Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 5
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Fünfte Kapitel


Zu seiner Karriere als Schüler des Gymnasiums, nun Oberschule, zu Lüben in Schlesien bleibt zu vermelden, dass er ordentlich, wenn auch nicht sonderlich leuchtend alle notwendigen Stufen von Sexta bis Obertertia überwand und im Sommer des Unglücksjahres 1944 die Versetzung in die Untersekunda erhielt.

Da war er fünfzehn und ein halbes Jahr alt.

Und plötzlich änderte sich alles.

Unversehens änderte sich alles. Er hatte die Sommerferien jenes Jahres wie gewohnt bei den Großeltern in Glatz zu verbringen gedacht. Er liebte diese Stadt und ihre Grafschaft des böhmisch-habsburgisch Charmes wegen, ganz unpreußisch trotzend der Festung Friedrichs darüber. Der weite Blick vom Bergblick der Großeltern über den Gebirgskessel bis zur Heuscheuer und nach Böhmen hinein - wunderschön und herrlich. Jedoch, hier ist nicht der Ort zu sentimentalem Erinnern und Schwelgen in Vergangenem; darum also schweigt er lieber über die Schönheit des Landes und dessen Heimatlichkeit. Schließlich handelt sich um anderes, Gewichtigeres, Größeres, wie die Zeit es erforderte.

Eines Tages nämlich, kaum dass der Juli und die Ferien begonnen hatten, traf vom Vater brieflich in Glatz die Mitteilung ein, er habe sich sogleich wieder nach Hause zu verfügen. Jener Mann also - der mit Scheitel und Strähne und Herr längst auch alles Militärischen - fordere von ihm, dem inzwischen fünfzehnundeinhalb Jährigen, eines von dessen metallenem Kriegsgerät in die Hand zu nehmen und zu dienen in der Luftwaffe, zunächst freilich nur als ein Helfender, aber es sei immerhin wichtig zwecks Erringung des endlichen Sieges. Er also schien dringend benötigt hierfür.

Dies teilte ihm der Vater brieflich mit - modernere Mittel zu dringlicher Kommunikation waren noch nicht im Schwange - und natürlich gebrauchte er auch nicht solche Worte. Sie wären untunlich gewesen; also klangen die verwendeten eher dürr. Demzufolge hatte er sich trotz Sommerferien sogleich zu verfügen.

Er verfügte sich; der Ruf schien dringlich.

Bedauerlicherweise aber hat er hier, sozusagen berichtstechnisch, eine Verzögerung anzubringen, eine Retardation gewissermaßen in der erstrebten Flüssigkeit vorliegenden Reports, welche aber benötigt wird, das Folgende zu erklären. Also sei sie ihm gütig verziehen.

Es wurde ja bereits berichtet von den allseits bedrohlich heranrückenden Fronten der widernatürlichen Weltverschwörung bolschewistischer und jüdischer und plutokratischer Feindseligkeit gegen den Anführer sowie von deren schädlichen Auswirkungen auf das Boxen mit mächtig dick gefütterten Handschuhen und flauem Magen. Daran gilt es zu erinnern.

Denn angesichts und wegen solch ungünstig eingetretener Lage schlug wiederum die Stunde des gläubig hinkenden Chefs von Desinformation und Lüge. Sogleich trat er, zuständig für moralische Aufrichtung, in aufrüttelnde Aktion. Sofort und ohne bedenkendes Zögern eilte er umgehend nach dem heldenhaften Fall der Stadt Stalingrad in den festlich mit siegesgewissen Spruchbändern und zukunftverheißenden Farben dekorierten Sportpalast zu Berlin, hielt eine hochreißende Rede vor einem trauernd-hoffnungslosen und darum frenetisch rasenden Publikum in Uniform und Zivil und verkündete die Frohbotschaft vom totalen Kriege, dem jetzt gnadenlos zu erwartenden, totaler nämlich als überhaupt vernünftig vorstellbar. Er malte sein und seines Anführers Ende: zittrige Greise, diese ohne Uniform zwar und selten nur mit geeigneten Waffen versehen, aber doch wenigstens mit einem Band am Arm rechts oder auch links dem Feinde als Sturm des Volkes kenntlich gemacht, würden gewissermaßen diesem Feinde Mores zu lehren wissen. Und dann die Knaben, fünfzehnjährig erst, aber glühend nach Kampf und heldischem Tod! Sie würden herunterschießen hundertfach voll heller Begeisterung sämtliche hoch droben arrogant fliegenden Bomber angelsächsischer Machart und Konstruktion. Zu diesem Zwecke würden diese Knaben sich des schweren metallen kalten Kriegsgerätes bedienen dürfen, welches eigens zum Herunterschießen von Bombern für den Anführer erfunden ward.

Und so weiter.

