Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 9
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Neunte Kapitel


Sie stiegen aus in Görlitz, eben noch in Schlesien, jenseits des Flusses Neiße schon. Sie kamen unter in der Kantine einer Schokoladenfabrik, schliefen, viele andere, auf zusammengeschobenen Stühlen, auf dem Fußboden und sonstigem Behelf. Der Name der Firma, Mattke & Sidow, prangte am Portal, und die gläserne Tür zu der Kantine zierten die gebreiteten Schwingen jenes hoheitlichen Raubvogels, dessen Hoheit gerade im Vergehen begriffen war. Aber sie waren in Sicherheit, zunächst.

Möglich gewesen wäre auch Aussteigen in Dresden in Sachsen, sehr viel weiter weg von zuhause. Aus irgendeinem Grunde aber und heute nicht mehr genau zu klären verließen sie den Zug in Görlitz, nährten wohl trügerische Hoffnung auf Heimkehr. Und Görlitz erwies sich wiederum als Zufall wie alles, was ihnen geschah. Zwei Wochen nach ihrer Flucht nämlich, in der Mitte des Monats Februar, würde die Stadt Dresden in früherer Schönheit nicht mehr bestehen. Sie wären hineingeraten wie viele Tausende in das von arroganten Bomberpulks veranstaltete Inferno jener Tage. Zu überleben wäre das nicht gewesen. Und darum ihr maßloses Glück, nochmals und aus wiederum purem Zufall. Aber der Krieg, längst sinnlos geworden und verloren, schleppte sich fort, verschlang Opfer mehr und mehr an Menschen, an zerstörten Städten und verwüstetem Land. Ihre eigenen Nöte, Bedrängnisse und Prüfungen hatten noch immer kein Ende.

Es ist wieder zu erinnern an die gewaltige Rede des Chefs von Desinformation und Lüge im Sportpalast zu Berlin über die Verkündigung des totalen Krieges - totaler nämlich als man je ihn sich werde vorstellen können - und damit zu Aufstellung eines ungeheuren Volkssturmes. Dieser werde zwar etwas zu leiden haben an einer gewissen Knappheit an einheitlich schicken Uniformen wie auch an einem Mangel wirksamer Waffen, aber eine zweckmäßige Binde am Arm, mindestens, werde es geben, eben zwecks Kenntlichmachung als Kämpfer. Für die sei, immerhin, gesorgt. So in etwa, wenn auch ziemlich anders und nicht ganz so wörtlich, drückte er sich aus, der Chef von Desinformation und Lüge. Sogleich hatte der Vater sich zu Verfügung zu stellen, von Görlitz aus und ohne Rücksicht auf die hilflose Familie auf ihrer Flucht. Er erhielt eine Art Uniform, nicht militärisch, sondern braun und ohne alle Abzeichen irgendeines Ranges, so wie er sie sein Leben lang nie getragen hatte. Er musste sich verfügen in das Böhmische zu den Kraftfahrern. Er besaß aber keinen Führerschein.

Der Bedarf an Helden, seien diese Greise oder beinahe Kinder noch, wäre unermesslich, wie verlautbart wurde. Das traf nun auch ihn selber. Noch zu Liegnitz nämlich hatte das Militäramt des Anführers - tüchtig und wirksam arbeitend bis auf die letzte Minute, wie zu sehen sein wird - ihn erfasst in den Verzeichnissen und forderte amtlich, dass er sich einfinde bei jener Formation, die bestimmt war zu einem Arbeitsdienst an der großen Sache, welche freilich nun, wie es schien, im Scheitern begriffen war. Name, Nummer und Adresse des Dienstes, ebenfalls im Böhmischen, waren angegeben in der amtlichen Forderung - wie auch sonst hätte er sich zu Verfügung stellen sollen? Es sei aber sogleich angedeutet, dass damit, mit der Adresse also, etwas ungleich Bedeutenderes zu verbinden sein wird. Darum nur und zu entschuldigen die Erwähnung des scheinbar Unwichtigen und später Gewichtigen an dieser Stelle. Also reiste er Anfang des Februar mit dem immer noch regelmäßigen Zug entlang des Gebirges - dem mit dem plastischen Relief in der kleinen anachronistischen katholischen Schule zu Lüben - nach Starkstadt bei Braunau südlich der Grafschaft Glatz.

