Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 10
Elisabeth Arendt geb. Ludewig (1923-2011)














Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Zehnte Kapitel


Was also sollte geschehen?

Diese Frage stellten sich freilich auch die Briten. Ihre Gefangenen fanden sie, so ist zu vermuten, im Grunde alsbald lästig. Der Rausch des Sieges wirkt, wie bekannt, erhebend für die Seele, stärkt das Gefühl großer Erhabenheit und vermittelt ein Empfinden von höherer moralischer Stärke gegenüber den Besiegten. Nur hält er, bedauerlicherweise, nicht allzu lange vor, und er trägt den Keim der Ernüchterung von Beginn an in sich; der Rausch verfliegt und eher Depressives ergreift die eben noch hochgemute Seele.

So empfanden wohl auch die Briten und ihre ganze Royal Army.

Was also sollten sie tun?

Sie hatten ihre Gefangenen zu ernähren, viele, sehr viele, und das war unter diesen Umständen schwierig. Sie hätten für sinnvolle Beschäftigung dieser Gefangenen sorgen müssen - und das war unmöglich. Ein leerer Magen und sinnlos vergehende Zeit aber führen, alle Erfahrung zeigt es, alsbald zu aufsässiger Unruhe unter den Hungrigen, und die leer vertrödelte Zeit regt an zu Eigenmächtigkeit und Betätigung mit der unbestimmten Gefahr, dass diese ungeregelt und gewaltig aus dem Ruder läuft, wenn dem allen nicht abgeholfen wird. Die Briten erkannten das Problem, schließlich hatten sie alte koloniale Erfahrung im Beherrschen Unterworfener aus aller Welt.

Sie wussten also, was tun.

Sie begannen, ihre Gefangenen zu entlassen, Schritt für Schritt natürlich und nachgemach, nicht übereilt, wohlüberlegt. Sie erinnerten sich dabei zwar der alten Kriegsbündnisse, bedachten aber mehr noch die neu erwachende Feindseligkeit des einstigen Kriegsalliierten. Dies will sagen - und sie selber, die Gefangenen, begriffen es allmählich - dass man erwarten durfte, entlassen zu werden, aber dass niemand sich Hoffnung machen durfte, heimzukehren in jene Zone, die dem finsteren Herrscher - Schnauzer und Revolutionsattitüde - aus der Unendlichkeit des Ostens in Jalta und Potsdam aus der Konkursmasse des Anführers zugesprochen ward. Und schon gar nicht in die Jenseitigkeit der beiden Flüsse Oder und Neiße. Letzteres traf ihn hart. Aber er war ja im Besitz einer Anschrift aus dem Fränkischen dank des letzten Briefes der Mutter, ausgeliefert von der bis knapp vor Null wirksam funktionierenden Deutschen Reichspost. Außerdem hatte er noch immer ein Milchgesicht ohne sonderlich sprießenden Bartwuchs. So wurde er als einer der ersten entlassen. Die Briten meinten, auf ihn verzichten zu sollen.