Verzweifelte Begeisterung brandete auf.

Es war die große Stunde der hinkenden Lüge.

Man versteht es nicht - wenigstens heute nicht.

Nach dieser leider etwas historisierenden, wenngleich notwendigen Retardation kehrt er nunmehr zurück zu eigenem Geschick. Allerdings, es kann nicht verheißen werden, dass ähnliche Verzögerung sich nicht wiederholen werde. Die Dinge, bedauerlicherweise, waren zu jener Zeit nicht so beschaffen, als dass man eine gradlinige Geschichte hätte erleben dürfen und demzufolge auch so über sie berichten könne. Es schien nämlich, als ob dem Anführer sein Krieg irgendwie aus dem Ruder liefe und in ungeregelte Chaotik ausufere.

Des dringlichen Rufes wegen, wie erwähnt, verfügte sich der Fünfzehnjährige also zu Dienst an metallen schwerem Gerät der Luftwaffe. Auch das aber hatte schon wieder eine Vorgeschichte, und sie muß leider der Vollständigkeit halber jenen in Kürze mitgeteilt werden, die solches wegen der Gnade ihrer späten Geburt nicht erleben durften.

Und diese Vorgeschichte oder auch Präludium dazu wie auch zu allem Folgenden lief so: vor diesen fünfzehnjährigen Knaben, inzwischen in der Tertia hockend, tauchten in einigem zeitlichen Abstand regelmäßig Herren auf. Man muß sie durchaus Herren nennen ihrer eleganten Uniformen wegen, diese zudem mit etlichen tapferen Orden daran. Rank waren sie und schlank und luden zu Nachahmung geradezu ein, nämlich zu Beitritt in die jeweils von ihnen zu vertretende Gattung der Waffen des großen Anführers. Ruhm und Ehre verhießen sie und eine bedeutende Karriere in prächtiger Uniform dem, der ihnen zu folgen gedachte. Anderes, möglicherweise Bedenklicheres verhießen sie nicht. Es war also beeindruckend.

Aber um es kurz zu machen: erinnerlich ist besonders, wie einer jener schlanken Vertreter, nämlich der mit dem Totenkopf an der Mütze und zwei Siegrunen am Kragenspiegel und natürlich ebenfalls äußerst elegant, einen beschämenden Misserfolg erlitt. Beschämend, so fragt man sich freilich, für ihn oder aber gar für diese Tertia - das lässt sich heute so eindeutig nicht mehr feststellen. Letztere nämlich hatte, wie sogleich zu zeigen sein wird, einen nicht eben guten Ruf. Niemand also jedenfalls mochte sich dem Werben des schlanken Herren mit seinem Totenkopf hingeben, niemand mochte sich zu dessen Siegrunen bekennen, niemand sich diese an den Kragenspiegel heften.

Bedrückt und traurig, wie es ihm eigentlich nicht zukam, zog er ab - trotz der Runen des Sieges am Kragenspiegel.

Stattdessen aber hatte er selber, das Objekt also dieser Bemühungen von Totenkopf und Siegrunen um seine doch wohl kriegsentscheidende Person - wie sonst könnte man solche Umwerbung erklären? - die seltsame Idee, lieber der Marine des großen Anführers zwecks Erfüllung vaterländischer Pflicht beitreten zu wollen und nicht so gern den Verbänden des besagten Totenkopfs.

Dazu jedoch noch später einiges.

Die ganze Sache aber mit den schlanken Vertretern - er gibt es ungern und zögernd zu - ließ doch schließen auf einen gewissen Ungeist in seiner Tertia, auf eine Form von Obstinatheit gegenüber hehren Zielen und überhaupt auf Böswilligkeit und Subversion. Dies passt peinlicherweise zu einem anderen, wenn auch wiederum unbedeutenden Zwischenfall. Es sei aber betont, dass ohnehin alles hier Dargestellte selbstverständlich als unbedeutend zu bezeichnen ist. Unglücklicherweise jedoch spielte dieser Zwischenfall an dem Tag, an welchem, jährlich wiederkehrend, der segensreichen Geburt des Anführers zu Braunau an dem Flusse Inn dankbar zu gedenken war.

Es wurde also darum angeordnet, alle im Gymnasium hätten zu erscheinen zu dessen Ehren in der uniformen Kleidung der Jugend des Anführers mit allen Abzeichen und Schnüren, wie sie zwangsmäßig eingeführt waren durch Gesetzeskraft und Willen der Alleinpartei. So bot denn die ganze Schule ein schönes und einheitliches Bild an jenem Ehrentag voller Freude und Harmonie, getönt in das gleichmäßige Braun der Knaben und in das helle Weiß der Mädchen, wäre da nicht ein minimaler Störfaktor aufgetreten, eine kleine Unebenheit in diesem Bild von Schönheit und Harmonie: räubermäßig Ziviles sozusagen, undiszipliniert Andersfarbiges, nicht Uniformiertes, Privates hatte sich störend eingemischt mitten hinein; es irritierte, gehörte sich überhaupt nicht.

