Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 3
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Dritte Kapitel


Von Betrüblichem nicht nur, sondern von eigentlich Ungeheurem, von nie für möglich Gehaltenem ist nun zu berichten aus der kleinen und provinziellen Stadt Lüben in Schlesien. Nicht nur von Befremdlichem und Unerhörtem muß die Rede sein, sondern im Gegenteil von Schamvollem, Schändlichem, gar Verbrecherischem. Freilich ereignete es sich nicht nur zu Lüben, sondern - umso schlimmer - auch anderswo im ganzen weiten Reiche.

Es war der 9. November des Jahres 1938, welches allerdings nun nicht mehr als eines des Herrn zu bezeichnen wäre. Er selber, der damals beinahe Zehnjährige, lief an jenem Tage durch die Stadt, einigermaßen ziellos und ohne irgendwelche Absichten auf etwas. Wie das mit seinen schulischen Pflichten vereinbar gewesen sein soll, weiß er heute nicht mehr zu sagen. Von der Breiten Straße kommend, strich er weiter in Richtung Ring und obere Glogauer Straße. Je mehr er sich letzterer näherte, umso stärker empfand er eine irgendwie seltsam gedämpfte Stille, eine unheimliche und gedrückte Stimmung - nichts Wirkliches, aber sinnlich-atmosphärisch spürbar. Fühlbar geradezu war sie, sich über alles legend mit einem Eindruck durchdringend und bleibend bis heute, so seltsam das klingen mag. Es verhielt sich aber so: in dieser Straße nun, der oberen Glogauer, linker Hand und in etwa halber Länge vor dem Ring mit dem Hotel "Grüner Baum" lud das erlesene Bekleidungshaus Philippsberg zu modischer Ausstaffierung für den Herren und die Dame. Einladende Auslagen zur Straße hin und ebensolche rechts und links in der Passage zum etwas rückliegenden Ladeneingang - wie gesagt, alles modisch und erlesen. Schräg drüben in der Straße, kleiner und durchaus abfallend gegenüber dem modisch Erlesenen hüben, verschämt beinahe angesichts des prächtigen Philippsbergischen Etablissements, duckte sich die Engel´sche Handlung - wirklich eher ein Kramladen mit allerlei Waren, die man nie oder allenfalls höchst selten brauchte, woraus sich auch, aber nicht nur deshalb, der mäßige Geschäftsgang besagter Handlung erklärte. Wenige Stufen stiegen zu der schmalen hölzernen Ladentür mit ihrer Glasscheibe im oberen Drittel. Am Ring übrigens, das sei hier notwendigerweise wegen des Folgenden erwähnt, erheischte auf der anderen Seite zum "Grünen Baum" die Hirsch´sche Destille Kundschaft, dies besonders an Freitagen, an welchen damals üblicherweise der Lohn in bar ausgezahlt wurde. Insoweit also zunächst nichts Ungewöhnliches.

Aber eben nur insoweit.

Ungewöhnlich nämlich für jenen Tag, den 9. November 1938, hatte sich eine unziemliche Zusammenrottung von Menschen in der oberen Glogauer Straße ereignet - eine Menge von städtischen Bürgern also, ruhig, stumm und, so schien es, auf unklare Weise bedrückt. Keine Spur von Lautheit, keine von Lärm, aber auch nicht, was man denn doch bei solcher Zusammenrottung von Neugierigen hätte erwarten sollen, von spannungsvoll starrender Schadenfreude. Diese Menge regte sich nicht, tat nichts, sprach nichts, half auch nicht - schaute nur und starrte, mit ungläubigem Entsetzen beinahe auf das, was sich ihren Augen darbot. Und es bot sich ihr ein Bild voller Scherben, zersplittertem Glas, von geplünderten Schaufenstern und verwüsteten Läden, nämlich denen von Philippsberg und Engel. Deren Läden also waren leer, zerstört: alles höchst unordentlich, überhaupt nicht bürgerlich und darum sehr unpassend und ungeziemend zu der kleinen und provinziellen Stadt Lüben in Schlesien.