Es ist aber eine Ungeheuerlichkeit. Die Mutter mit den Kindern blieb allein zurück in Görlitz auf der Flucht. Mit dem Bruder, dem nun Größten und vierzehn Jahre alt, hatte sie allein zu sorgen für Weiterkommen und Überleben. Denn Krieg und Untergang schritten voran, und Rücksichten waren da keine mehr. Was daraus wurde für die Familie und für jeden von ihnen nach allen Trennungen, das wird zu berichten sein an gegebener Stelle.

Um also abzukürzen und nicht zu strapazieren: er fand sich ein in Starkstadt hinter hohem Berge und einem Lager voller hölzerner Baracken, wie üblich damals. Von Arbeit freilich keine Spur, stattdessen Gewehre, Drill, Gemeinheit, Entwürdigung - Schikane großmächtig lächerlicher Dienstgrade, je subalterner im Rang, desto erfindungsreicher im Quälen und Demütigen. Man dürfte auch sagen: es war das Programm zu Brechung jedes eigenen Willens zwecks künftiger Fronttauglichkeit und Heldentod ohne jede Besinnung. Widerwärtig war es und zum Verzweifeln; Ekel, Verdruß, keine Hoffnung. Mehr dazu zu sagen, lohnt nicht. Bald musste ohnehin verlegt werden; die Feinde aus dem Osten rückten näher und näher, darum Abmarsch nach Teplitz-Schönau an der Elbe, weiter nach Westen.

Es wurde nicht besser da, aber zwei Episoden müssen berichtet werden der Familie wegen und ihres Geschickes. Ein einziger Brief nämlich noch gelangte zu ihm unter der Anschrift des Dienstes an der Arbeit, wie sie das Militäramt zu Liegnitz eben noch rechtzeitig mitgeteilt hatte. Dieser Brief erreichte ihn aus dem Fränkischen, und der postalische Dienst, wie immer pflichtbewusst und erfinderisch, schaffte es, ihn auszuliefern trotz aller Feinde ringsum. Es war eine große Leistung in solchen Umständen und beruhigend für ihn zu wissen, wohin gehen, wenn alles einmal ein Ende hätte. Die Mutter nämlich und die Geschwister waren nach den Bomben auf Dresden und vierwöchiger Irrfahrt mit der Eisenbahn angekommen in jenem Fränkischen. Er wusste freilich nichts anzufangen mit einem Landkreis Staffelstein und einem unbestimmten Ort, geheißen Draisdorf, mit der Post in Herreth, in eben diesem Landkreis. Aber immerhin, er wusste eine Stätte, wohin sich zu wenden, wenn alles vorüber wäre. Insofern tröstlich in dem Untröstlichen. Weitere Post kam nicht und ging nicht.

Doch in diesem einen Brief aus dem Fränkischen war enthalten das bereits angedeutete Gewicht des eigentlich Unwichtigen. Denn es begab sich ein Zweites, gleichermaßen unwahrscheinlich, kaum glaubhaft und überhaupt eigentlich unmöglich. Eines Tages nämlich, unversehens und nicht erwartet, stand der Vater in dem Arbeitslager seines Sohnes zu Teplitz-Schönau; er war gekommen, ihn zu besuchen, einfach so und in dem Kostüm seiner Uniform ohne alle Abzeichen, die hätten etwas sagen können über ihn oder über sein Tun bei den Kraftfahrern. Die Menschen höheren Ranges in dem Lager staunten ihn an, wussten nicht, was von ihm zu halten, und fanden es überhaupt ein wenig wunderlich. Andererseits - die Farbe braun wäre stets zu achten, immerhin; das war ihnen ja bekannt. Also gewährten sie großzügig ihm, dem Arbeitsmann, einen Tag Urlaub, zu verbringen unten in der Stadt mit dem Vater. Beide, der Vater und er, besuchten triste Cafés und andere Verlegenheiten, wollten Klarheit finden über ihre Lage. Er schenkte dem Vater die angesammelte Ration Zigaretten, welche ihm zustand als ordentlich Einberufenem trotz immer noch nicht so recht sprießenden Bartwuchses im seinem Milchgesicht. Vor allem aber - und nur darum wird hier überhaupt davon berichtet - übergab er ihm Brief und Adresse aus dem Fränkischen. Und so wusste nun auch der Vater, wohin sich wenden, wenn alles einmal vorüber wäre. Und wenigstens sie beide, Vater und Sohn, hatten Gewissheit, halbwegs beruhigend zumindest, über das Schicksal der Familie - für die Mutter und die Geschwister, unwissend verzweifelnd im Fränkischen, konnte das aber nicht gelten.

