Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 2
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Zweite Kapitel


Die Zeit der Dragonerstraße ging vorbei, und das Haus in der Birkenallee 23 wurde käuflich erworben und blieb familiäre Behausung, bis der Weg in das bittere Unglück leidvoll gegangen war und der Krieg über die kleine und provinzielle Stadt Lüben in Schlesien kam.

Wenige Jahre noch, und der friedliche Schein trog.

So hatte er seiner Schulpflicht zu genügen. 1935, scheinbar immer noch ein Jahr des Herrn, zu Ostern war es, als er mit Ranzen, großer Schultüte und Brotschachtel mitsamt Russenkittel in das Gebäude der Katholischen Volksschule in der Haynauer Straße einzog. Das Jahr nämlich begann damals pädagogisch zu Ostern, und die Katholische Schule besaß eigentlich nur drei Klassenzimmer für acht Jahrgänge in einem eher villenartigen Gebäude, woraus man aber sieht, dass die Katholizität der kleinen Stadt Lüben in der preußischen Provinz Schlesien sich durchaus in Grenzen hielt und nicht viel Staat damit zu machen war. Aber einiges doch wäre anzumerken - aller Kleinheit zum Trotz. Diese Schule nämlich, so erscheint es ihm heute, deutete geradezu als Symbol und Zeichen auf Bedenkliches, das demnächst geschehen sollte, wie sie auch zugleich zurückwies durch ihre bloße Noch-Existenz auf zivile Zustände bürgerlicher Selbstbestimmung, auf glaubensmäßige Freiheit in dem preußischen Staate. Immerhin, noch existierte sie ja.

Und er selber durfte vier lange Jahre bis zu seinem schmerzhaften Übertritt in das städtische Gymnasium in den ersten beiden ihrer drei Klassenräume seine frühen Bildungserlebnisse erfahren. Aber nach seinem Übertritt in das Gymnasium ward sie alsbald geschlossen, und schon seine Geschwister hatten zwecks ihrer Alphabetisierung die evangelische zu besuchen, die freilich dann auch keine solche mehr war, sondern eher eine, die den Gedanken und Vorstellungen des inzwischen schon tüchtig veränderten Staatswesens zu genügen hatte. Aber vor allem schon in jenem katholischen und, wie es schien, etwas antiquierten Lerninstitut zeigte sich manches, was man als Menetekel hätte deuten können, wenn man - wenigstens als Erwachsener - es hätte deuten wollen. Er als Kind, natürlich, konnte es nicht. Da nämlich war der Rektor, Otto mit Familiennamen. Damals schon besaß er ein Auto, einen Opel Kadett. Und das bedeutete, weil es überhaupt ein Auto war, in der kleinen provinziellen preußischen Stadt Lüben eine mittlere Sensation - viele davon fuhren damals noch nicht auf den Straßen. Stets parkte er es in der Haynauer Straße vor seiner Katholischen Schule, und es verhieß, ungeheuer elegant und neu, glänzende Zukunft. Es war darum zu bewundern von aller Menschheit, und nichts war einzuwenden dagegen.

Aber da gab es noch ein anderes. Des Sonntags nämlich hatte der Rektor, Otto mit Namen, in der katholischen Kirche die Orgel mächtig und jubilierend zu bedienen, war also, wie es sich für einen Erzieher des Volkes gebührt, dorten der Kantor der Gemeinde unter dem Erzpriester und Geistlichen Rat Otto Rust, dem später noch Erwähnung zu tun sein wird. Soweit also schien alles bürgerlich und ordentlich geregelt und nichts ist zu beanstanden selbst im Nachhinein.

Wenn da nicht noch an ein Weiteres zu erinnern wäre. Denn er, der Rektor und Kantor, hatte auch andere Obliegenheiten noch zu erfüllen, und diese hätte man deuten können als besagtes Menetekel sogar an dem Gemäuer der Katholischen Schule. Manchmal nämlich trug der Rektor eine Uniform, Grundfarbe braun sowohl im Rock wie auch steifer Mütze, einen Oberarm zierte eine blutrote Binde mit einem weißen Kreis darin samt Kreuz mit Haken an allen vier Balken. Es schien etwas befremdlich in seiner Position. Vor allem aber - und das sei hier vorweggenommen - wurde jene rote Binde, als er dann nach Kattowitz im Oberschlesischen zu Höherem berufen wurde, verziert oben und unten mit je einem goldenen Streifen - will sagen, der Rektor und Kantor Otto wurde berufen zum Mitglied des Deutschen Reichstages zu Berlin und durfte seinen Visitenkarten fortan noch die Buchstaben MdR beifügen. Das erfüllte mit Ehrfurcht. Aber es muß durchaus benannt werden als Berufung und nicht als Wahl, denn jener Anführer - Scheitel rechts, Strähne links - hatte nichts mehr im Sinne mit Wahlen und dergleichen Umständlichleiten, und so bot sein berufener Reichstag ein schönes und uniformes Bild aus den alleinigen Uniformen seiner alleinigen Partei, welche allein zu solch uniformen Ehren berufen ward. Und Otto, MdR, war dabei.