Ihm, dem Kleinen und Unbedarften, aber haftet der Eindruck solcher Ungehörigkeit unauslöschlich im Gedächtnis, denn schließlich war er erzogen zu Ordentlichkeit und Zivilität durch die Eltern, den Erzpriester und Geistlichen Rat Otto Rust in dessen Kirche und sogar durch den Rektor und Kantor Otto in der kleinen anachronistischen katholischen Schule, welche er über die Jahre zu besuchen hatte. Er begriff zwar nicht, was da nun vorgegangen war, doch ahnte er kindlich und naiv, dass dergleichen sich nicht gehörte. So wurde er, wenn auch unbegreifend, gewissermaßen Augenzeuge und kann nach all den Jahren darüber wahren Bericht erstatten, denn er hat ja wirklich und wahrhaftig alles geschaut mit eigenen Augen, also kann er es bezeugen. Eines aber vor allem prägte sich eindringlich und unauslöschbar in sein kindliches Gedächtnis und blieb gegenwärtig bis heute: hinter der zerbrochenen Glasscheibe im oberen Drittel seiner Ladentür war für einen Augenblick das Gesicht des Kaufmanns Engel zu erblicken, fleischig, ziemlich alt, unendlich traurig und hoffnungslos, das Geschehene wohl nicht wirklich fassend und nicht glaubend; ein plötzlich sehr alter Mann am Ende seiner Träume, seiner Existenz, seines Lebens.

Gegenüber, bei Philippsberg, war niemand zu erblicken.

Es verhielt sich aber so mit dem Auflauf - natürlich ist das auch spätere Erkenntnis - dass zuvor in der Nacht schlagende und schlagkräftige Männer der entschlossenen und braun behemdeten Truppe des Anführers, welche aber bedauerlicherweise seit dessen Amtsantritt Anno 1933 unter einer langweilenden Beschäftigungslosigkeit litt, endlich wieder zu Tätigkeit berufen und befohlen ward und auf Geheiß, Anordnung und eben höchsten Befehl spontane Erregung und Volkswut zu organisieren wußte. Also ward gehorsam spontane Volkswut organisiert, tüchtig und wirkungsvoll, damit diese voll der Spontaneität und ordentlich abliefe, wie dergleichen bisher niemand noch erlebt und gesehen hatte in der kleinen und provinziellen Stadt zu Lüben in Schlesien; ordentlich durchgeführt und ausgeübt ward sie und ohne unbeabsichtigte arische Schäden anzurichten. Diese nämlich waren verboten. Darum also verblieben die spontan angerichteten Schäden nur bei Philippsberg und Engel.

Das aber bedarf einer Erklärung - einer doppelten sogar.

Zuerst dies, und leider etwas umständlich. Der Anführer nämlich, Scheitel und Strähne wie bereits bekannt, benötigte - und jeder Gutwillige wird das begreifen - zur Durchführung seiner gewaltigen Umänderungen im Staatswesen selbstverständlich kluge Helfer, willig und ihm treu ergeben. Mannigfach fand er sie allenthalben. Einer vor allem und vor allen war da, recht intelligent und Doktor gar mittels väterlich professoraler Förderung durch einen berühmten, aber leider auch israelitischen Universitätslehrer. Gläubig dennoch dem Anführer sich ganz und gar und sein ganzes Leben dazu mit allen Fasern seines Herzens widmend, sagte er ab allem Israelitischen und Verworfenen, ward also fortan von dem Paulus wieder zum Saulus seines offensichtlich von der "Vorsehung gesandten" Anführers, wie er nicht müde wurde, den zu rühmen über die knappen Jahre hinweg, welche beiden, ihm und dem Anführer, noch verbleiben würden.

Nun mag freilich einer zweifeln, ob es denn eine Möglichkeit gebe, Vereinbarkeit von Gläubigkeit und Intellektualität je herzustellen - insofern nicht einmal die Hohe Scholastik des Mittelalters jenes fatale Problem des Verhältnisses von Glauben und Erkennen befriedigend zu lösen wusste und darum hilflos bei einem "Credo quia absurdum" endete, sollte man es vorsichtigerweise auch an dieser Stelle eher nicht grundsätzlich weiter verfolgen, sondern sich eher konzentrieren auf die hier in Rede stehenden Personen. Sonderlich auf eine von denen, diejenige nämlich in ihrem Zwiespalt von Gläubigkeit und Intellektualität.