Postalisch nämlich ging nun nichts mehr. Und planbar jenseits aller Zufälle war lange schon ebenfalls nichts mehr. Der Krieg jedoch nahm seinen unerbittlichen Fortgang. Aber es stand schlecht um Anführer und Alleinpartei. Darum vielleicht kein Ende. Der Kelch war zu leeren bis zu seinem bitteren Bodensatz.

Alarm der Bomber wegen täglich, vor allem auch nächtlich; kein geregelter Schlaf mehr, Schutz nur im Wald, im Halbschlaf angelehnt an die Stämme der Bäume. Dann die Nacht des 13. auf den 14. Februar, heftiger als sonst. Über den Schreckenstein hinaus und Tetschen-Bodenbach weiter die Elbe hinunter, greller als sonst, leuchtende Lichtreflexe, Flammenschein, fern-dumpfe Explosionen Kilometer weiter den Fluß hinab - der Untergang der schönen kunstsinnigen Stadt Dresden in einem apokalyptischen Inferno, veranstaltet von den arroganten Bombern, die das nicht hätten tun dürfen, nicht einmal wegen des Schuldkontos jenes Mannes, dem letztlich alles zuzurechnen ist. Aber es entschuldigt nichts.

Es dauerte die Nacht über an.

Wenigstens wusste er Mutter und Geschwister in Sicherheit im Fränkischen, weit fort von all dem und entfernt von dieser Stadt des Unheils und der Vernichtung. Es war beruhigend trotz allen Unglücks. Er freute sich gar darauf, nach erwartetem Ende des Dienstes an der Arbeit und dessen sinnlos militärischem Drill voller Schikane und Entwürdigung dorthin nachreisen zu können in diese noch halbwegs friedliche Gegend, selbst wenn schon bedroht von Feinden der einigermaßen zivilisierten Art aus dem Westen und darum nicht gar so schrecklich.

Es sollte sich als weiterer Irrtum auf seinem Wege erweisen.

Der Februar neigte sich. Man fragte ihn, ob er denn nicht bleiben wolle in dem Dienste als einer der unteren Führer; es könne ja mehr daraus werden im Laufe der Zeit. Er lehnte ab, mochte nicht. Er wollte heim - vergessend freilich, dass es ein Heimkommen nicht mehr gab. Er wollte eine ordentliche Entlassung. Auch hier irrte er sich. Eine ordentliche Entlassung aus dem Dienste gab es überhaupt nicht. Alle wurden sogleich geschlossen in Marsch gesetzt, geschlossen in eine Kaserne - eine entfremdete Schule freilich nur - überführt, geschlossen in feldgraue Uniform gekleidet und vereidigt auf die Person des Anführers; dieser wäre zu verteidigen selbst auf Kosten der eigenen Existenz. Letzteres freilich in dem Gelöbnis klang so nüchtern nicht - eher einigermaßen heldenhaft und poetisch schön.

Schwarze Düsternis, unendliche Hoffnungslosigkeit - nichts anderes mehr spürte er.

Einen Augenblick erwog er, auf und davon laufen, zum Bahnhof zu flüchten, eine Fahrkarte in das Fränkische zu kaufen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Er verwarf das aber wieder als zu gefährlich; keine blutrote Binde am Arm würde ihn schützen vor tüchtigen Feldjägern mit weitreichenden Befugnissen und deren wirksam arbeitender Militärjustiz. Gerade jetzt, wo alles schon verloren war.

So also in die entfremdete Kaserne. Er hat jetzt aber doch Hemmungen, das Folgende zu berichten, wirkt es doch nicht männlich, nicht heldisch - eher peinlich und mutlos für einen, dem erwachsene Zigarettenrationen gewährt wurden trotz mangelnden Bartwuchses unter einem harten Stahlhelm. Es ist aber nun wahr, dass er verzweifelnd gewissermaßen einen Kollaps erlitt höchst nervlicher Art und hilflos ausgeliefert war einem solchen Zusammenbruch. Er ging zur Toilette, schloß sich ein und heulte hemmungslos, dass es ihn schüttelte, eine ganze Stunde lang. Es schüttelte ihn, er war am Ende. Er weinte nicht, er heulte - hemmungslos eben und hilflos, ohne Ausflucht. Und, wie eine Therapie beinahe, wirkte es, endlich und beruhigend.

