigen Kaserne der Bredow Dragoner und parallel angelegt war zu der Straße seiner künftigen Behausung, die benannt war nach eben jenen Dragonern. Diese Behausung trug die Nummer sieben und befand sich im Besitz des ehrsamen Bäckermeisters Else. Von all dem und anderen Komplikationen jedoch später mehr.

Wie schon gesagt, man konnte das Jahr eintausendneunhundertachtundzwanzig noch einigermaßen und füglich als eines des Herrn betrachten, war doch noch nichts endgültig ausgemacht von all dem kommenden Unglück, der Weg dahin noch nicht eindeutig vorgezeichnet; er hätte nicht notwendig beschritten werden müssen. Aber eben, alles schon zog herauf, fühlbar vielleicht im Untergrund von jenen, die Gespür besaßen für das, was sich da zusammenbraute. Dessen Ausmaß freilich war nicht zu ermessen, von niemandem, und sei er noch so empfindlich für seismische Erschütterungen des Gewohnten und Vertrauten. Die Erwachsenen vielleicht noch am ehesten - er selber freilich in seinem Augustaheim sowieso nicht, für längere Zeit noch nicht, und Jahre später nur unvollkommen, in Ansätzen nur und ohne ein volles Bild zu gewinnen. Denn erwachsen wurde er ja erst nach jener Zeit des großen Unglücks. Und hierin eben liegt sein Problem: das seiner Erinnerungen, ihrer Flüchtigkeit, ja ihrer eigentlichen Unmöglichkeit. Das geht nur in der Distanz - der Distanz zu seinem eigenen Ich, in erinnernder Reflexion, von außen gewissermaßen und in der Betrachtung seiner selbst als ein objektiviert Anderer, als ein "ER" und sozusagen fremde Person. Nur so wird ursprünglich Unbewußtes, instinktiv Ahnendes und endlich schlimme Wirklichkeit Werdendes durch Reflexion zu Erkenntnis.

Genug davon.

Daß er dann trotz allem Glück hatte, maßlos viel Glück für jene Zeit des Unglücks, ist sein Verdienst natürlich nicht. Auch keines einer Lebensplanung, weder seiner eigenen noch der einer irgendwie gearteten höheren Instanz. Was ihm geschah, das kann wohl nur als ein Produkt der Wirrnisse, des Chaos, in dem schließlich alles versank, bezeichnet werden. Vom Ende her, von heute aus besehen, sagt sich solches freilich leicht - damals aber war es wahrhaft unsäglich, unbeschreibbar, unbeherrschbar und überhaupt eigentlich unmöglich. Aber es ereignete sich in der furchtbarsten Weise.

Lüben also, jene kleine Stadt in der preußischen Provinz Schlesien - an sie muß erinnert werden, weil ja niemand mehr etwas weiß von ihr und von Schlesien überhaupt. Weil niemand mehr weiß von ihrer Heimatlichkeit damals, von den Bräuchen und dem behäbigen Dialekt. Der freilich war nicht immer syntaktisch ganz logisch, liebte doppelte Verneinungen und neigte zu Verschleifungen farbiger Vokale zu blassen E´s. Und er schuf Vertrautheit und Heimat. Diese kleine Stadt also, Lüben in Schlesien - er muß nun zitieren - liegt am Ostrand der Niederschlesischen Heide gegen Steinau an der Oder hin an dem Kalten Bach, welcher freilich wegen der grammatikalisch-syntaktischen Inkorrektheit des heimatlichen Dialektes feminin stets als d i e Kalte Baache, mit einem überlang gezogenen "A" in dem Substantiv, benannt wurde. Die Gegend war seit der Bronzezeit, also seit beinahe vier Jahrtausenden, besiedelt. Das dann namengebende Dorf im Mittelalter zahlte den Zehnten an das Kloster Trebnitz und gehörte dem Herzogtum Schlesien an, erlebte und erlitt dessen Teilungen und Unterteilungen, bis es schließlich 1339 an Liegnitz verkauft wurde. Seit dem Jahre 1295 bestand die Stadt nach deutschem Recht.

