|
Hans Dieter Lotz
DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN
Das Sechste Kapitel
Der Umwege, Abschweifungen und Umständlichkeiten sind zu viele - er weiß es und sucht nach Entschuldigung. Die aber ist nicht möglich, der Umständlichkeit der Zeit wegen und ihrer Irrwege; für beides aber kann er schließlich nicht verantwortlich gemacht werden. Er hätte es gerne anders, auch um den Fortgang seiner Geschichte zügig zu befördern. Der Zeitumstände wegen scheint dies jedoch nicht möglich.
Immerhin also, so hatte er eingangs zu dem vorgehenden Kapitel betont, änderte sich unversehens alles in jenen Sommerferien des Unheiljahres 1944. Er verbrachte, wie so oft, diese Ferien in der Grafschaft Glatz bei den Großeltern. Der Anführer alles Geschehens jedoch hatte entschieden, wie bereits berichtet, ihn augenblicklich zu Erringung des endlichen Sieges und damit dringlich zu Dienst an kalt-metallenem Kriegsgerät seiner Luftwaffe aufzurufen. Er habe sich sogleich dahin zu verfügen.
Und also verfügte er sich sogleich.
Es war der 15. Juli des Jahres 1944.
Verabschiedung aus der Schule statt erhofft-befürchteter Untersekunda, Verpflichtung zu militärisch harrendem Kriegsgerät - das begab sich in dem Amtszimmer des Oberstudiendirektors an besagtem Tage. Erschienen war die Hälfte der ex-Obertertia, welche geboren ward noch in dem Jahr des Herrn 1928 - dieses anscheinend noch ein solches, wirklich aber bereits verheißend die heraufziehenden Jahre des Anführers, Scheitel rechts, Strähne links. Er selber gehörte zu den Gerufenen, geschuldet seiner neun Tage zu frühen unzeitigen Geburt im Dezember jenes Jahres.
Erschienen ebenfalls war der Wachtmeister Scheiter, gebürtig aus Dresden in Sachsen und ziemlich behäbig, ohne kriegerische Allüre und somit gut zu leiden, wie sich noch herausstellen sollte. Er war abgesandt als Bote der Schweren Heimatflakbatterie 275/VIII in Jeltsch bei Breslau, sie zu holen in diese Batterie, welche ihm und den dreizehn anderen zugedacht war als Instrument zum Herunterschießen arrogant hochfliegender feindlicher Bomberpulks zwecks Erringung des Endsieges. Der Oberstudiendirektor aber war ernst, tief besorgt um die, die nun seine Schüler nicht länger sein würden. Nur ihm und dem Wachtmeister war wohl bewusst, um welche Art von Abschied es da ging - jedem von ihnen gab er die Hand, wie beinahe von gleich zu gleich, wissend um die Endgültigkeit dieses Abschieds. Sie selber, die Betroffenen, wussten es nicht, nahmen es nicht ernst, hielten es für ein spannendes Spiel mit metallen technischem Gerät, als solches heftig interessant.
Ohne Fahrkarte, aber mit Militärfahrschein unter Kommando des Wachtmeisters reisten sie mit der Reichsbahn nach Breslau - voll von Stolz und geschwellter Brust, gleichsam vorwegnehmend künftiges Heldentum und wissend um künftige Wichtigkeit in dem großen Unternehmen des Anführers. Unterwegs warfen sie, euphorisch, Pfennigmünzen aus dem fahrenden Zug, ihr eigenes Glück, eine strahlende Zukunft und die fröhliche Wiederkehr beschwörend.
Sie wußten es nicht besser, waren demzufolge noch dumm, wie ja auch zu erwarten in ihrem Alter.
Was denn konnte ihnen passieren? So dachten sie. Ein befreiendes Abenteuer vielleicht, ein neues Spiel, das würde es sein, nichts weiter sei das Ganze. Entronnen der Aufsicht des Elternhauses, entronnen desgleichen dem läppischen "Dienst" in der Jugend des Anführers und dessen Ödnis und Stumpfsinn - stattdessen wäre zu beweisen neue Mannhaftigkeit, frisches Heldentum an faszinierend metallenem Gerät, das sei doch etwas!