Er fasste einen Entschluß, lief zurück zu Bett und Spind in seinem Quartier, dem militärisch entfremdeten Klassenzimmer, kramte in den verbliebenen armseligen Habseligkeiten und suchte nach dem Schein aus der Marinekaserne in Wien, betreffend die Aufnahme in die seefahrenden Kräfte des Anführers. Den nämlich wie auch sein letztes luftwaffenhelfendes Gymnasialzeugnis aus der Batterie, dieses zwar mäßig und nicht hinweisend auf allzu großem Fleiß, hatte er stets mitgeführt der Legitimierung wegen oder vielleicht auch nur instinktiv und ohne sonderliche Absicht. Mit ersterem marschierte er auf die Schreibstube seiner grauen Einheit, wies das Papier vor und hatte wenig Hoffnung. Irritiert und fragend, wie es schien, blickten die silbernen Litzen am Kragen ihn an: was das denn solle? Es wurde geprüft, begutachtet, erwogen. Schließlich befand man es doch für echt, und das Wunder geschah: nach zwei Tagen wurde er entlassen aus seiner feldgrauen Uniform, erhielt einen Fahrbefehl nach Waren an der Müritz, sich zu melden bei den seefahrenden Kräften. Er hätte jubeln können vor Glück, nochmals dem Verhängnis aus dem Osten entronnen zu sein. Er tat es aber nicht, aus Klugheit und Beherrschtheit nicht.

Und er konnte sich das eigentlich kaum vorstellen: ein Krieg, mutwillig veranstaltet, in seinen letzten Zuckungen verblutend; zwei weitere schreckliche Monate noch würde er dauern. Keine Ordnung mehr, nichts funktionierte - das Ende jedweder geregelten Berechenbarkeit in jedwedens Leben. Doch da war eine Militärbureaukratie; sie prüfte, gewissenhaft und gründlich, Dokumente, lehnte ab oder erkannte an, stellte Fahrbefehle aus nach Irgendwohin und zu Irgendwem und tat im übrigen, wie ihr stets geheißen. Schließlich hatte Ordnung zu herrschen bis zum allerletzten Versinken in gigantischem Chaos.

Ihm aber konnte das recht sein, für den Augenblick wenigstens. Entkleidet seiner feldgrauen Uniform und wieder angetan mit der aus infantiler, wenig männlicher Helferzeit, marschierte er zum Bahnhof, durchschritt mit Wohlgefühl, seiner ordentlichen Dokumente wegen, die Sperre der tüchtigen und tückischen Feldjäger, trotzend deren weitreichenden Funktionen, und bestieg erleichtert und erlöst einen Zug nach Norden, freilich nicht länger in dem Bewusstsein, dass ihm eine große Karriere bei den seefahrenden Kräften bevorstünde. Dem standen, wie er vermutete, die gegenwärtigen Umstände einigermaßen im Wege. Aber wenigstens war er dem aus dem Osten Herandringenden zunächst wieder entronnen. Das nämlich war zu fürchten am allermeisten, wie ihm schien.

Der Zug passierte das zerstörte Dresden, fuhr weiter nach Norden, westlich um Berlin herum, bis Waren an der Müritz. Neue Einkleidung, marinemäßig, Uniform mit goldenen Knöpfen und einem Anker darauf. Die eigenen allerletzten Besitztümer sandte er mit der Post nach Braunschweig; sie hätten ihn nur noch belastet. Sie kamen nie an bei seiner Tante Amalia Vielhaak. Er kannte sie persönlich überhaupt nicht, und die Adresse blieb ihm ungenau. Also war auch das Letzte noch verloren. Nach Tagen weiter über Stralsund nach Saßnitz auf Rügen, Marineartillerieschule. Feinde näherten sich der Insel, drohten, den Damm zu überschreiten. Eilig befragte man die Neuen, ob sie denn schon geschossen hätten in ihrer Ausbildung mit dem Karabiner 98. Der stammte noch aus Zeiten des Kaisers, war unhandlich und übermäßig lang. Sie hatten nicht und auch keine Ausbildung an diesem Schießgewehr. Sie erhielten je fünf Patronen, zur Abwehr der wilden Feinde aus dem Osten. Sie vertrauten aber nicht darauf.

Und Unerhörtes geschah. Es war der 30. April; sie hatten anzutreten in militärischer Formation. Ein Offizier - nicht erinnerlich sein Rang, jedenfalls aber im Besitz von Befehl und Kommando - trat vor die Reihen. Was nun kam, ist eigentlich ganz ohne Belang und wäre keiner Anmerkung wert in anderen Zeiten, gewinnt jedoch unversehens Bedeutung und Gewicht in Umständen von Ermächtigung zu all und jedem. Der Offizier baute sich also auf vor der angetretenen Front, stand da in voller Montur, legte die rechte Hand an den Schirm seiner Mütze, grüßte also, wie seit eh und je üblich gewesen im Militärischen. Dann nahm er die Hand zurück. Mehr war nicht. Der Gruß mit ausgestrecktem Arm zu Ehren von Alleinpartei und Anführer aber unterblieb. Mit knappen und dürren Worten tat er kund, dass Letzterer und bis zum heutigen Tage oberster Befehlender allen Geschehens nunmehr zu Berlin ein heldenhaftes Ende im Kampfe gegen seine jüdisch-bolschewistischen Feinde gefunden habe.