Weiteres sei hier übergangen: die Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg, die langsame Erholung danach, der Heimfall des Lehens an den habsburgischen und katholischen Kaiser nach dem Erlöschen der Piasten 1675, sowie der das Stadtbild verändernde große Brand von 1757, angeblich angestiftet von dem Mohren eines fremden Generals.

Man erholte sich langsam, auch unter preußischer Ägide. 1939 besaß die Stadt 10809 Einwohner, lebte von Landwirtschaft und einiger Industrie. Durchaus war sie provinziell und heimelig, unbedeutend und vertraut ihren Menschen.

Dies möge erinnert sein als der Hintergrund seines jungen Lebens, beginnend also in dem Augustaheim in der Bismarckstraße und hinführend zu der Kaserne der Bredow Dragoner. Schließlich muß alles erinnert werden, weil das alles ja nicht mehr da ist, untergegangen und darum eben vergangen. Er selber weiß ja auch nicht mehr so fürchterlich viel von damals - vielleicht wegen der Gnade oder auch wegen des Fluchs einer unzeitigen Geburt in einem Jahr, von dem man im nachhinein nicht weiß, ob es noch eines des Herrn oder vielmehr der schon heraufziehenden Apokalypse gewesen ist. Das aber war, damals jedenfalls, noch nicht entschieden. Und weil er also jung war, kann er auch nur einiges erinnern - Eindrücke gewissermaßen also von außen, Zufälligkeiten ephemer-optischer Eindringlichkeit, Sinnfälligkeiten ohne Erkenntnis von deren Sinn: das Erinnern und die Reflexion des Flüchtigen demzufolge im Verrinnen der gnadenlosen Zeit.

Daß er dereinst selber ein Flüchtiger sein werde aus dem Vertrauten und Heimeligen der durchaus provinziellen kleinen Stadt Lüben in Schlesien - daran freilich war wegen gedanklicher Unmöglichkeit überhaupt nicht zu denken in jenem Jahr seiner Geburt Anno Domini MCMXXVIII. Weil es aber dennoch sich so verhält, daß er ein Flüchtiger dereinst sein werde, mitten in der Ungeheuerlichkeit einer Apokalypse, angerichtet durch Vermessenheit und Bedenkenlosigkeit, zwingt naive Erinnerung ihn zu später Reflexion jener frühen Eindrücke und damit zu jener Klarheit, die er früher nicht hatte haben können. Und dennoch - es erstaunt ihn, wie früh Unbewußtes im Späteren als instinktiv Ahnendes, als schlimm Richtiges sich erweisen sollte. Es soll nicht die Rede sein von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wenn es auch anmaßend klingt und lächerlich, arrogant und wenig glaubhaft, daß manches von ihm in seinen frühen Jahren Gedachtes, Erahntes dereinst schreckliche Wirklichkeit werden sollte. So das Gefühl, das ihn befiel, als er sehen mußte, wie im Jahr 1938 - nunmehr wirklich eines nicht mehr des Herrn, sondern des Unheils - mit den Mitbürgern israelitischen Bekenntnisses in der durchaus provinziellen kleinen Stadt Lüben verfahren wurde. Oder auch, wie nur ein Jahr später laufend Erklärungen zum Kriege aus aller Welt eintrafen und wie er darum besorgt seine Mutter um Rat befragte, ob man denn nun den Krieg nicht verlieren müsse gegen eine solche Welt von Feinden. Natürlich, das war kindlich, bar jeder Kenntnis des wirklichen Geschehens - aber auch bange Ahnung und furchtsame Vorwegnahme künftigen Ereignisses. Naiv also - und so voller Ahnung.

Dies also vorweg und von all dem jedoch später einiges mehr.