So fuhren sie dahin in ihren fröhlichen Krieg.
Sie waren schließlich so dumm, wie ja auch zu erwarten..
Erste Enttäuschung lauerte schon.
Breslau-Lissa, Luftwaffenkaserne: eingekleidet in neue Uniform, fand er sich eigentlich recht hübsch, wie damals in dem Russenkittel, doch auch wieder ziemlich anders: eine grau-blaue Überfallhose, ebensolche Bluse, über den Kopf zu ziehen, ein hellblaues Hemd mit schwarzem Schlips; obendrauf eine Schirmmütze. Recht kleidsam also diese Uniform; leicht irritierend nur und rätselhaft der dazu überreichte Stahlhelm und die Gasmaske - offenbar, so vermuteten alle sogleich, gedacht für ernstere Angelegenheiten. Trotzdem: attraktiv fanden sie ihre Uniform, hatten eitles Wohlgefallen daran und fühlten erwachsende Männlichkeit in ihr.
Ein erster Eindruck also, aber - so die allgemeine Lebenserfahrung und weise Erkenntnis - dieser täuscht stets und in den meisten Fällen. So auch hier.
Zwar prangte kühn und siegesgewiß auf der rechten Brustseite der Bluse der Adler der Luftwaffe in hellerem Blau, ein Zeichen gewissermaßen also militärischen Erwachsenwerdens; an dem linken Ärmel der Bluse jedoch leuchtete die rot-weiß-rote Binde der Staatsjugend samt Kreuz mit den Haken an allen vier Balken. Dessen hätten sie sich nun wirklich nicht versehen! Und noch dazu an der Mütze eine Raute mit eben demselben Emblem! Es kränkte und beleidigte, war unter der Würde ihres frisch gewonnenen Selbstgefühls, nun endlich erwachsen zu sein. Gerade aller Enge entkommen, obstinat die Tertia überstanden und seltsam zurückgrüßenden Studienräten begegnend, sich also emanzipiert zu haben auch von den Zwängen der Staatsjugend des Anführers - und nun das und schon wieder! Unerträglich, sagten sie. Heldentum sei gefragt und Mannhaftigkeit, aber nicht lächerliches Emblem.
Was tun?
Eine Absprache war da nicht, kein Plan, es passierte einfach, stilles Einverständnis aller, kein Überlegen. Sie streiften sie Binde ab, steckten sie in linke Brusttasche ihrer Bluse und fühlten sich gut. Die Raute an der Mütze, fest angenäht, verbargen sie wenig später erfindungsreich unter dem Adler der Luftwaffe. Der, baldigst käuflich erworben, siegte, fortan blechern schwebend an ihrer Mütze, über alle möglichen Feinde ringsumher. So dachten sie.
Ihr Selbstbewusstsein war also gewachsen durch wiederum infantilen Protest gegen rot-weiß-rote Binde mit Kreuz samt Haken an allen vier Enden. Das aber sollte später sich segensreich, gar rettend auswirken, ganz am Ende nämlich, wo sonst zu retten nichts mehr war. Das jedoch konnten sie damals nicht wissen, noch nicht.
Seltsam nur und von heute betrachtet: niemand wehrte ihnen bei solchem Tun, niemand schritt ein und niemand verbot es ihnen. Allen schien alles gleichgültig geworden zu sein.
Vom Hauptbahnhof in Breslau fuhren sie, uniformiert und in ihrem Bewusstsein bereits heldenmäßig, südöstlich nach Markstädt; von da der Marsch nach Jeltsch zu der Batterie 275/VIII, schwer und heimatverteidigend, gleich am Eingang des Dorfes. Und sie verspürten das Militärische in ihrem Leben: sie marschierten wirklich, zu dritt nebeneinander und im Gleichschritt, der Wachtmeister vorndran neben der ersten Reihe. Zugegeben, ein sonderlich beeindruckendes militärisches Spektakel stellte es nicht dar, das diese vierzehn Fünfzehnjährigen da boten, und plötzlich fanden sie auch keinen so rechten Gefallen mehr daran. Irgendwie schien alles anders, als gedacht.