Mehr sagte er nicht, log auch nicht. Nur schönte er den unschönen Tod dieser monströsen Figur der Weltgeschichte. Und er suchte Abstand von dieser durch Anwendung des längst entwöhnten und nie mehr geübten militärischen Grußes. Und so fand denn nun alles sein wirkliches Ende, apokalyptisch und unwiderruflich. Einsicht selbst höheren Ortes in der militärischen Hierarchie griff um sich, Erleichterung auch dort - man hätte früher dergleichen erwarten dürfen. Rügen wurde nicht verteidigt; sie gingen an Bord der Schiffe im Hafen von Saßnitz. Der Konvoi lief unter den dänischen Inseln auf Kopenhagen zu, träge, disparat, die Schiffe beschädigt - so schleppte er sich dahin, machte knappe Fahrt gegen die starke Strömung. Aber das Leben der Soldaten an Bord - das wenigstens schien bewahrt. Er selber war durch Zufall - alles geschah ohnehin nur noch zufällig, entzog sich jeder Berechenbarkeit - an Bord eines Handelspottes geraten. Da ihn rettend aus unmittelbar feindlicher Gefahr, ist ihm der Name geblieben: "Emmy Friedrich", der eines Schiffes, lädiert zwar, aber seetüchtig noch. Und er überlegte, suchte die Lage einzuschätzen: der Krieg war ja nicht vorbei trotz des hingeschiedenen Anführers, und Gefahr noch drohte aus der Tiefe von unten, und sie drohte aus der Luft von oben. Hunderte, viele Hunderte waren an Bord gegangen, sich zu retten vor Gefangenschaft in den Weiten des großen Ostens und vor grimmigem Schnauzer mit Revolutionsattitüde. So kletterten sie hinab auf senkrecht-schmaler Leiter in die Tiefen der Laderäume und richteten sich ein auf hartem Stahlboden. Er besah sich die Umstände und schätzte sie ein. Nun möchte er sich nicht übermäßig loben - davor bewahre ihn die ihm innewohnende Bescheidenheit - aber dennoch scheint mäßiges Lob tunlich an dieser Stelle, und zwar wegen seiner Überlegungen und Einschätzungen. Er meinte nämlich bei sich, dass im Falle eines Torpedos von unten oder einer Bombe von oben sogleich Panik ausbrechen müßte in den Tiefen der Laderäume und es niemandem mehr möglich sein werde, über die eiserne Leiter das rettende Deck zu erreichen. Er war also umsichtig, hätte aber auch nichts einzuwenden dagegen, wenn ihn einer wiederum als ängstlich bezeichnete. Das war er nämlich wirklich und noch immer kein Held trotz seiner bisherigen kriegerischen Laufbahn über die Monate helfend bei der Luftwaffe, nach zwei verzweifelten Tagen im Heer und gegenwärtig auf hoher See mit unendlichen Horizonten in alle Himmelsrichtungen. Man darf diese Karriere als durchaus bemerkenswert würdigen angesichts seines Alters. Wegen seiner Weitsicht also oder auch wegen seiner Ängstlichkeit, wenn man so will, stieg er nicht hinab in den Bauch des Schiffes, sondern richtete sich ein in der Back gleich neben der Ankerkette, welche in ihrem Tun allerdings erheblichen Lärm und akustische Belästigung verursachte. Immerhin, sie bedrohte nicht das Leben, was den Umständen entsprechend durchaus als Gewinn zu werten wäre.