Angesichts seiner bisherigen Laufbahn und Verdienst im Bereich des Militärischen empfand er seine Entlassung zu Neustadt in Holstein als wenig zeremoniös und wenig pompös, begab sie sich doch ohne sonderliche Feierlichkeiten und Förmlichkeiten und selbst ohne den sonst abzustattenden Dank des Vaterlandes. Selbst die besiegende Macht hielt es nicht für nötig, ihm zu danken für die geleistete Kapitulation. Er empfand es als schmählich. Stattdessen nur kurze Identifizierung des Milchgesichtes mittels durchdringendem britischen Blick, Prüfung des Wehrpasses samt Bestätigung des ausstehenden Wehrsoldes von zwei Monaten in Höhe von RM 60,--, welche Summe übrigens ihm - das sei denn doch angemerkt - bis zum heutigen Tage geschuldet ist. Dazu ein Dokument, zweisprachig abgefasst in Englisch und Deutsch und gedruckt auf billigem Papier, wonach er rechtmäßig und ordentlich den Dienst in den seefahrenden Kräften quittiert habe. Dieses Dokument besitzt er noch heute - für alle Fälle, welche aber dankenswerterweise ziemlich undenkbar geworden sind. Außerdem ist er ja mittlerweile gereifter geworden. Immerhin hat er seine militärische Karriere überstanden und mit List und Tücke und viel Glück in dem maßlosen Unglück überlebt. Und das ist schon viel, die Umstände betrachtend - es ist eigentlich alles. Mehr konnte man nicht wollen - damals jedenfalls nicht. Und seine einst Großes verheißende Offizierslaufbahn auf tiefblauen Meeren dieser Welt vor unendlich weiten Horizonten in alle Himmelsrichtungen war somit unzeitig und endgültig beendet, was freilich wegen inzwischen eingestandener Unfähigkeit zu heldischem Tun so bedauerlich nun auch wieder nicht scheint.

Er war also entlassen aus Militär und Gefangenschaft, seine Großes verheißende Karriere demnach vorbei und aus. Als Wegzehrung in zivilere Umstände wurde ihm eine Essenration, bemessen für zwei Tage, zugeteilt. Diese zwei Tage waren, einem logistischem Plan zufolge, zu verbringen in einem Güterwagen der Reichsbahn - nunmehr weiß beschriftet als im Besitz der Allied Forces sich befindend - auf dem Transport in die amerikanische Zone der Besetzung durch eben diese Allied Forces. Das schien einigermaßen tröstlich, jedoch harrte seiner, wie das eben so geht, ein weiterer Schlag des Schicksals alsogleich, wenn auch, zugegebenermaßen, einer der minimaleren Art. Die Abfahrt nämlich des nunmehr alliierten Güterwagens verzögerte sich einerseits um einen ganzen Tag, und andererseits war darum die zugeteilte Essenration logischerweise einen ganzen Tag auch zu früh aufgezehrt, so dass der leere Magen nichts weiter zu erwarten hatte als eben Leere und sonst nichts weiter. Wieder war er angewiesen auf den bekannten Glücksfall bei allem Unglück. Dieses Mal erschien ihm dieser in Gestalt einer rohen Zuckerrübe, angeeignet auf dunkle, nicht weiter erinnerliche Weise. Nun mag der historisch bewusste und die Dinge wägende Leser einwenden und fragen, welche Bewandtnis und Bedeutung eine solch rohe und unverarbeitete Zuckerrübe denn eigentlich haben könne angesichts von großen Ereignissen, noch größeren Katastrophen und eines überhaupt gründlich aus dem Ruder gelaufenen Weltgeschehens. Er räumt durchaus die Berechtigung solchen Fragens ein, möchte aber seinerseits zu bedenken geben, dass, wie schon weiter oben angedeutet, eben dieses Weltgeschehen durchaus geeignet ist, überkommene Maßstäbe und Wertungen gewissermaßen außer Kraft zu setzen, sie sozusagen zu verschieben zugunsten unmittelbarerer existentieller Notwendigkeiten des zumindest physischen Überlebens. Dies will besagen: da die Weltgeschichte und ihre Katastrophen - hier der Magen und dessen Empfinden einer abgrundtiefen Leere. Dies sei insbesondere zwecks Verständigung mit denen von der Gnade der späten Geburt und gegenwärtiger Neigung zu Adipositas vermeldet, da die so glücklich Begnadeten heutzutage ihre Nahrungszuführung weniger als täglich notwendigen Vorgang zwecks Erhaltung ihrer Existenz betrachten, sondern diese vielmehr als ritualisiertes Erlebnis eines verfeinerten Genusses und kulinarischen Vergnügens empfinden.