Endlich, nach zwei Kilometern, die Batterie.
Nun muß mit Bestimmtheit der Leser davor bewahrt werden, längst verlorene Schlachten nochmals zu schlagen, sie gar umzumünzen in strahlende Siege. Das sei ferne von dieser Geschichte, zumal sich Heldisches und Siegendes trotz des Adlers an der Mütze in der Schweren Heimatflakbatterie 275/VIII auch nicht besonders vermelden ließe. Darum nur, des Verständnisses wegen, die allernötigsten kriegstechnischen Informationen dazu und besonders wieder für die mit der Gnade ihrer späten Geburt, welche also nicht Glück haben durften, mit den schweren Kanonen des Kalibers 8.8 cm zu hantieren. Deren gab es sechs in dieser Flakbatterie, und ihre Rohre ragten drohend über zwei Meter hohe Erdwälle, gedacht zu Schutz vor den plutokratischen Fliegern der widernatürlich mit den jüdischen Bolschewisten verbundenen Feinde des Anführers. In den Wällen lagen gestapelt die Granaten zum Herunterschießen solch angreifender Maschinen, was den gedachten Schutz aber wiederum erheblich relativierte. Dies abschätzend, meinten sie, dass hierin ein sozusagen pyrotechnisches Problem liege. Sie konnten es aber nicht ändern.
Gedacht war, mit diesen Granaten des Kalibers 8.8 cm auf arrogant dahinfliegende Maschinen angelsächsischer Machart und Konstruktion zu schießen, welche in eigentlich unerreichbarer Höhe in großen Pulks vor ihren schneeweißen Kondensstreifen majestätisch über den Himmel zogen. Sie hießen Flying Fortresses, und es galt, sie womöglich allesamt herunterzuschießen. Es funktionierte aber meistens nicht wegen ihrer unerreichbaren Höhe, und nur die zackigen glühendheißen Splitter der in niedlichen Wölkchen oben geplatzten eigenen Granaten zischten in den Boden ringsumher. Als Souvenirs blieben sie demzufolge wegen des Glühens ungeeignet.
Diese kriegstechnisch notwendigen Erläuterungen seien nur dazu gedacht, denen von der späten Geburt Mitteilung zu machen, welche, vom gymnasialen Standpunkt aus betrachtet, absonderlichen Tätigkeiten seinerzeit Fünfzehnjährige auszuüben hatten. Aber es geschah im Dienste einer großen Idee, und diese hatte Vorrang vor jedweder gymnasialen Pflicht und Tätigkeit. Letztere allerdings gab es immerhin noch, und dazu wiederum umgehend später einiges. Zunächst aber zu Dienst an Kanone und Idee.
Es ging ja so einigermaßen. Gymnasial humanistische Vorbildung, gepaart mit normaler Intelligenz, bot zureichende Gewähr, auch eine Kanone des Kalibers 8.8 cm zweckmäßig zum gedachten Einsatz zu bringen, also damit hoch in die Luft zu schießen. Eines jedoch, peinlicherweise, funktionierte nicht: Kanonenrohre, steil aufgerichtet in dem maximalen Winkel von 89 Grad, geeignet zu geplantem Herunterschießen majestätischer Pulks vor schneeweißen Kondensstreifen in arroganter Höhe, mussten geladen werden mit gewichtigen Granaten. Die sonstige Einrichtung der Kanone war durchaus zu bewältigen mit besagter gymnasialer Vorbildung und zureichender intellektueller Ausstattung. Aber das Laden ging nicht; trotz verdienstvoller körperlicher Ertüchtigung durch das Boxen bei Studienrat Kozmiensky und den Sport allgemein durch den Oberlehrer Gustav Zingel erwies es sich, dass sie hier überfordert, ungenügend auf Granaten vorbereitet und schlicht nicht kraftvoll genug waren. Waren sie also Versager oder wäre es vermessen, angesichts solcher Peinlichkeit und möglicher Gefährdung des erwarteten endlichen Sieges von einem gewissen Mangel an Planung und Voraussicht von Seiten des Anführers und seiner Alleinpartei zu sprechen - sofern dergleichen überhaupt möglich wäre? Letzteres war nicht möglich und demnach mangelnde Planung undenkbar. So war Abhilfe zu schaffen, und es geschah sogleich.