Alsbald nach seiner Geburt zog er, wie bürgerlich es sich gebührt, um in die Dragonerstraße, gelegen parallel und zwischen besagter Bismarckstraße samt dem Augustaheim und der Kasernenstraße, welche allerdings einst wegen der Augustiner Chorherren den Namen Kreuzstraße getragen hatte, dann aber entsprechend den Erfordernissen einer neuen Zeit mit ihren eher militärischen Notwendigkeiten Tribut zu zollen hatte und so den Weg wies zu den Bredow Dragonern und deren weitläufig eingerichteter imposanter Behausung. Er selber also unterhalb in der parallelen Dragonerstraße Nummer 7, gehörig dem Bäckermeister Oskar Else. Der war ein ordentlicher Mann, ernährte sich und seine Kundschaft von und mit den Produkten seines Handwerks und war überhaupt zu leiden. Freilich trug auch er alsbald eine braune Uniform mit einer steifen Mütze und einer blutroten Armbinde am Arm, welche ein weißer Kreis mit einem Kreuz aus vier schwarzen Balken zierte - letztere mit Haken an allen vier Enden. Man dachte sich aber nichts dabei. Außerdem sei angemerkt, daß in dem ansehnlichen Mietshause Nummer 6 schräg gegenüber der Studienrat Fiedler, Paul Fiedler, um genau zu sein, lebte. Er vertrat das Lateinische am städtischen Gymnasium und gab auch Musik, wenn Not in der Pädagogik herrschte. Aber spätestens dann, im Kriege, herrschte die Not in der Pädagogik ja aus Prinzip. Es wird zu gegebener Zeit darauf und auf den Studienrat Paul Fiedler als einen bemerkenswerten Mann zurückzukommen sein.

Alles aber ist letztlich zeitbedingt, vor allem auch die Erinnerung. Er weiß noch um die Frau Lorkowski, hochblond, gepflegt im Sinn der Zeit und darum auffallend. Ansonsten aber für ihn, gewissermaßen alterbedingt, noch kein weibliches Problem. Oder dann die füllige Oberlehrersgattin, später Hauptlehrerswitwe Zerna in der zweiten Etage der Nummer 7 links. Sie verströmte, sozusagen hauptlehrerswitwengemäß, Mütterlichkeit, besaß einen mächtigen Busen, war sympathisch und hilfreich. Ansonsten bleiben Personen wie Zeit in Vergangenheit und Gedächtnis versunken und entschwunden. Der frühen Erinnerungen also sind nicht viele. Hier verbrachte er seine frühen Jahre.

Der ersten Erinnerungen demnach sind also nicht viele. Bewußtwerden geschieht mählich, aber frühe Eindrücke haften sonders merklich. Und so der erste, welcher haften blieb in seinem Gedächtnis eben als einer der frühesten. Und dieser wies hinaus über den Balkon der Dragonerstraße in die weitere Welt des noch Unbekannten. Diese Welt war farbig und voll des Regens. Viel später erklärte man ihm, daß es sich um den zweiten August des Jahres 1934 gehandelt habe mit all den Folgen, die man Jahre danach zu ertragen haben würde. Letztere Erkenntnis jedoch ist im nachhinein auch als eine zu spät anzusehende zu werten. Jedenfalls - und so ist seine eigene Erinnerung zu jenem Datum - regnete es an bedeutetem Tag in Schnüren, wie man so sagt, so daß die schwarz-weiß-roten Fahnen der vergehenden Republik und auch die neuen roten mit dem weißen Kreis in der Mitte und dem schwarzen Kreuz mit den merkwürdigen Haken an allen vier Balken als Verheißung einer Neuen Zeit schlapp und matt wie von Trauer an die Fassaden der Häuser klatschten. Allenthalben waren sie angebracht gewissermaßen als Merkzeichen - die einen eben als die des langsam Vergehenden, die anderen als eines noch undeutlich künftig Werdenden. Wie gesagt, er erfuhr erst später auf Befragen und aus eigener Kuriosität von der Bedeutung der vergehenden Republik und der Verheißung der Neuen Zeit. Nur die schlappen und matten Trauerfahnen blieben eigener Eindruck. Nur darum fragte er dann. Es handelte sich aber um den Sterbetag des Herrn Reichspräsidenten Paul von Beneckendorf und Hindenburg, wie man ihm erklärte.