Eine solch rohe und unraffinierte Zuckerrübe aber kann hierbei naturgemäß durchaus nicht mithalten, bietet sie doch weder Genuss noch Vergnügen, schmeckt ekelerregend süßlich und droht, den Magen Biß für Biß umzudrehen. Aber sie nährte ihn für zwei weitere sich

dehnende Tage in seinem alliierten Güterwagen, und hierin schon liegt ihr Verdienst. Danach aber - und bekanntermaßen ist Undank ja der Welt Lohn - endeten die Reste, achtlos weggeworfen und ihn anwidernd, an einem Wegesrain. Warum diese Achtlosigkeit und wieso dieses Wegwerfen und über eine damit verbundene mildtätige Handlung freundlich bäuerlicher Menschen ihm gegenüber, dazu sogleich und knapp gegen Schluß der Geschichte noch einiges mehr. Letztere eilt ohnehin alsbald ihrem Ende zu.

Zunächst aber transportierte ihn der alliiert eroberte Güterwagen in die amerikanische Zone der Besetzung, als Frachtgut gewissermaßen oder, besser noch, als Muster ohne Wert in unendlicher Langsamkeit, vorbei an westlichen Orten und oft stillstehend in Städten, deren Namen er nie vernommen hatte und darum auch nichtssagend für ihn. Dennoch: der Zug strebte einem Ziel entgegen - Bamberg in Bayern.

Zuvor jedoch, bei Warburg, begab sich ein Erlebnis, welches, wie er später begriff, den Anfang machte für eine andere Anschauung von Welt, für eine neue Sicht auf die Umstände in eben dieser Welt, welche künftiges Geschehen bestimmen würden. Von dem Bisherigen würden sie sich erheblich und vorteilhaft unterscheiden. Er begriff das aber erst später. Zunächst manifestierte sich das Neue in anderer Uniform, in amerikanischer nämlich, und aus dieser heraus schauten, sehr ungewöhnlich noch und höchst erstaunlich, fremde Gesichter. Sie waren dunkelhäutig, schwarz und darum also sehr befremdend. Und Erstaunliches eben geschah. Ein Gespräch mit ihnen kam zustande, langsam, radebrechend, gestikulierend, mühselig. Die schwarzen Gesichter nämlich kümmerte kein "Fraternisierungsverbot" ihrer Generäle, und die Ausgestoßenen im Güterwagen wussten ohnehin nichts davon. Scheinbar Gemeinsames deutete sich an: die einen, damals noch unterprivilegiert und ohne wirkliche Bürgerrechte und Gleichberechtigung auf ewige Zeit, so dachten jene - die anderen entfernt aus der zivilisierten Welt für lange Zeit, ostrakisiert und mit moralischem Makel gezeichnet, wie diese inzwischen ahnten; beide jedenfalls "underdogs" am Hinterteil der Weltgeschichte. Das verband.