Hohe Vertreter der Alleinpartei nämlich, weitsichtig vorausschauend und auf kluge Weise planend, hatten sozusagen eine, wie man gerne in modernerer Sprachreglung sagen möchte, fremdvölkische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme rechtzeitig in die Wege geleitet. Man konnte diese beispielsweise besichtigen in dem an die Batterie anschließenden Barackenlager für solche fremden Arbeiter des Berthawerks der Weltfirma Krupp, herbeigeholt aus dem weiten Reich des Bruders in Feindschaft und dessen angrenzenden Gebieten, wobei allerdings folgende Merkwürdigkeit für die damalige Zeit anzumerken ist, dass nämlich besagtes Barackenlager ohne Umzäunung auszukommen hatte, dass sie selber, die Vierzehn, anfänglich sogar in diesem Lager zu kampieren hatten, dessen Duschen und sonstige nützliche Einrichtungen ebenfalls benützten und dass alles überhaupt konvenient und merkwürdig seltsam zuging. Der Leser aber sei gewarnt, dies zu verstehen als Lobgesang auf irgendwie erhoffte humane Zustände in dem großen Betrieb des Anführers.
Alles also schien sehr wunderlich und hatte durchaus zu tun mit benannter Abhilfe an den Kanonen und - man wagt es kaum zu sagen - wegen rechtzeitig verabsäumter Planung des Anführers zu Beladung von Kanonen mit untragbar schweren Granaten durch noch wenig heldische Tertianer, diese freilich wegen eben dieser Kanonen ohne die Möglichkeit, zu Sekundanern aufzurücken. Jedenfalls also ward ihnen statt der Sekunda der Schutz besagten Berthawerks mit den Kanonen anvertraut, welchselbige ihrerseits gewissermaßen fremdvölkisch beladen wurden durch kräftige Arme aus östlich eroberten Weiten und durch Gefangene, die, wiewohl rassisch durchaus minderwertig, aus jenen endlosen Gegenden des harten Herrschers mit Schnauzer und Revolutionsattitüde herbeigebracht waren.
Abhilfe, folglich, war geschaffen.
Anzumerken weiterhin aber bliebe doch eine gewisse Härte des Lebens in der Batterie zwecks Erziehung zu einer Art von spartanischer Tugend. Diese schien durchaus notwendig - der Einsichtige wird es sogleich begreifen - denn ein Anführer, und wäre er noch so groß, hätte niemals einen Krieg ohne dergleichen von alters her geforderten Tugenden führen mögen und wollen.
Gewisse zivilisatorische Mangelerscheinungen waren demnach in Kauf zu nehmen.
Um dies alles aber abzukürzen, vorwiegend vor allem im Interesse des Lesers: wohnliche Bedingungen nämlich sowie hygienische und sanitärische Umstände ließen wegen besagter spartanischer Erziehung durchaus und heftig zu wünschen übrig. So mussten sie, die dienenden Helfer der Luftwaffe, hausen zu zwölft in einer hölzernen, zudem ungeheizten Baracke, umrahmt freilich von hohen Erdwällen gegen pyrotechnisch gefährliche Bomben und ähnliche gesundheitsschädliche Instrumentarien. Der Winter auf das Jahr 1945, dem bedauerlicherweise letzten des Anführers, kam mit Härte und Schneereichtum, und Scheitel rechts und Strähne links zeigten aber keinerlei Willen und auch keine Bereitschaft, geeignetes Material zwecks Beheizung hölzerner Baracken anliefern zu lassen. Sie aber, die heroisch Frierenden, darum aber leise zweifelnd an Spartanischem, entsannen sich der juristischen und legalen Provision des Mundraubes im Strafrecht sowie der im Verwaltungsrecht verankerten Maßnahme einer Ersatzvornahme - sicherlich hier eine kühne Rechtskonstruktion und damals ihnen in der Wortwahl sicherlich unzugänglich, außerdem natürlich falsch. Aber sie froren. So ergriffen sie nachts ihre blauen Luftwaffenrucksäcke, schlichen in das Kohlelager der Weltfirma Krupp, welche sie schließlich auch zu schützen hatten, füllten ihre Rucksäcke und heizten beglückt ein. Alles ging in Ordnung, und niemand bemerkte Unregelmäßiges an den geminderten Kohlebergen.