Der Konvoi lief in Richtung Kopenhagen. Kriegerisches ereignete sich nicht mehr. Gerüchte kursierten, der Krieg sei zu Ende. Genaues war nicht zu erfahren. Flugzeuge kreisten oben, Kokarden rot-weiß-blau an den Tragflächen; keine Bomben, sie griffen nicht an, beobachteten nur. In Kopenhagen dann amtlich: die Kapitulation. Dänen feierten lautstark und fröhlich - aber keine Übergriffe oder Attacken auf die Schiffe. Friedlich beinahe schien alles; da war ja auch kein Krieg mehr. Die Schiffe liefen wieder aus nach Kiel, kommandiert jetzt von der Royal Navy Seiner Britannischen Majestät. Von dort, der Förde vor dem Hafen, haftet ein Detail in der Erinnerung, klein, unbedeutend und symbolhaft, ein Gleichnis des Geschehenen sozusagen: auf den Wellen trieb und wogte ausgebreitet in ganzer Größe eine Kriegsfahne der nunmehr vergangenen Zeit, rot im Grundton mit schwarzem Kreuz über der gesamten Fläche

und in der Mitte jenes plötzlich peinliche Zeichen mit den Haken an allen vier Enden. Die Fahne trieb und wogte auf den Wellen der Förde. Und zugleich liefen, an der "Emmy Friedrich" vorbei, zwei graue Kriegschiffe in den Hafen ein, Zerstörer der genannten Britannischen Majestät. Am Heck, mächtig weiß und groß und ebenfalls mit einem Kreuz, jedoch rot, über allem sowie dem Union Jack im oberen Feld gegen den Flaggenstock, wehte die Fahne eben besagter Britannischer Majestät. Er befand das alles als sehr penetrant symbolisch, wenn auch als einigermaßen passend zu der Situation.

Die "Emmy Friedrich" legte an, Ausschiffung. Unten auf der Pier Soldaten in fremder Uniform, erdbraun, anders aber als die aus dem weiten Osten, glücklicherweise und tröstlich immerhin. Sein Karabiner, noch aus des Kaisers Zeiten, und die fünf Patronen endeten auf ungeregeltem Haufen, nicht pfleglich, eher verächtlich. Er hob die Arme über den Kopf, kapitulierend vor den fremden Soldaten und unbehaglich darüber, was denn nun werden sollte. Es wurde aber nicht viel. Er hatte noch seine Gasmaskentrommel umhängen, gefüllt mit zwei Konservendosen für unsicher kommende Friedenszeiten. Die Maske selbst hatte er weggeworfen, versenkt in den tiefen Bauch des Schiffes. Er versuchte nun, diesen schwierigen Sachverhalt zwischen Krieg und Frieden dem ihn leibesvisitierenden erdbraunen Soldaten mit früher angelernten gymnasialen Englischkenntnissen, vermittelt durch das flach und unscheinbar gekleidete Fräulein Maria Schön, den stets korrekten Studienrat Dr.Konrad Weisker sowie Walter Kosmiensky, ebenfalls Studienrat mit irrealen Bedingungssätzen, zu verdeutlichen, erlitt jedoch bei diesem Versuch ein etwas schmähliches Versagen, insofern eben diese gymnasialen Englischkenntnisse ausgerechnet in der Stunde ihrer Bewährung versagten und ihn schändlich im Stiche ließen. Hilflos auf die Gasmaske zeigend, stammelte er etwas von "food" und ähnlichen Einsilbigkeiten. Der Soldat aber schien zufrieden, ließ ihm seine Maske samt Konserven. Weit in die Friedenszeiten würden sie jedoch auch nicht reichen, wie zu sehen sein wird. Nach dem Hineinpusten eines weißen Pulvers - DDT - in Ärmel, Jacke und Hose zwecks Desinfektion war der Akt seiner persönlichen Kapitulation beendet.

Er hatte nun zu marschieren in Gefangenschaft als ein besiegter Krieger. So marschierte er denn auch von Kiel über Lütjenburg und Oldenburg nach Großenbrode und auf die Insel Fehmarn. Die Briten hatten sich das so ausgedacht. Er war aber Gewaltmärsche nicht gewöhnt, die Hitze schon gar nicht. Belastendes warf er einfach fort als sein immer noch vorhandenes Milchgesicht ohne sonderlichen Bartwuchs ungebührlich überfordernd. Wenigstens war da kein harter Stahlhelm mehr. Soldaten der Royal Army Seiner Britannischen Majestät übrigens waren nicht zu erblicken; sie schätzten Märsche dieser Art auch nicht sonderlich. Und so wurde dieser in der Sommerhitze sich dahinschleppende Zug das sinnfällige Abbild einer geschlagenen und demoralisierten Armee aus einst großer Zeit. Nicht dass das die sich Hinschleppenden noch sonderlich kränkte - gleichgültig eigentlich war es denen geworden, denn sie hatten überlebt, wenigstens das, den Krieg also und dessen Anführer. Langsames Begreifen, zögernd, unsicher, begann. Nicht überall, manchmal aber wohl.