Und ein anderes noch anderes fiel ihm auf bei seinen ersten Begegnungen mit der US-Army. Es verstärkte sich bei genauerem Einblick später während seiner Tätigkeit als Dolmetscher und im Büro der 1941st Labor Supervision Company des Bamberg Military Subpost nach Abitur und den Anfangssemestern an der Universität. Es waren Organisation und Umgangsformen in der Army und vor allem ihre Ausrüstung: durchdacht, geradezu verschwenderisch, auf alle Eventualität gerüstet, zweckmäßig. Straffe Disziplin, klare Hierarchie im Dienst - legerer humaner Umgangston sonst - eine Militärmaschinerie voller Effizienz, Schlagkraft und Durchsetzungswillen, im Kampf das Material nicht schonend, den Soldaten das Leben aber möglichst bewahrend. Er will Einzelheiten hier nicht ausbreiten, will hingegen damit nur sagen, dass ihm, darüber reflektierend, blitzartig eine andere Erinnerung kam, eine Erleuchtung geradezu. Er entsann sich nämlich, dass in den beiden letzten Jahren des Krieges allenthalben plötzlich Transparente und Spruchbänder über die Straßen gespannt waren - so auch über die Breite Straße zu Lüben - welche kündeten, dass man niemals kapitulieren werde und dass man ein bolschewistisches Chaos nie dulden wolle. Es war eine der letzten Eingebungen des Chefs von Desinformation und Lüge. Aber es war wohl keine sonderlich gute Idee, denn man begann sich genau deshalb zu fragen, wieso einer überhaupt auf die Idee kommen könne, zu kapitulieren nach all den volltönenden und zukunftsgewissen triumphalen Kundmachungen des besagten Chefs zu endlichem Sieg und Triumph der eigenen Waffen. Und hier, blitzartig und die US-Army mit ihrem Kriegsmaterial vor Augen, kam ihm die Erleuchtung, dass man nämlich diesen mutwilligen Krieg niemals hätte gewinnen können gegen solche Übermacht an kriegerischem Gut, an Menschen und Versorgung durch die ganze Welt. Dergleichen Übermächtigkeit aber - und dies sei abschließend betont, auch um entschuldigenden Einwänden keinen Platz zu geben - kann nicht gewertet werden etwa als grobe Ungerechtigkeit, als Tücke oder Hinterlist eines unverdient verhängten Schicksals; das Ergebnis vielmehr erscheint als notwendige und zwangsläufige Folge des Tuns eines zu allem ermächtigten Anführers und seiner Alleinpartei gegen eine Welt, die am Ende freilich nicht länger gedachte, solche Zumutungen weiterhin zu erdulden und ihm also ein Ende setzte.

Soviel einstweilen zu der US-Army und seiner ersten Begegnung mit ihr. Bei Aschaffenburg erreichte der Transport bayerischen Boden. Die jubelnde Freude der heimischen Mitreisenden vermochte er so recht nicht zu teilen. Bayern bedeutete ihm noch nichts, war ihm fremd. Verstehen aber konnte er die anderen - ihre Heimat war es, nicht die seine.

Bamberg. Sie kletterten aus den Güterwagen der Allied Forces. US Soldaten eskortierten die desolate Kolonne zu dem Sportstadion in der Pödeldorfer Straße. Sie hatten zu lagern auf dem Fußballrasen unter freiem Himmel. Sie richteten sich ein.

Unbestimmt, wie lange.

So wieder Gerüchte, keine Gewissheiten: Militärlastwagen würden sie "nach Hause" befördern. Wann? Und was war es ihm, dieses "nach Hause"? Hatte er eines? Aber er besaß ja eine Adresse, wohin zu gehen. War es die "nach Hause"?

Mit zweien, einem Alten und einem Jüngeren, aus der Coburger und der Lichtenfelser Gegend beredete er sich; so im Ungefähren hatten sie etwas von einem Draisdorf gehört, bei Staffelstein etwa müsse es liegen, ziemlich klein und abgelegen und überhaupt nicht bedeutend.

So eine erste Information für seinen letzten Weg aus dem Krieg.

Doch wie dahin gelangen? Wann die Lastwagen der US-Army?

Sie besprachen sich. Sie hatten genug von allem. Endlich ein Ende machen! Und ihre Wege nach Hause, überlegten sie, wären schließlich nicht so unendlich weit bis in die Coburger und Lichtenfelser Gegend - ein paar dreißig Kilometer oder so vielleicht. Im Krieg hätten sie mehr zurückgelegt. Zögerlich, doch endlich entschlossen packten sie ihre Sachen auf den Rücken. Sie konnten ja nicht wissen, was ihre Bewacher am Tor des Stadions tun würden. Da lungerten ein paar Soldaten der Army, zum Aufpassen bestellt und sichtlich gelangweilt. Sie hatten ja gesiegt, und nun begann der Sieg ihnen langweilig zu werden. Psychologisch betrachtet, war den Dreien, ihre Rucksäcke auf den Rücken gepackt und auf das Tor zumarschierend, deren Problem durchaus unklar; sie hatten schließlich ein ganz anders geartetes, weit weniger triumphales zu bewältigen. Sie erinnerten sich an ihre einstige Dienstvorschrift, dass militärisches Personal sich einfach nicht bieten lassen dürfte, dass da Eingefangene losmarschierten mit ihrem Gepäck auf dem Rücken und sich aller Bewachung und Einzäunung zu entziehen gedachten. Dergleichen hätte es niemals gegeben, war völlig unmöglich, widersprach jedem militärischen Reglement, hätte schwerste Strafe nach sich gezogen! So ihre eigene HDv gedanklich auf die Amerikaner anwendend, fühlten sie heftige Unsicherheit, spürten teigige Weichheit von den Knien zum Magen aufsteigen, versuchten, gerade darum tapfer, Entschlossenheit zu heucheln, sich durch kein Zögern oder gar Wankelmut zu verraten. Es sollte ihre letzte Heldentat als verlorene Krieger sein.