Von Schmutz und Schweiß des Dienstes gezeichnete Wäsche wäre umgehend wieder in einen sauberen Zustand zu bringen - so verlangten es die Regularien im Militärwesen des Anführers. Es stieß aber auf Schwierigkeiten; zweckmäßige Einrichtungen dazu waren nicht eingeplant von zuständiger Stelle. Man begreift es jedoch: die große Sache nämlich konnte nur wenig Rücksicht zeigen für weichliche Wünsche einer bedauerlicherweise aus höherer Notwendigkeit obsolet gewordenen Zivilisiertheit. Sie hatten verstanden: ihre kriegerisch besudelte Wäsche nahmen sie heimwärts mit auf ihre kurzen Urlaube. Gewissermaßen leisteten die Mütter mittels Waschen schmutziger Wäsche ihren gebührenden Beitrag zu dem noch zu erringenden Endsieg und hätten erheblichen Anteil daran. So jedenfalls wurde es empfunden von allen Gutwilligen.
Zu erinnern ist noch an den Fortgang gymnasialer Bildung. Er wurde gewahrt, halbwegs zumindest und halbherzig. Pädagogen reisten an, täglich, aus Breslau. Sie unterrichteten die wichtigsten Fächer des gymnasialen Curriculums, die blaugrauen Uniformen der Luftwaffe vor ihnen hockend in den viel zu engen Bänken der Volksschule zu Jeltsch, meist nachmittags und oft gestört durch den Alarm der Bomber - also gut gemeint und wenig effektvoll. Und sie selber - noch immer die Kanonen von höherem Interesse, die Schulbücher weniger. Sie waren dumm, Kinder immer noch und unreif, das Wesen der Dinge zu begreifen. Es war nicht ihr Fehler und ihr Versagen - es war die Schande derer, die eine Sekunda nicht mehr wollten und stattdessen metallen-kalte Kanonen dieser vorzogen.
Also bildeten sie Arbeitsgemeinschaften, wie man sie trefflich nennen könnte, für die ihnen gestellten schulischen Aufgaben nach Dienstschluß in ihrer Baracke: einer, jeweils nach Interesse und Begabung in einem Fach, löste die Aufgabe - die anderen schrieben sie ab. Das war ökonomisch und vom Zeitaufwand her durchaus rational, pädagogisch allerdings einigermaßen katastrophal. Die Zeugnisse am Ende entsprachen dem: vorzeigbar nur mit Peinlichkeit.
Dennoch ist es, wenn auch zu eigner Beschämung, als für seine Zukunft wichtig zu erwähnen; das aber konnte er damals freilich noch nicht wissen. Dieses Zeugnis nämlich, unterzeichnet von dem Oberstudiendirektor und dem Batteriechef, einem unreifen Leutnant kaum älter als seine Helfer, würde das einzige Dokument aus seiner Schulzeit vor der großen Katastrophe des Endes sein, welches er retten konnte. Und so ermöglichte es ihm trotz aller Mäßigkeit der Noten den Wiedereintritt in das Gymnasium zu Bamberg in Bayern nach dem Ende des Anführers und von dessen Krieg. Anmerken aber darf er hierzu - in aller Bescheidenheit natürlich und ohne Anmaßung, sozusagen nur als Dokument seiner voranschreitenden Lernprozesse - dass das Abiturzeugnis jenes Franz-Ludwig-Gymnasiums sich dann doch in erheblichem Ausmaße unterschied in dessen nun sehr positiver Benotung seiner Leistungen; er möchte es werten als Zeichen des allmählichen Wachsens seiner Person.