Nächstliegendes drängte. Hunger. Die Konservendosen waren verbraucht auf dem Marsch von Kiel nach Fehmarn. Leichte Anzeichen von Versuchung zu Disziplinlosigkeit selbst bei ihm, dem ziemlich ordentlichen und eigentlich nicht sonderlich aufsässigen Teilnehmer des kürzlich noch so großen Vorhabens des hingeschiedenen Anführers - ordentlich also und nicht sonderlich aufsässig, einmal abgesehen vielleicht von gewissen Eigenmächtigkeiten am Hauptbahnhof zu Breslau und dessen absichtlich beirrenden Nummern verwirrender Geleise in nicht länger gewollte Himmelsrichtungen. Oder auch abgesehen von ähnlichen Kleinigkeiten ohne Belang. Hunger aber verleitet zu Unregelmäßigkeit im ansonsten sehr ordentlich geregelten System des Militärischen, befinde sich dieses auch bereits in Gefangenschaft und besitze darum keine große Durchschlagskraft mehr, wie sie sonst dem Militärischen eigentlich gebührt. Kurzum, er will nicht von Plünderung sprechen, wie sie Kriegern in Notlagen oder auch ohne solche stets und immer zusteht, sondern sich einfach begnügen mit dem Stehlen von Eigentum amtlicher Art, wenngleich solche Amtlichkeit ihm gegenwärtig nicht erkennbar schien. Es ist ohnehin lächerlich und lediglich Hunger und Umständen geschuldet, dass er, mutig und mit moralischen Bedenken freilich und dennoch ängstlich immer noch, durch ein zerbrochenes Fenster aus einem Lager rationierter Lebensmittel eine Menge Nudeln stahl, trocken und dürr, aber essbar. Ein schlechtes Gewissen dabei spürte er nicht, der Hunger und der Krieg des Anführers, unselig inzwischen, hatten moralische Codices in Wanken und Unordnung gebracht. Natürlich aber war das Ganze lächerlich und eigentlich nicht der Anmerkung wert, wäre da nicht das alles beherrschende Gefühl einer großen Leere in der Magengegend gewesen. Dazu noch eine knappe Anmerkung weiter unten.

Es erfolgte die Überfahrt von Großenbrode auf die Insel Fehmarn, nach Landkirchen. Unterkunft wurde zugeteilt in einer Behausung, welche in besseren Zeiten einer Herde friedlicher Rinder als Heimstatt gedient hatte, gegenwärtig und für die kommenden Wochen jedoch nutzlos gewordenen und abgetakelten Seefahrern Schutz und Schelter vor klimatischen Unbilden zu gewähren hatte. Immerhin, der Stall war gesäubert von Hinterlassenschaften der früheren Bewohner, und das Lager auf Stroh für die Ermüdeten erwies sich als beinahe komfortabel, gemessen an früheren Umständen militärischen Daseins. Briten, noch immer, waren nicht zu erblicken; an deren Statt suchte ein deutscher Leutnant, auch er ein Milchgesicht beinahe noch, Disziplin und Ordnung bei den zynisch Desillusionierten zu bewahren - bei den Alten und natürlich auch bei denen ohne sprießenden Bartwuchs und überhaupt noch Kindlichen wie seinesgleichen, ohngeachtet ihrer bedeutenden Karrieren in allen Waffengattungen des Anführers aus großer Zeit, wie an seinem Beispiel schon dargelegt.

Keiner wusste etwas, und so blühten Gerüchte. Eines vor allem machte die Runde, erfüllte ihn mit Schrecken und Entsetzen, war nicht zu glauben in seiner ungeheuerlichen und undenkbaren Unmöglichkeit, die nicht sein konnte, nicht wahr sein durfte und darum überhaupt nicht stimmen würde. Das Gerücht aber lautete, dass die drei siegenden großen Staatsmänner auf dem von ihnen erklommenen Gipfel zu Potsdam übereingekommen wären, den Besiegten eine neue Grenze im Osten des Landes zu ziehen, nämlich entlang der beiden Flüsse Oder und Neiße. Und dass alle Bewohner von jenseits beider Flüsse ihre Heimat zu verlassen hätten und dass sie all ihr Hab und Gut zurücklassen würden und alles den hereinflutenden Fremden übergeben müssten. Schrecken und Entsetzen ergriffen ihn und die anderen. Verloren also die kleine und provinzielle Stadt Lüben in der gleichermaßen verlorenen Provinz Schlesien des ausgelöschten Landes Preußen samt dem ganzen Deutschen Reiche. Verloren die Heimat, verloren aller Besitz und alles Vertraute.