Und die Amerikaner? Auch die mussten ja eine Dienstvorschrift für solche Fälle haben.

Mehr merkwürdig Ungereimtes nach soviel merkwürdig Ungereimtem und Zufälligem widerfuhr ihnen als erster Anhauch von Freiheit an dem Tor des Stadions: die Soldaten nämlich, überdrüssig ihres Sieges schon, taten - nichts, taten überhaupt nichts, schauten sie seltsam knapp und möglicherweise nicht sonderlich begreifend an. Sie taten nichts, sprachen sie nicht an, hoben keine Waffen, hinderten sie nicht. Stattdessen widmeten sie sich wieder ihrer Langeweile und ihrem seltsam unbeteiligten Wachdienst. Zu dritt passierten die anderen das Tor, beiderseits ohne ein einziges Wort. Dann standen sie auf der Pödeldorfer Straße, und niemand hatte ihnen gewehrt, niemand weiter kümmerte sich um sie! Sie verstanden es nicht, aber sie waren frei, wirklich frei!

Bis auf eine letzte kleine Komplikation unterwegs.

Sie liefen in Richtung der Bamberger Innenstadt, dann nördlich auf Hallstadt zu und Breitengüßbach. Sie marschierten in der Hitze des Juli auf der Reichsstraße 173 des vergangenen Reiches; kein Verkehr, die sinnlose Leere einer Straße; keine Bahn auf den Schienen neben der Straße. Kein Rad rollte für irgendeinen Sieg, Rückkehr zu archaischen Verhältnissen überhaupt. So marschierten sie auf glühender Straße; der Juli war heiß, der Asphalt strahlte gnadenlos in der Hitze. So kamen sie bis Zapfendorf, ein früher wohl stattliches Dorf, jetzt aber völlig in Ruinen. Ein Tiefflieger, so erfuhren sie später, hatte in den letzten Kriegstagen einen im Bahnhof stehenden Munitionszug explodieren lassen - und den Ort gleich mit. Sie liefen durch die Trümmer. Ein amerikanischer Kontrollposten hatte sich eingerichtet, ein Sergeant der Army war "on duty"; neben dem, was einst eine Tankstelle gewesen war, hatte diese Army, strategisch günstig, eine Art von Käfig aus Maschendraht errichtet, gedacht zu Aufbewahrung verdächtiger Subjekte zwecks weiterer Behandlung. Der Käfig hatte durchaus bedeutende Dimensionen, was für Spürsinn und Eifer der Army sprechen dürfte. Viele galt es ja einzufangen.

Erfüllt von solchem Spürsinn und Eifer hielt der Sergeant sie an, verbot mit der Autorität der Besatzungsmacht ihnen den Weitermarsch in die Julihitze. Sie fühlten sich betrogen in ihrer neuen Freiheit durch jenen Sergeanten. Ihre Papiere, gedruckt auf billigem Papier, verfasst in Englisch und Deutsch, amtlich gestempelt und unterschrieben, samt Schuldschein für zwei Monate ausstehenden Wehrsoldes in Höhe von RM 60, waren doch in Ordnung, konnten jede Prüfung bestehen. Was also wollte der Mann von ihnen? Er hielt sie an, in seinen Käfig aber sperrte er sie nicht; generös scheinbar, wie er war, ließ er sie einfach warten und auf der Straße stehen. Und sie ihrerseits wunderten sich über so seltsame Praktiken der US-Army, und Ärger stieg hoch in ihnen.