Wie aber hätte man es denn deuten sollen in der kleinen und provinziellen Stadt Lüben in Schlesien? Wie also fügt es sich, jene Obliegenheiten, drei an Zahl, zu vereinen in einer Person? Wie ihre Verpflichtungen, heterogen und disparat, wie sie nun einmal sind, zu versöhnen? Hier die einer christlichen Kirche mit ihrem umfassenden Anspruch, da die der totalitären Alleinpartei des neuen Staatswesens - von der volksbildenden Schule mittendrin einmal abgesehen. Es blieb ein Rätsel, und man hätte darüber nachdenken können.

Aber er war kein unangenehmer Mann, und bald, als der Krieg über das Land kam, entschwand er, wie angedeutet, nach Kattowitz im Oberschlesischen.

Der Weg von der Birkenallee führte ihn tagtäglich an dem hohen Wasserturm vorbei über die Schwarze Brücke und durch den Schillerpark entlang der Bahn zu der Schule in der Haynauer Straße; passieren musste er zuvor die Behme´sche Maschinenfabrik mit ihrem etwas hochtrabenden Namen für einen eher mittelständisch-kleinen Betrieb und war dann endlich nach einer guten halben Stunde am Ziel seiner Bildung angelangt. Denn die Wohnstätte hinter dem Wasserturm lag denn doch einigermaßen außerhalb und demzufolge etwas exzentrisch im eigentlichen Sinne des Wortes. Dies nur als geringer Beitrag zur Stadtgeographie der kleinen und provinziellen Stadt Lüben in Schlesien. Mehr möge man ersehen aus den alten und inzwischen vergilbten Plänen dieser Stadt.

Aber er erinnert sich an den Lehrer Lange, pädagogisch tätig an besagtem Institut und etwas beleibt, der kahle Kopf kranzförmig umrandet von geringem Haarwuchs. Es haftet im Gedächtnis vor allem, wie er gräßlich und schauerlich zu erzählen wusste, wie es dem menschlichen Leibe ergehen werde, wäre dieser erst einmal von hinnen geschieden. Das wusste er äußerst plastisch und anschaulich zu gestalten, und es verfehlte den gewünschten Eindruck nicht, auch wenn nicht gänzlich klar wurde, was denn dieser gewünschte Eindruck hätte sein sollen. Ansonsten war er ein beliebter Lehrer, und die ersten Lese- und Rechenfähigkeiten bleiben schließlich ihm zu danken.

Und da war noch der junge Pädagoge Josef Strenn. Als nämlich jener neue Anführer seine eigene österreichische Heimat in das nunmehr Großdeutsche Reich geholt hatte - damit übrigens eine alte Sehnsucht der Deutschen erfüllend, wenn auch mit den bei ihm gewohnten äußerst undiplomatischen und bedenklichen Mitteln und Methoden - als er umgehend begann, alle Bürger miteinander bekanntzumachen, indem er sie, wo er nur konnte, in seine sämtlichen Provinzen verschickte und versetzte. So auch den Pädagogen Josef Strenn. Also gelangte Josef Strenn aus seinem Oberösterreich - oder war es Niederösterreich? - in die preußische Provinz Schlesien, die freilich einst auch zu Österreich gehört hatte, und so mag es ihm nicht ganz fremd gewesen sein. Seine alte Heimat allerdings hieß nun Oberdonau - oder war es eher Niederdonau? Aber Josef Strenn war, wie betont, jung und demzufolge idealistisch, und die Kinder mochten ihn darum. Ob er sich wohlgefühlt hätte in seiner neuen Heimat auf Dauer, kann nicht mehr festgestellt werden, denn schon bald nach seiner Ankunft hatte er seinen Beruf zu quittieren, eine feldgraue Uniform anzuziehen und in Feindesland zu marschieren. Der Krieg verschlang ihn wie so viele andere.