Das war die Tertia. Und sie hatten sich ja nicht einmal verabredet zu ihrem Auftritt. Es herrschte stillschweigendes Einverständnis, nur einfach so, ohne tiefere Absicht eigentlich, ein Spaß sozusagen. Es passierte eben. Schließlich waren sie ja noch dumm und unklug. Es war eigentlich lächerlich, keineswegs ein Akt bewussten Protestes - die übliche, unbedachte belanglose und infantile Aufsässigkeit nur, nichts weiter.

Aber hochmögende braungetönte Uniformen, pflichtgemäß, sahen Bedeutung und nahmen, ebenso pflichtgemäß, Anstoß. Eltern wurden amtlich einbestellt, vermahnt: Sorge um Gefährdung hoffnungsvoller Jugend, sehr bedenklich, Erziehungsmaßnahmen nötig, undsoweiter, undsoweiter…

Die an einem Mangel solcher Erziehung Leidenden aber, plötzlich wichtig genommen, kultivierten ihren Ungeist, blieben obstinat und unklug und dumm wie zuvor. Das zeigte sich beispielsweise bei ihm zuhause, natürlich wiederum läppisch, belanglos und unbedeutend. Eines Tages nämlich bei sommerlichen Temperaturen und offenen Fenstern; er, heimkehrend aus der Tertia, infiziert von Ungeist bunter Uniformlosigkeit und beflügelt von randalierenden Gesprächen mit seinen Kumpanen, fühlte sich inspiriert, lauthals zu krakeelen über "Nazibonzen" und deren Wandel in ihrem Leben. Nicht etwa, dass er überhaupt gewusst hätte, was es mit "Nazis" allgemein und "Bonzen" speziell auf sich habe und schon gar nicht mit deren Wandel - das nicht, aber es klang so wunderbar aufsässig, verriet nötigen und unklaren Protest und demonstrierte somit tapfere Selbstbehauptung. Es war also nicht ernst zu nehmen, blieb infantil und dumm. Insofern stand es ihm gewissermaßen zu.

So weit und so gut. Überraschend aber für ihn, dass der Vater, offensichtlich ob solchen Krakeels, eilends die geöffneten Fenster schloß, sein bedenkliches Gesicht aufsetzte, um es einmal milde auszudrücken, und ihm dringlich verwehrte, fürderhin Krakeel und lärmendes Geschrei dieser Art zu veranstalten.

Daraufhin begann er sich zu fragen, ob es vielleicht nicht etwas merkwürdig zuginge in einem Lande, in dem man seine eigene Meinung nicht lauthals sagen dürfe, auch wenn das einigen Krakeel und Lärm bedeute. Will sagen: die Lektionen mehrten sich. Den Anführer jedoch hielt er in Ansehen - einen Rückschluß auf diesen zu machen, dazu war er nicht reif genug.

Zu dieser Unreife Folgendes noch, seines Versagens wegen und der Ehrlichkeit halber. Es sei nicht verschwiegen; der Eindruck von früh erwachtem Heldentum und heroischer Auflehnung möge gar nicht erst aufkommen. Es handelt sich um schnödes Versagen seinerseits, entschuldbar wegen seines Alters damals vielleicht, aber dennoch um ein Versagen.

Mit einem seiner Kumpane aus der peinlichen Tertia also fuhr er wieder einmal von der kleinen Stadt Lüben in die größere nach Liegnitz, gleich nebenan sozusagen. Vor dem Bahnhof, etwas orientierungslos, heischten sie von einer Dame - wirklich einer Dame, nicht mehr jung - Auskunft, wie von hier nach da und dorthin zu gelangen sei. Auskunft erging freundlich. Und da geschah es ihm: aus den Falten ihres offenen Mantels leuchtete Gelbes, sternförmig, sechsgezackt, das tödliche Unwort der Zeit in hebräisierenden Lettern aufgedruckt. Reflexartig, nichts überlegend zog er den Freund weg von der Dame; sie ließen sie stehen, kein Dank und kein Gruß; sie liefen einfach weiter, erschrocken und in Konfusion. Aber dann, unvermittelt, traf es ihn. Er hielt an, drehte sich um, suchte mit Blicken die Frau. Sie war verschwunden.

Er schämte sich.

Der gelbe Stern in den Falten des Mantels - die Frau, verstoßen, verlassen, einsam, verloren.

Der Haß und die Verachtung jener Jahre.

Erinnerung und Scham blieben ihm lange Zeit.

Diese Geschichte ist wahr; sie hat sich ereignet, wie geschildert.