Auf der ex-Reichsstraße, leer und von jedem Verkehr anscheinend befreit, störte unversehens ein Lastwagen das Idyll. Ein deutsches Nummernschild zierte ihn und hinter dem Führerhaus ein senkrechter trommelförmiger Behälter zu Erzeugung von Holzgas als Treibstoff. Der Sergeant stoppte das Gefährt, zeigte auf sie und dann auf die Ladefläche, andeutend, dass sie aufsteigen sollten. Der Fahrer mochte nicht, doch höheres Geheiß der Besatzungsmacht, vertreten durch jenen Sergeanten, duldete Widerspruch nicht. So kletterten sie hinten auf, der Fahrer gab Gas, und sie fuhren davon. Ein Stein war von ihren Herzen gefallen. Es war seine dritte knappe Begegnung mit den Amerikanern. Und hier empfand er beinahe so etwas wie ein kleines Gefühl von Dankbarkeit für diesen Soldaten einer Armee, die eben noch eine feindliche gewesen war. Es war ja freilich nur eine kleine Geste von ihm, unbedeutend an sich und sicher nicht gewichtig, aber eben menschlich, vielleicht sogar freundlich ihnen gegenüber, die doch noch immer die heruntergeluderten und abgetakelten Uniformen ihres einstigen Anführers trugen - für den Sergeanten Inbegriff eines feindlich Gesonnenen und zu Bekämpfenden. Er, in dieser Uniform, war seinerseits verwundert und auch irritiert, wenn auch auf eher angenehme Weise.

Viel gewonnen allerdings hatte er nicht von der Hilfsbereitschaft des fremden Soldaten. Die beiden anderen mit ihrer vagen Landeskenntnis machten ihm nämlich klar, dass er am besten gleich wieder in Ebensfeld, vielleicht zehn Kilometer weiter, abstiege und sich zu Fuß auf den Weg nach Draisdorf mache. Sein Weg führe, vermutlich, über Oberbrunn und Döringstadt zu dem Aufstieg nach jenem Orte. Er fügte sich dieser unbestimmten Einsicht, denn Besseres wusste er nicht, sprang also ab, packte den Rucksack auf den Rücken und schleppte sich auf staubigen Wegen mühselig dahin. Die Hitze flirrte über dem Staub des Weges. Plötzlich, unmotiviert, fiel ihm ein, dass es ja der 15. Juli war - genau auf den Tag vor einem Jahr hatte er sich von zuhause fort nach Breslau zu der Schweren Heimatflakbatterie 275/VIII begeben und damit den Anfang seiner erhofft bedeutenden Karriere durch die Institutionen des Militärischen gemacht. Der aber war nun zu Ende. Er empfand den Zufall des Datums als merkwürdig, würden doch exakt nach Jahr und Tag alle Irrwege ein Ende haben in der wieder zusammengefundenen Familie, wie er hoffte. Freilich wäre es nicht in der Heimat.