Es ist ja eigentlich alles nicht so wichtig und bedeutsam. Schlimmeres, viel Schlimmeres noch stand bevor. Aber es sei der Erinnerung, der flüchtigen, geschuldet um des Gedenkens willen an eine Zeit und an einen Ort, die beide, wenn man sie nur gelassen hätte, ohne künftige katastrophale Ereignisse keine Erwähnung hätten finden müssen in irgendwelchen Statistiken höheren Ortes oder niedergelegt wären in bedeutenden historischen Werken. Auch nicht in diesen Erinnerungen flüchtiger Art, wie hier zufällig und ephemer dargestellt. Aber eben, Dinge begannen sich abzuzeichnen, welche damals und wieder heute niemand für möglich und denkbar hätte halten können. Alles nämlich wäre nicht so wichtig, die kleine und nun wirklich etwas anachronistische Katholische Schule mit ihren drei Klassenzimmern für wenige Lehrer und einige Schüler, überhaupt die ebenfalls kleine und provinzielle Kreisstadt Lüben im Regierungsbezirk Liegnitz der preußischen Provinz Schlesien - das ganze sanft und selbstzufrieden vor sich hintreibende Leben ohne sonderliche Vorkommnisse und gar schon ohne katastrophale Ereignisse, hätte man alles nur so gelassen. Aber man ließ es nicht - höheren Ortes wegen nicht und auch der eigenen Verblendung wegen. Und darum gilt es, alle Flüchtigkeit festzuhalten - nach Möglichkeit wenigstens.

Seine Erinnerungen daran sind, natürlich, zufällig, ephemer und so ohne Beweiskraft. Aber jeden Tag strebte er hin zu dieser Schule, den Ranzen auf dem Rücken mit Schiefertafel samt kratzendem Griffel darin, an der Seite heraushängend nasser Schwamm und trockenes Tuch; vor der Brust schaukelte das Lederbehältnis mit der Aluminiumbüchse darin, enthaltend das Pausenbrot. Vermutlich machte all das einen niedlichen und putzigen Eindruck und ist darum heute nicht mehr üblich. Überhaupt betreibt man die Anfänge des Lesens und Schreibens nunmehr pädagogisch völlig und total anders, kindertümlich sozusagen und ohne kratzenden Griffel und ähnliche Härten des Schullebens. Doch möge das hier dahingestellt sein, es handelt sich schließlich um eine andere Zeit, und so hat manches sich eben verändert, nicht nur nasser Schwamm und harter Griffel.

Aber eines von damals hat sich ihm eingeprägt, seltsam und geradezu zufällig. Denn dergleichen Zufälligkeiten konstituieren Bewusstsein und in ihrer Summe Persönlichkeit. Geographisch also wurde er eingeführt in den weiteren Umkreis seiner Heimat mittels eines riesigen, wie ihm schien, Panoramas, plastisch ausgestaltet in allen Höhen und Tiefen des ganzen Sudetenzuges - vom Iser- und Riesengebirge zum Waldenburger Bergland und dem Glatzer Kessel und schließlich endend am Altvater. So wurde ihm Heimat deutlich und sinnlich, und sie blieb es bis heute. Aber er denkt, dass weniger eindringliche Kunde damals die Erinnerung heute auch weniger schmerzlich empfinden ließe. Doch ist es nicht zu ändern: die Eindringlichkeit damals nicht wie das Schmerzliche heute.

Ansonsten aber bleibt von der kleinen anachronistischen katholischen Schule zu Lüben in Schlesien nicht weiter viel zu vermelden, weder von dem Rektor Otto mit seinen vielerlei und widersprüchlichen Funktionen, zumal er ohnehin alsbald nach Kattowitz im Oberschlesischen entschwand, noch auch von den Lehrern Lange und Josef Strenn - es sei denn man hielte brave und tüchtige pädagogische Pflichterfüllung, wie sie an den Schülern, also auch an ihm selber, zu messen wäre, für meldenswert. Jedoch, da es sich bei vorliegendem Bericht um größere angerichtete Katastrophen handelt, wäre dergleichen nicht tunlich.