Hiezu freilich muß nun noch einiges angemerkt werden als noch viel spätere Erkenntnis und noch viel späteres Begreifen, insofern nämlich, wie sich alsbald herausstellte, daß der greise Tod des Reichspräsidenten durchaus mit dem folgenden ungeheuren Unglück, hereinbrechend über Schuldige und Schuldlose, ursächlich zu tun hatte. Er hatte nämlich kurz vor seinem Ableben jenen, Scheitel rechts und Strähne links, zum Kanzler des Reiches erhoben und damit, wissend oder nicht, ein entscheidendes Zeichen gesetzt für den Weg in den Abgrund - wenige freilich ahnten das, viele jubelten lauthals und heftig wegen erhoffter Erlösung aus misslicher Lage. Letztere allerdings dachten nicht, daß diese missliche Lage nicht zu vergleichen sein werde mit der künftigen, zu welcher sie Scheitel und Strähne bringen werde nach nur zwölf rauschhaften Jahren. Damals aber, an jenem tiefdruckbestimmten Augustanfang, regnete es in Schnüren, und die Fahnen klatschten schlapp und matt von Trauer.

Er selber aber, bis heute und bedauerlicherweise mit einigem historischen Wissen belastet und eben deshalb immer weniger begreifend von dem, was da auf den Weg zu apokalyptischer Katastrophe gebracht ward, vermag nur, in hilfloser Ohnmacht zu dem oben Vermeldeten noch eine andere Mitteilung zu machen, welche bei längerem Nachdenken stets aufs neue empört und die in ihrer intellektuellen Monstrosität ihresgleichen sucht. Auch sie, natürlich, ist spätere Erkenntnis und Einsicht.

Es gab da nämlich einen, der - tief denkend und das Staatswesen theoretisch, juristisch und philosophisch allseits betrachtend und durchdringend - das Neue flink mit unerhörten Ideen gründlich untermauerte, auf daß alle Veränderungen im Staate durch Scheitel und Strähne sogleich und fortan ihre Ordnung und ihr Recht hätten und somit unangreifbar wären. Dieser flinke Staatsdenker und große Rechtsgelehrte war Carl Schmitt geheißen und erfreute sich damals wie selbst heute und nach dem von ihm theoretisch mit herbeigerufenen ungeheuren Unglück beträchtlichen Ruhmes in seinen Fachkreisen. Dieser also gab, nach gründlichem Nachdenken, umgehend bekannt, daß - so schrieb er wörtlich - "der Wille des Führers Recht setzende Kraft besitze" und somit "den reinsten Willen des Volkes verkörpere". Und hierin, ernsthaft betrachtet, liegt eine ungeheuerliche Monstrosität: daß er nämlich genau damit einem rein voluntaristischen, von jeder Moral losgelösten, damit völlig bedenkenlosen staatlichen Handeln den Weg freimachte: ein Freibrief für alles und jedes, alles wird nun möglich, jede Kontrolle staatlichen Handelns unmöglich. Unter der Maske staatsrechtlichen Denkens verbergen sich verantwortungslose juristische Imprudenz ohne jede ethische Bindung, rechtlich verbrämtes Unrecht, um es einmal milde auszudrücken. Es ist dies die intellektuelle Hurerei eines akademischen Lehrers - nichts weiter.

Aber genug davon; immer noch klatschten die Fahnen an die Häuser, schlapp von Trauer und Tristesse, und es regnete unendlich.

Es gibt nicht mehr allzuviel zu vermelden von der Dragonerstraße, gelegen zwischen Bismarck und Kaserne. Zu lang ist es inzwischen her, räumlich wie zeitlich, und die Dinge entfernen sich. Kleinigkeiten, unbedeutend an sich und belanglos, jedoch setzen sich fest im Gedächtnis und vermitteln lokales Kolorit und Heimat. So die sonntags des öfteren stattfindenden Spazierwege zu Mittmann in Mallmitz entlang der sich hinstreckenden neuen Kaserne, von der noch Erwähnung zu tun sein wird. Die Eltern tranken Kaffee, er und sein Bruder bekamen Himbeerlimonade für fünf oder auch zehn Reichspfennig, und als Lohn für kindliche Sonntagsgeduld erwies sich stets die mächtige Kinderschaukel. Der Sonntag war gerettet in seiner Kleinbürgerlichkeit und provinziellen Friedfertigkeit.