Solche Ungeheuerlichkeit durfte nicht wahr sein.

Solche Ungeheuerlichkeit war Wirklichkeit.

Sie glaubten es jedoch nicht.

Er fühlte sich wie betäubt, hoffnungslos, deprimiert.

Was also sollte werden?

Der Juni ging so hin, der Anfang des Juli dann. Sinnvolle Tätigkeit war nicht in der Unterkunft der Rinder und zu essen kaum. Erstes persönliches Unternehmertum, sozusagen, erwies sich als förderlich zum Überleben. Das war neu und geriet freilich sogleich in Konflikt mit Sitte und Anstand, wie bereits angedeutet. Die entgegen dem militärischen Reglement der Amtlichkeit entzogenen Nudeln, also gestohlen, erwiesen sich zusammen mit einigen angefaulten Kartoffeln, gleichermaßen irregulär erworben, und gewürzt mit Pfeffer und Salz, gekocht in blechernem Kochgeschirr auf offenem Feuer als Labung des Magens und Beglückung der Seele. Es schien Erfolg zu verheißen, und dringlicher Ernährungsfragen wegen bleibt noch eine weitere ihn zunächst beklemmende und bedrückende Ungeregeltheit zu bekennen, insofern diese nicht einer fernen Amtlichkeit zum Schaden geriet, sondern bedauerlicherweise einem ehrsamen Bäckermeister wie weiland dem Oskar Else aus der Dragonerstraße, so dass der angerichtete Schaden als gewissermaßen privatisiert zu empfinden ist. Dem Hunger sei es zugerechnet und, vielleicht, verziehen, ohne dass heutzutage Kompensation noch möglich wäre. Der Anführer jedoch und sein Krieg hatten freilich weit größere Schäden angerichtet; dies sei zu seiner Entschuldigung angemerkt.

Es verhielt sich aber so, dass er eines Tages auf einer Wanderung über die Insel - sie durften sich da, britischer Generosität sei es gedankt, ungehindert bewegen - an einen Bäckerladen geriet, zufällig und ohne schlimme Absicht, und damit in ein großes Gedränge in dem Laden des allgemeinen Hungers wegen. Herrlich riechendes Brot duftete, Magen und Herz zerreißend, über Uniformierte und Gerechte. Dem Bäckermeister und den Fräuleins im Verkauf entglitten alsogleich Ordnung und Übersicht. Hilflos ordnete der Meister an: "die, wo mit Brotmarken und Geld gezahlt haben, nach rechts - alle anderen nach links!" Er selber nun hätte durchaus gerne und bereitwillig den Preis für ein so herrlich in die Nase duftendes und dem Magen eine Zeitlang Beruhigung versprechendes Brot hinterlegt, bedauerlicherweise aber und seinem Status entsprechend besaß er keinerlei Marke für Anspruch auf solch hohes Gut. Und so kam es zu weiterem Verfall von Moral und Gesittung bei ihm: blitzschnell und absichtsvoll die Anordnung des ehrsamen Meisters missverstehend, wandte er sich nach rechts zu den glücklichen Eignern von Marken auf Brot und Sonstigem zu Erhaltung von Leben und Gesundheit. Er erhielt ein Brot über die Ladentheke gereicht und verließ sehr eilig das Geschäft des so betrogenen Bäckermeisters - gerne hätte er den Preis dafür erlegt, der Widersinn jedoch, so empfand er es, lag nun merkwürdigerweise darin, dass, wenn er gezahlt hätte, er kein Brot erhalten hätte der fehlenden Marken wegen, dass er aber, weil er eben nicht gezahlt hatte, sich nun gerade deshalb als glücklicher Besitzer eines solchen Laibes wissen durfte. Er reichte für einige wenige Tage, trocken und ohne Aufstrich und herrlich.

Und er begriff wiederum und erneut, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Der Studienrat Munderloh - Heinrich Munderloh, um korrekt zu sein, stets erhebend seine sonor-baritonale Stimme als erster in der kleinen exzentrischen katholischen Kirche zu Lüben in Schlesien - hätte dazu im originalen Duktus sogleich gemeint: "the world is out of joint", und er hätte trefflich Recht gehabt damit. Er selber aber, ohne Bartwuchs noch und hoffnungslos gefangen nun und mit keiner Aussicht auf Zukunft, hatte es zu ertragen und auszubaden. Alles schien wenig tröstlich.