Eines freilich sei hier noch angebracht - mit viel Vorsicht, Delikatesse und diskreter Zurückhaltung, wie es dem persönlichen, gewissermaßen sogar intimen Bereich wohl ansteht. Denn es handelt sich durchaus um Persönliches, sehr Persönliches sogar und eben gewissermaßen Intimes. Er zögert darum etwas, ob solches hier überhaupt einen Platz habe oder ob es vielleicht nicht doch eher der Verschwiegenheit anheimfallen solle. Andererseits: auch und erstaunlicherweise zu Zeiten des großen Anführers - Scheitel rechts, Strähne links - entzog sich manches aus eben dieser Delikatesse an Persönlichem und also Intimen ihm, dem Anführer, und seiner irritierend neuen Zeit samt ihren Uniformen und Fahnen. Denn das Intime, Persönliche hätte sich damals freilich nicht gehört und darum das Zögern, hierüber überhaupt zu berichten. Es ist auch nicht bedeutend und kaum der Rede wert.

Aber da war nämlich ein Mädchen in dieser anachronistischen kleinen katholischen Schule zu Lüben in Schlesien - zart und sehr blond, zerbrechlich schien sie und märchenhaft holdselig. So jedenfalls schien sie ihm in seiner kindlichen Einfalt. Er war ja sechs und sie sieben und Bärbel geheißen. Ein Jahrgang über ihm war sie, zart stets und sehr blond. Und Wunderliches ereignete sich ihm. Ihre Nähe suchte er und ihre Blicke; trafen sie sich, wandte er sich ab aus Unsicherheit und Verlegenheit. Unruhe befiel ihn und Beglückung und Verzweiflung. Er wusste nicht, wie und was und warum.

Es scheint lächerlich, aber schließlich, er war ja noch dumm, längere Zeit noch, und das Ganze hatte ja überhaupt auch etwas Unzeitiges für sein Alter - oder besser vielleicht, um es grob zu sagen: ihm widerfuhr eine unzeitige Form von Verliebtheit. Er hätte damals nichts anfangen können damit, aber die Krankheit und die Symptome waren typisch für dergleichen Anfälle. Es dauerte, penetrant, bis zum Übertritt beider in das Gymnasium, und irgendwie lebte er auch glücklich damit, im Herzen jauchzend und abgründig deprimiert. Warum eigentlich auch, antizipatorisch gewissermaßen, sollte nicht der Kindheit schon widerfahren, was dem Erwachsenen später ohnehin blüht? Das weiß er aber erst heute.

Und übrigens, ihre ganze Familie würde den Krieg des Anführers nicht überleben. Sie selber, allein geblieben und durch Splitter schwer verletzt, blieb gezeichnet ihr Leben lang.

Aber noch immer war es nicht soweit. Ruhig blieb alles, friedsam, provinziell, eben normal und bürgerlich in der Kleinstadt Lüben der preußischen Provinz Schlesien des Deutschen Reiches. Sie schien eine Insel der Behaglichkeit, der inneren Ruhe und des Friedens - bedrohliche Anzeichen, das Menetekel an der Wand dieser sich selbst genügenden Selbstzufriedenheit, sie wurden nicht wahrgenommen trotz der inzwischen verstrichenen Jahre der tatkräftigen Herrschaft jenes Mannes mit seinen mannigfachen Veränderungen des Staatswesens. Man hätte sehen können, wenn man hätte sehen wollen.