Selbige hinkte, zog einen Fuß nach. Das war merkbar und auffällig - man ist geneigt, alsogleich zu denken an eine gewissermaßen quasi-metaphysische Herkunft dieser Existenz, etwa an Schwefelgeruch, an etwas Höllisch-Unterirdisches oder ähnlich Anrüchiges. Das läge zwar nahe, wäre aber zuviel der Unehre, betrachtet man ihre Tätigkeit. Brillant zweifellos war diese Existenz, hinkend glaubend an ihren Anführer in Wort und Tat, im Verbreiten von dessen ungeheuren Ideen und überhaupt zu allen möglichen Zwecken bei Umformung und Uniformierung jedweden Geschehens. Keine Wahrheit war da mehr als die seine und die seines Anführers. Solche Ergebenheit also erkennend, schuf der Anführer sogleich ein neues Ministerium, benannt als Ressort zu Verkündung von Desinformation und Lüge. Besagter gläubig Hinkender ward zu dessen Chef ernannt, und sein Glaube an den Anführer und dessen Mission wuchs und wuchs bis zum bösen Ende ganz zum Schluß. Intelligent und bedenkenlos machte er dem Amt alle Unehre, eignete sich an die Verfügung über alle Zeitungen, den Rundfunk und die Künste, selbst die Wissenschaften - überhaupt über alles, was zu verkünden war als die Wahrheit des Anführers, und andere Wahrheit war da nicht mehr, ging es letztlich doch um die Verkörperung des reinsten Willen des Volkes, wie er sich darstellte in dem wollenden Wirken des Anführers. Seinen Doktortitel allerdings, wiewohl israelitisch verliehen, legte der neue Chef allerdings nicht nieder.

Und darum nun die zweite Erklärung zu diesem höchst unordentlichen Vorgang in jener kleinen und durchaus provinziellen Stadt in der Provinz Schlesien, nicht weniger umständlich freilich und eigentlich unglaublich. Weiter oben bereits wurde berichtet, dass der Anführer wenig im Sinne hatte mit den einstigen Wanderungen eines seltsamen Volkes mitten durch die Wüste, überdies begleitet von noch seltsameren Vorkommnissen über vier lange Jahrzehnte in dieser Wüste. Noch weniger mochte er sich abfinden mit den dann in dem zugelobten Galiläa und zu Jerusalem sich ereignenden mannigfachen Wunderlichkeiten. Seine Abneigung mochte sich vielleicht erklären aus seinen Erlebnissen in jüngeren Jahren zu Wien, denn wie es immer so ist, suchen Erfolglosigkeit, Scheitern und Versagen in engen Verhältnissen nun einmal einen Urheber des Elends, einen Schuldigen am eigenen Scheitern. Und so fand er diesen Schuldigen in jenem durch die Wüste wandernden Volk, inzwischen auch stark angesiedelt zu Wien, und erklärte es, einleuchtend jedem, zum Urheber allen Übels und aller Fehler dieser Welt und beschloß also, dieses Volk ein für allemal gründlich zu beseitigen und gar auszureuten.

Und so begann er, kaum dass er Macht dazu besaß, alle Menschen mosaischen Glaubens erst bürgerlich einzuschränken, dann zu entrechten und endlich sie aus seiner Welt zu entfernen. Einen Denkfehler, freilich geringfügiger Art, eine gewisse logische Nachlässigkeit in seinen Überlegungen hierbei, so wäre zu vermuten, mochte es geben darin, sie schien ihn jedoch nicht sonderlich zu bekümmern. Auf einen Denkfehler nämlich kam es nicht an. Es war nämlich so, dass er verkündete, alle Angehörigen jenes seltsamen Volkes hätten doch ein besonderes Blut, zirkulierend in ihren Adern, wären demnach einer anderen, fremden und darum, begreiflicherweise, minderwertigen Rasse zugehörig. Freilich aber fanden sich weder Argument noch Beweis für solch kühne These, aller seiner wissenschaftlichen Bemühung zum Trotz. Es irritierte nicht sonderlich, und flugs bot ein Ausweg sich an: wenn also nicht Blut und Rasse, dann doch wenigstens Glaube und Religion, die mosaische also, durchaus geeignet zu Bestimmung des Minderwertigen. Das Ziel nämlich, so befand er, rechtfertigt Weg und auch Methode.