Aber er räumt ein, dass Letzteres an dieser Stelle eigentlich keinen Platz haben sollte. So hat er also wiederum Verzeihung zu erbitten. Dies sei hiermit getan.
Das Leben in der Schweren Heimatflakbatterie 275/VIII zu Jeltsch in der Nähe von Breslau schritt voran, desgleichen auch der Krieg des Anführers - letzterer seinem düsteren Ende entgegen. Feinde rückten heran aus allen Richtungen des Himmels, Maßnahmen dagegen, strategisch wie taktisch, mochten nicht mehr so recht anschlagen und diese Feinde, besonders die östlichen, an ihrer Böswilligkeit nicht länger hindern. Selbst Heranziehung von immer jüngeren Helden zu Dienst an metallenem Gerät oder stets spärlicher werdende Ausstattung mit sonstigen militärischen Gebrauchsgütern für den allerletzten Endkampf wollten kaum mehr Wirkung zeigen. Alles war traurig und bedrohlich.
Er muß aber hier sogleich einen Einschub machen, subjektiv wie immer und darum eigentlich unerheblich. Es wurde nämlich gemeint von interessierter und kriegsmäßig engagierter Seite, dass jene Mitglieder der Staatsjugend des Anführers und nunmehrige Helfer an den Waffen der Luftflotte starkes Verlangen im Herzen getragen hätten nach diesem endlichen Kampfe und begierig gewesen seien, sich als hehres Vermächtnis dafür in ihrer Person selbst zum Opfer zu bringen.
Er, gewissermaßen höchst persönlich, jedoch ist dabei gewesen, und er muß nun - sicherlich bedauerlicherweise und zu Enttäuschung mancher Gutwilliger - mitteilen, dass dem so nicht war. Mitteilen hingegen muß er, wahrhaftig und aufrichtig, dass da auf einmal Angst war, furchtbare Angst vor dem, was da aus dem Osten an herandrang, und das Flehen, dass das alles endlich ein Ende haben möge mit den Kanonen und den in arroganter Höhe fliegenden Bombern anglo-amerikanischer Machart und Konstruktion vor ihren schneeweißen Kondensstreifen und vor allem mit dem, was sich da am Boden herankämpfte aus dem Osten - ein Ende vor allem mit dem. Bisher war der Krieg ja gnädig umgegangen mit ihnen, wenig Angriffe von oben aus der Luft in dem, wie amtlich von hoher Stelle verlautbart wurde, sicheren Schlesien. Jetzt aber, unvermittelt, die Angst, das Zittern, eine gefürchtete papierknappe Einrückung in dem Stadtblättchen samt Eisenkreuz und voll stolzer Trauer zu Ehren von Anführer, Volk und Vaterland - ihre schmählich natürliche Angst.
Das, und nur das, ist Wahrheit. Schmale Gesichter, der Bart nicht sprießend noch, kein Gezeichnetsein auch von Härte und Schicksal, lächerlich widersprüchlich dazu der stählerne Helm, inkongruent und unpassend, erflehten, ohne das heldische Getu von einst, nur Schutz und Schoß und mütterliche Behütung.
Das ist ihre Wahrheit. Sonst ist keine.