Aber alles schien normal und so auch das Ephemere, welches sich fügen soll zu einem freilich nur fragmentierten Bilde jener untergegangenen Stadt. Er also erinnert sich an Folgendes, Unwichtiges, Belangloses, welches aber wegen seiner Regelmäßigkeit und Verläßlichkeit bei dem sonntäglichen Kirchgang ein schönes Licht wirft auf noch intakte bürgerliche Gesittung und - vielleicht - Frömmigkeit. Es bedarf aber hiezu vorab einer gewissermaßen topographischen Erläuterung, die - wiewohl umständlich - doch dem historischen Verständnis dienen möge. Das katholische Gotteshaus nämlich, von dem zu reden sein wird, war gelegen an der Straße nach Liegnitz, also außerhalb der städtischen Mitte und inmitten einer gepflegten Anlage von sommerlich blühenden Rosen und Rabatten, umstanden von hohen Bäumen. Mit der leichten Abgelegenheit aber hatte es eine sonderliche historische Bewandtnis, nämlich dergestalt, dass die städtische Hauptkirche - eine spätgotische hohe Hallenkirche mit seitwärts stehendem, mittels Schwibbogen mit dem Schiff verbundenen Turm - seit den Zeiten der Reformation der neuen Konfession zur Verfügung gestellt wurde und so dem katholischen Bekenntnis verloren war. Dies übrigens mitsamt dem bedeutenden geschnitzten Hochaltar, welcher aber neuerdings in dem Dom zu Breslau aufgestellt ist. Insofern nun der bereits erwähnte Heimfall des Herzogtums Liegnitz an den katholischen habsburgischen Kaiser in Wien erst Anno 1675 erfolgte und somit nach dem Ende des dreißigjährigen religiösen Mordens im beschworenen Namen des Herrn, war auch der benannte Vorgang zu Lüben vertragsmäßig nicht mehr rückgängig zu machen. So blieben die Katholischen in der Minderheit, und ihr neues Gotteshaus ward später außerhalb und also etwas exzentrisch errichtet, kleiner als die hohe Hallenkirche zwar und eher passend auch zu der schon benannten und ziemlich anachronistischen Volksbildungsstätte mit ihren nur drei Klassenzimmern. So war es halt nun einmal mit der sich in Grenzen haltenden Katholizität in der Stadt Lüben, mit der, wie gesagt, nicht viel Staat zu machen war. Ähnliches wäre zu berichten von dem Altarbild der neuen Kirche, angeblich geschaffen von einem neueren Künstler, eigentlich einem Holzschnitzer aus der gebirgigen Gegend von Bad Warmbrunn: es war hübsch und schön anzuschauen; es gefiel und störte niemanden - kurzum, es war unaufregend belanglos. Mehr dazu festzustellen braucht es nicht. Die Evangelischen behielten also ihr bedeutendes Werk samt hoher Hallenkirche, und die Katholischen arrangierten sich in der Zeit mit ihrer einigermaßen exzentrischen Kirche. Und alles erfüllte jeweils und jedenfalls seinen bestimmten Zweck. Friedlich also war es.

Eigentlich aber wollte er, der hier an solches Erinnernde, ja keinen historischen Exkurs liefern, sei dieser noch so knapp und kurz, aber gelegentlich gleiten die Dinge eben aus der Hand und neigen zu Verselbständigung und Eigenwilligkeit, so dass hierfür heftig um Verzeihung gebeten werden muß, auf dass der geneigte Leser in seiner Geduld nicht über das Maß hinaus strapaziert werde. Denn die Erinnerung an besagte Kirche richtet sich auf etwas gänzlich anderes, durchaus Unwichtiges, freilich aber auch im Zusammenhang mit dieser. Er selber jedoch räumt kleinlaut ein, gibt zerknirscht zu und gesteht sein Unvermögen: der allsonntägliche Gottesdienst nämlich stieß auf nur ziemlich mäßiges Interesse am Begreifen der frommen Handlung bei ihm. Sie schien ihm, und das spricht peinlicherweise in starkem Maße gegen ihn, etwas langweilig und umständlich. Das, natürlich, spricht also wirklich sehr gegen ihn, andererseits jedoch erklärt es sich vielleicht, dennoch aber kaum entschuldbar, aus seiner freilich noch ziemlich infantilen Kuriosität, welche die Aufmerksamkeit auf manches Detail richtete, welches anderen, möglicherweise weniger kuriosen Teilnehmern der Heiligen Handlung nicht so in den Gesichtskreis ihrer Aufmerksamkeit geriet. Nebensächlich gewiß waren seine Beobachtungen und nicht der frommen Sache zugehörig.