So schleppte er sich auf staubigem Weg dahin. Für die liebliche und schöne, in sommerlicher Frucht stehende Landschaft des Oberen Maintales hatte er - noch - keine Augen. Er verspürte Hunger, aber der Rest seiner Zuckerrübe widerte ihn an; die Süßlichkeit war nicht mehr zu ertragen. Dann, hinter Döringstadt und Wiesen, stieg der Weg nach Draisdorf. Er fühlte sich erschöpft. Auf den Feldern rechts und links entlang des Weges Bauern; sie ernteten die Frucht des hohen Sommers. Im Schatten eines Baumes am Rande des ungemachten Feldweges rasteten Menschen, kantige Gesichter, hagere Männer, abgearbeitete Frauen; sie machten Brotzeit, erklärten sie ihm, eigentlich ohne Not. Aber er war stehen geblieben vor ihnen, und so schuldeten sie ihm eine Erklärung, das glaubten sie wohl. Eine Brotzeit war ihm neu, unbekannt, wie so manches andere in Wort und Gewohnheit der kommenden Tage. Es meinte eine erholsam notwendige Unterbrechung ihres Tuns, eine Stärkung mit Brot und Speck und Bier, verdient als Pause von ihrer Arbeit. Es wurde ihm erklärt, weil müde er stehengeblieben war vor ihnen und sie ihrerseits ihn ansprachen deshalb, ihn auch ausfragten, vielleicht seines Alters wegen, seiner verschlissenen Uniform und auch seiner Fremdheit wegen: woher, wohin, und wer er denn überhaupt sei. Er antwortete, froh schon wegen des Fragens zu seiner Person. Das schien ihm menschlich, freundlich und als überhaupt Anteil nehmend an ihm. Er war es nicht mehr gewohnt. Sie boten ihm dann Brot und Speck und Bier - letzteres hatte er lange nicht mehr genießen dürfen, schon seiner Jugend wegen nicht. Es tat ihm gut. Die rohe Rübe stattdessen endete, wie angedeutet, achtlos am Rain des Feldes. Überschwänglich dankend für so freundliche und gastliche Begrüßung im Fränkischen, nahm er gestärkt den letzten Rest seines Weges unter die Füße; noch zwei Kilometer blieben ihm bis zum Ziel seines Irrens in einer aus den Fugen geratenen Welt.

Oben auf der Höhe, gelegen unter den Eierbergen und entlegen von der Welt, breitete sich das Dorf, vierzehn Anwesen an der Zahl und ganz ohne Bedeutung für die Welt und ihre Geschichte: entlegen also von dieser Welt und gelegen unter lächerlich hohen Bergen. Es waren die Eierberge, drei an der Zahl. Aber alles, Dorf und Berge, leuchtete in sommerlicher Schönheit gerade deswegen.

Kinder rannten auf ihn zu, schreiend und fröhlich. Es waren seine Geschwister; sie hatten geholfen auf dem Felde am Getreide. Sie hatten ihn erkannt aus einiger Ferne an seinem leicht nach vorne gebeugten Gang und an dem in die Stirne fallenden Haar. Glücklich, triumphierend beinahe leiteten sie ihn in das Dorf zu Mutter und Vater. Der war eingetroffen vier Tage zuvor, abgerissen und elend von langen Fußmärschen, vertrieben von neuen Herren aus dem, was einst Heimat gewesen war, und gezeichnet von den Strapazen solcher Vertreibung. Die Familie war wieder vereint.

Und nochmals sei es gesagt: sie hatten Glück gehabt, geradezu maßlos viel Glück, und das gleich mehrere Male im Angesicht des maßlosen Unglücks, das die Zeitläufte über sie gebracht hatten und von denen sie schutzlos überwältigt wurden wie so viele andere, Hunderte, Millionen sogar. Aber sie hatten, wie betont, Glück gehabt, maßlos viel Glück, auch wenn das nur bedeuten kann, dass sie einfach nur davongekommen sind und sonst weiter nichts. Davongekommen mit dem Leben nämlich und mit sonst eben nichts, ohne allen Besitz und Haus, ohne Heimat und ohne die vertraute Geborgenheit des nun auf immer Verlorenen. Davongekommen wenigstens mit dem Leben in einer aus den Fugen geratenen Zeit.

Und wieder, bohrend und penetrant, die Frage: was soll werden?

Fremd war er angekommen, verloren im Fränkischen in unordentlicher Zeit.

Das Neue, sein erst jetzt beginnendes eigentliches Leben nämlich, würde schwierig werden in solch fremdem Umstand.

Aber er war noch jung.

Es würde hart werden und nicht einfach.