Das Ziel wurde alsbald deutlich vor den Augen der Welt. Die Methode aber brauchte länger.

Er bittet um Entschuldigung für diesen umständlichen, Unerhörtes andeutenden Exkurs. Es bedarf dessen um des Schicksals von Engel und Philippsberg willen.

Es verhielt sich also dergestalt, dass in der vorgehenden Nacht auf den besagten 9. November die braungetönten Hemden der seit geraumer Zeit beschäftigungslos gewordenen, aber einst sehr gerühmten und tüchtigen Kampftruppe des Anführers neuen Sinn und Aufgabe suchten. Diese fanden sie bei Engel und Philippsberg und überhaupt bei deren Glaubensgenossen im weiten Reiche. Ein Vorwand aber war benötigt: so das unselige Attentat eines Verzweifelten in der deutschen Botschaft zu Paris. Es wurde die Stunde des gläubig hinkenden, aber intelligenten und tückischen Chefs von Desinformation und Lüge. Alles Notwendige wurde sogleich tatkräftig in Szene gesetzt. Er ordnete die disziplinierte Organisierung einer spontanen Volkswut an, durchzuführen befehlsgemäß sehr ordentlich und auch diszipliniert. In gehorsame Tätigkeit zu setzen hierbei seien die anderweitig nutzlos gewordenen braungetönten Hemden des Anführers. Jedoch wären arische Kollateralschäden hierbei durchaus und unbedingt zu vermeiden.

Dies geschah.

Überall im Reiche wurden Scheiben eingeworfen, jüdische Geschäfte geplündert, ihre Besitzer misshandelt, einige gar getötet. So auch zu Lüben bei Engel und Philippsberg; unversehens wurde die Stadt eine andere - nicht länger mehr die heimelige kleine Stadt der preußischen Provinz Schlesien, sondern eine andere eben, eine unordentliche, das Gesetz brechende. Es muß aber andererseits auch gesagt werden - denn daran erinnert er, der Kleine, sich ebenfalls deutlich - dass die Menge in der oberen Glogauer Straße, starrend auf die zerbrochenen Scheiben, schweigend stand, stumm, gedämpft, als ob unklar ahnungsvoll bedrückt; kein Lärm, keine Lautheit, schon gar nicht Jubel oder Schadenfreude. Unheimliche Stille, kaum Bewegung, stummes Starren, beinahe Entsetzen. Aber auch kein Protest und keine Hilfe, Zweideutiges also und so ein Menetekel.

Allmählich verlief sich die Menge, Alltag trat wieder ein, Engel und Philippsberg und die anderen ihres Glaubens entschwanden in Vergessenheit. Über der Hirsch´schen Destille am Ring prangte danach der Name Dudek - fürwahr ein wunderliches Beispiel namentlicher Arisierung und Umtaufung.

Die angerichteten Schäden aber wären zu begleichen. Und so hatte ein anderer Paladin des Anführers, beauftragt mit wirtschaftlicher Planung für immer vier neue Jahre, die leuchtende Idee, daß die Geschädigten, also die gesamte Judenheit im Reiche, den Schädigern, also dem Anführer und seinem Staat, Ersatz und Genugtuung zu leisten hätten für gehabte Anstrengungen bei angerichteter Verwüstung und Unordnung, welch letztere in einem ordentlichen Staatswesen keinen Platz hätten. Es sei zu zahlen die Summe von 1.000.000.000 - will sagen: eine Milliarde - Mark des Reiches als Schadensausgleich, auf dass Ordnung und Ruhe wieder einträten im Lande.

Auch das geschah.

Und die Ruhe trat wieder ein.

Die Toten der Familie Philippsberg aber sind bezeugt und dokumentarisch belegt in Yad Vashem, Israel.

Sie wurden ermordet im Kriege in Treblinka.

Engel, so ist anzunehmen, gelang der Weg in das Exil

Die sonstige Lübener Judenheit insgesamt wurde in den Todeslagern umgebracht.

Die Synagoge an der Schulpromenade wurde verwüstet.