Dennoch muß an dieser Stelle zunächst einer Angelegenheit gedacht werden, welche zwar belanglos an sich erscheinen mag, außerdem infantil in Szene gesetzt ward, jedoch bedeutend wurde nur wenig später und ihm gar das Leben retten würde, wie sich herausstellen wird, und somit zu einem erheblichen Moment seines Glückes in dem maßlosen Unglück der Zeit beitragen soll
Es war die Rede schon von seiner merkwürdigen Idee, der Marine des großen Anführers freiwillig beitreten zu wollen, um da eine, so stand zu hoffen, bedeutende Laufbahn einzuschlagen. Es mochte wohl zusammenhängen mit jenen Herren in ihren schlanken Uniformen mit den tapferen Orden daran, welche dereinst in der Tertia erschienen waren und Ruhm und Ehre sowie bedeutende Karrieren jenen verhießen, die ihrer leuchtend ausgemalten Waffengattung den Beitritt erklären wollten. Er selber jedenfalls, dumm wie er nun einmal war und deshalb heldisch sich dünkend, gedachte darum, sich auf den weiten Meeren dieser Welt tummeln zu dürfen und eine große Laufbahn einzuschlagen. Also meldete er sich freiwillig in die Marine des Anführers und beabsichtigte, deren Offizier zu werden. Es ist ja verzeihlich und besagter Dummheit zuzurechnen. Die hohe See nämlich, faszinierend und wundervoll in dem tiefen Blau ihrer Färbung des Wassers bis weit in alle Horizonte, hatte es ihm angetan schon in einem der kriegerischen Ertüchtigungslager der Staatsjugend auf der schmalen Halbinsel Hela vor Danzig.
Alsbald im grauen November des Jahres 1944 erging der Ruf an ihn, zwecks dienlicher Prüfung seiner Eignung, die Meere zu befahren im Dienste der großen Idee, möge er sich einfinden, und zwar zu seinem Erstaunen in Wien, welches ihm doch recht abgelegen schien von jeder hohen See. Also reiste er von der Schweren Heimatflakbatterie 275/VIII in Jeltsch bei Breslau, vorbei an der geliebten Grafschaft Glatz und Brünn, nach Wien in die dort gelegene Marinekaserne Korneuburg. Die, wie gesagt, schien erstaunlich und die Donau nicht blau sondern trist im Grau des November. Die Stadt selber: ein großer Name und manche Bombenschäden.
Um es abzukürzen: nach drei Tagen der Prüfungen seiner intellektuellen und körperlichen Beschaffenheit händigte man ihm einen Annahmeschein zu Beitritt in die seefahrenden Kräfte des Anführers aus. Leise freilich fragte er sich, verbot es sich sogleich aber wieder, ob denn dieser Schein angesichts eines sich immer ungünstiger gestaltenden Kriegsverlaufs überhaupt noch von großem Wert sein werde. Und er fuhr zurück in die Batterie.
Von dieser Episode aber war dennoch zu berichten, da dieser Schein wenig später bei Verlöschen des Krieges für ihn Bedeutung gewinnen sollte, wenn auch eine andere als die eigentlich gedachte. Insofern also war davon zu berichten aller Unwichtigkeit der Episode in Wien zum Trotz.
So fuhr er zurück, gestattete sich einen ihm nicht gestatteten Aufenthalt in dem geliebten Glatz, welcher aber ohne irgendwelche Folgen blieb, und kehrte wieder heim in die Batterie. Eigentlich hatten sich die Dinge bis jetzt, wie es schien, in seinem freilich dummen Sinne geregelt; planbar waren sie offenbar und insoweit zufriedenstellend.
Widersprüchlich dazu legten sich vage Bängnis und Furcht ob der sich stetig nähernden Fronten des Krieges über jede Zuversicht, vergifteten alle Hoffnung.
Der Winter auf 1945 wurde kalt und schneereich, die Baracke blieb eisig trotz ersatzweise vorgenommenen Stehlens von Kohle aus dem Besitz der Weltfirma Krupp. Weihnachten und Neujahr wurden Festlichkeiten von Tristesse und Depression.
Kurz nach dem Jahreswechsel erhielt er turnusgemäß dem Alphabet nach für zwei Wochen Urlaub nach Hause.
Er fuhr also.
Aber er würde nie mehr zurückkehren in die Schwere Heimatflakbatterie 275/VIII in Jeltsch bei Breslau, und dies kann als ein weiterer Glücksfall für ihn in dem maßlosen Unglück der Zeit betrachtet werden.
|
|