Andere Erinnerungen jedoch deuteten auf anderes, weniger Friedfertiges und gewissermaßen schon beinahe Weltbedeutendes. Durch besagte Dragonerstraße nämlich ritten zuweilen in großer Kolonne eben diese Reiter der Eskadron Nr. vier, einst genannt von Bredow. Es waren ihrer viele, sie saßen auf ihren Pferden, etwas steif und unnatürlich, beinahe wie Puppen. An der Spitze eine Militärkapelle mit ausladenden Pauken und viel schmetterndem Blech, davor der Tambour. Die Pauken schlugen den Takt, scharf und beinahe schmerzend. Die Pferde, wohl gezogen und militärisch gedrillt, ertrugen es in vaterländischer Pflicht. Ihm selber, als dem Schauenden von dem Balkon der Dragonerstraße und nicht Begreifenden, war alles eindrucksvoll: die lange Kolonne der Reiter, der von den Hufen aufgewirbelte Staub und überhaupt die ganze bedeutende Veranstaltung. Beruhigenden Schutz versprach sie vor allen möglichen Feinden, verhieß Sicherheit und gewohntes Leben - so wurde es wohl empfunden von den behaglich Zuschauenden. Denn letztlich und merkwürdigerweise blieb es ein friedliches Bild trotz allen militärischen Pomps und martialischen Getues und Gehabes. Es schien beinahe romantisch rückwärts gewandt, irgendwie vergangene Ritterlichkeit zurückholend, nichts Bedrohliches also. So jedenfalls wirkt es in der Erinnerung auf ihn, den damals kleinen und staunenden Bewohner der Dragonerstraße.

Aber es sollte sich ändern. Eines Tages nämlich blieben die Reiter verschwunden, die alte, noch aus des Kaisers Zeiten stammende Kaserne mit ihren etwas albernen Zinnen und Türmchen, mit den merkwürdigen Gesimsen unter der Dachtraufe und angedeuteten Blendarkaden versank in Baulärm und Staub. Sie wucherte hinaus in Richtung Mallmitz, gerade noch haltmachend vor Kinderschaukel und Himbeerlimonade, mißachtend Bismarckstraße und Augustaheim seiner frühesten Tage. Zweckmäßig nüchterne Neubauten erhoben sich. Die Pferde waren fort, und zeitgemäßes Kriegsgerät, technisch faszinierend und metallen kalt, kündete von der neuen Zeit. Man durfte es gelegentlich besichtigen und in Augenschein nehmen, sozusagen um Vertrauen zu schöpfen. Es blieb aber kalt, und es war zu danken jenem Mann mit rechtem Scheitel und linker Strähne, welcher neben den vielen anderen Änderungen im Staatswesen nun auch Reiter und Ritterlichkeit abgeschafft hatte zugunsten von kalt metallenem Kriegsgerät. Schließlich hatte er auch den Flugplatz an der Reichsstraße nach Polkwitz, nunmehr Heerwegen, der neuen Zeit angepasst. Bomber waren da plötzlich stationiert und andere Flieger, welche aber nicht sportlicher oder einer anderen amüsierlichen Tätigkeit zu dienen hatten.

Die Zeiten also hatten sich geändert, und niemand wollte es wahrhaben. Alles schien friedlich, behaglich und sicher. Er erinnert sich, dass er und sein Bruder in jenen Tagen als gewissermaßen sonntägliche Gewänder Kleidungsstücke bekamen, welche unter dem etwas befremdlichen Namen "Russenkittel" firmierten. Es wäre anzumerken, dass diese für Kinder einerseits durchaus kleidsam und putzig schienen: kurze, bis zu den Knien reichende Hose, ein Jäckchen oder Kittel mit einer bestickten Borte um den weißen Halskragen und einer ebenfalls bestickten Knopfleiste etwa seitwärts - durchaus possierlich also. Andererseits aber die Benennung "Russenkittel": denn da herrschte ja durchaus bitterliche Feindschaft zwischen Scheitel links und Strähne rechts samt dem neuen Staatswesen und dessen Bruder in Feindschaft, grimmiger Schnauzbart und Revolutionsattitüde, welcher dem unendlichen Riesengebilde weiter im Osten mit Härte und Gewalt vorstand. Noch aber hielten sie Ruhe, und bei den Russenkitteln dachte sich noch keiner etwas, hübsch und possierlich blieben sie, bis er und sein Bruder aus ihnen schließlich herauswuchsen. Allzu lange jedoch sollte es nicht mehr dauern.