Da saß nämlich, und davon wäre eigentlich zu berichten, stets und nie fehlend in einer der ersten Bankreihen - jedoch nie weiter hinten als in der dritten - der Studienrat Munderloh nebst Töchtern. Aber ob diese denn nun eher Frau und Tochter waren oder nur Töchter, das konnte er in seinen dummen Jahren so recht noch nicht unterscheiden, was aber nicht wirklich gegen ihn spricht, sondern gewissermaßen natürlich ist und begreiflich. Dass es sich im übrigen um den Studienrat Munderloh handelte, wohnhaft in Altstadt - immerhin schon besiedelt seit der frühen Bronzezeit - sollte ihm allerdings erst einige Jahre später deutlich werden, als er den Übertritt in das städtische Gymnasium vollzog und dort Bekanntschaft machte mit den fremden Sprachen des Ausländischen und des strengen Lateinischen, vermittelt eben auch durch den Studienrat Munderloh. Doch davon später, wie ja auch in vielem auf später vertröstet werden muß. Jedenfalls also handelte es sich um den Studienrat Munderloh, Heinrich Munderloh, um genau zu sein. Dieser war ein Herr - man muß ihn durchaus Herr nennen - in korrektem, jedoch leicht nachlässigen Anzug; er stand in seinen mittleren Fünfzigern, pflegte eine ergrauende Igelfrisur und bot eine unbezweifelbar würdige Erscheinung. Und eine weitere Eigenart erwies ihn stets als von größter Zuverlässigkeit und Unbeirrbarkeit geprägt. Denn sobald droben auf der Empore der Kantor und Rektor Otto - hier in einer seiner drei etwas heterogenen und disparaten Funktionen, die er nun einmal innehatte - nach einigem sanften Präludieren endlich mächtig brausend und alle Register seiner Orgel ziehend diese zum Lobe des Herrn erschallen und jubilieren ließ, erhob dieser, der Studienrat Munderloh, sogleich als erster seine sonor-baritonale Stimme, ihrerseits gleichfalls dem Lobe des Herrn zugedacht. Danach erst fiel der Rest der Gemeinde fast zaghaft ein, so gewissermaßen dem Studienrat Munderloh ehrfürchtig den Vortritt lassend, während vorne am Altar der Erzpriester und Geistliche Rat Otto Rust seines sakramentalen Amtes waltete. Es schien, als ob durch Macht der Gewohnheit und ihrer normativen Kraft alles durchaus so sein müsse, und Zweifel hatten keine Statt.

Und also vorne am Altar der Erzpriester und Geistliche Rat Otto Rust, die Messe feierlich zelebrierend: ein imposanter Mann um die Sechzig, grau gelockt und von mächtigem Leibe. Er selber, der kleine und noch unbedarfte Gottesdienstbesucher, würde auch ihm am Gymnasium wieder begegnen, naturgemäß im Unterrichtetwerden in Biblischer Geschichte, Katechismus und frommer Religion. Freilich hatte der Geistliche Rat Otto Rust hierin einen etwas schwierigen Stand, da jener Anführer - Scheitel rechts, Strähne links - biblische Konkurrenz und frommes Gebaren überhaupt als unpassend für seine eigene Volkserziehung empfand. Und von der Wanderung eines seltsamen Volkes durch die Wüste samt etwelchen Wundern über die Jahre hinweg und noch weiteren großen Merkwürdigkeiten zu Jerusalem später mochte er überhaupt nichts hören. Also hatte der Erzpriester und Geistliche Rat Otto Rust am Gymnasium einen schweren Stand. Aber er hielt sich tapfer angesichts aller Widrigkeiten, welche ihm und seinesgleichen der Anführer hinderlich und nicht gerade großkariert in den erzieherischen Weg legte.

Das jedoch - und sogleich bittet er um Entschuldigung - wollte er nicht berichten, jedenfalls an dieser Stelle noch nicht.

Stattdessen muß er zu seiner Beschämung hier zerknirscht und reumütig noch einräumen, dass, sobald der Erzpriester und Geistliche Rat Otto Rust sich vom dem Altar abgewandt und die hohe Kanzel seitwärts erklommen hatte, um zu Erbauung und Belehrung der Gemeinde eine tiefsinnige Predigt über die Köpfe hinweg mählich zu beginnen, er, der Kleine, in tiefe Unaufmerksamkeit versank und Betrachtungen wie die oben dargebotenen anstellte, solchermaßen also nicht wirklich von den moralischen Erkenntnissen und theologischen Tiefgründigkeiten der Predigt zu profitieren vermochte. Mag es an seiner damals noch wenig entwickelten intellektuellen Kapazität gelegen haben oder vielleicht und möglicherweise auch an der sich stets länglich dehnenden Predigt - es war und blieb ein nicht geziemendes Verhalten, obwohl er doch später ein geradezu halsbrecherisches Vergnügen an theologischer Spekulation, nicht ganz ohne Risiko und Sünde übrigens, zu Gnade und Verdammnis anzustellen beliebte. Solches aber war erst späte Frucht seines Studiums an der Philosophisch-Theologischen Hochschule zu Bamberg sowie an der Universität zu Erlangen und ist somit ein anderes Kapitel, welches darum hier keinen Platz erhält.

Im übrigen: auch der Erzpriester und Geistliche Rat Otto Rust wird den Krieg des Anführers nicht überleben. Die wilden Truppen des Bruders in Feindschaft - grimmiger Schnauzer samt Revolutionsattitüde - aus den unendlichen Weiten des Ostens werden ihn bei ihrem Eintreffen kurzerhand erschießen, sinnlos, ohne Schuld, einfach so.

Dergestalt waren die Zeiten damals.