Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen" / Kapitel 4
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Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN DES FLÜCHTIGEN

Das Vierte Kapitel


Die Jahre in der anachronistischen kleinen katholischen Schule mit ihren drei Klassenzimmern für acht Jahrgänge neigten sich dem Ende zu. Vier lange Jahre hatte er sie absolviert, und Zeit wurde es, auf das Gymnasium zu wechseln. Das geschah zu Ostern des Jahres 1939, und noch immer schien trotz obiger Ungeregeltheiten und Unordnungen alles halbwegs normal, friedlich, und nur wenige Anzeichen an der Wand deuteten auf Unfriedliches, auf das große Unglück, welches nur knapp sechs Jahre später über alle, über die Schweigenden wie über die Handelnden, hereinbrechen würde.

Der Übergang fiel ihm schwer, war schmerzlich, da hier wie auch sonst das Verlassen des Vertrauten und Gewohnten zu Neuem, Ungewohnten und darum Unheimlichen eben schmerzlich und bedrohlich erscheint. Es war aber nur darum, dass er die bisher um ihn herum sitzenden Gesichter seiner Kumpane zu verlassen hatte zugunsten anderer, unvertrauter, fremder. Andererseits befiel ihn, tröstlich beinahe, der Gedanke, jenem Mädchen - zart und sehr blond und Bärbel geheißen - nun in das höhere Bildungsinstitut zu folgen und wenigstens von Ferne ihr nahe sein zu dürfen. Er fühlte also einigermaßen zwiespältig.

Die Aufnahme wurde glücklich bestanden und das große Schulgebäude ehrfürchtig betreten. Groß schien es vor allem im Vergleich zu seiner bisherigen katholischen Einrichtung, mickrig nun geradezu in seiner Erinnerung. Ihm wurde ein Klassenraum mit dem seltsamen Namen "Sexta" an der Tür im unteren Geschoß gleich rechts neben dem Eingang zugewiesen. So war er also nun ein Sextaner und damit aber ganz unten in der etablierten Altershierarchie der neuen Mitschüler. Langsam jedoch, so war die Hoffnung, würde er aufsteigen in der Hierarchie der lateinischen Namen: zuerst in die Quinta, dann die Quarta, Unter- und Obertertia, um endlich die Sekunda zu erreichen.

Die jedoch würde er nicht mehr schaffen, trotz der verbrachten Jahre und trotz errungener Versetzung dorthin nicht. Eine Sekunda nämlich war da unversehens nicht mehr, wie auch keine Unter- und Oberprima mehr. Durch dringliche Maßnahme, von höherem Ort angewiesen, waren sie geschlossen, benötigte der Anführer, Scheitel rechts, Strähne links, doch stetig und verlässlich immer mehr kühne und heldenhafte junge Menschen voll der Ideale für die höheren Zwecke und Ziele seines Krieges und des baldig zu erwartenden Endsieges. Eine Sekunda hatte da, man wird es begreifen, vernünftigerweise durchaus zurückzutreten. Es wird davon zu berichten sein, was für ihn daraus folgte.

Zunächst aber war er noch ein Sextaner, unbedeutend für die anderen, schon höher Fortgeschrittenen. Und überhaupt die Sexta - solch eine lateinische Bezeichnung, obsolet eigentlich und antiquiert, ragte hinein in die Neue Zeit als Überbleibsel aus einer früheren, humaneren, und so hatte sie auch keine Zukunft mehr angesichts metallen kalten Kriegsgerätes und viel brauner Uniformiertheit.

So ging er denn in das Gymnasium, welches, ebenfalls im Sinn der Neuen Zeit, inzwischen Oberschule hieß und nicht mehr mit dem herkömmlichen Namen Realgymnasium bezeichnet war. Tagaus, tagein strebte er von der Birkenallee dorthin. Bis zur Schwarzen Brücke wich sein Weg nicht ab von dem früheren zu der einstigen katholischen Bildungseinrichtung des Rektors Otto, der Lehrer Lange und Strenn - letzterer, wie bekannt, aus dem Österreichischen und ersterer dozierend das plastischen Bild des dereinst dahingeschieden seienden Leibes. Nach der Schwarzen Brücke erst trennte sich der gewohnte Weg; es waren zu durchqueren der Schillerpark, der Sportplatz und vorbei am "Spannhäusel" der Gilde vorbei alte Reithalle der Dragoner des Hann von Weyhern. Dem war ob seiner militärischen Verdienste um die Garnison selbiger Dragoner die nächste zu durchschreitende Straße namentlich gewidmet; schließlich die Kullmannstraße, und die Schulpromenade mit dem Gymnasium war endlich erreicht. Soviel also zu seinem täglichen Weg; für Genaueres sei wiederum verwiesen auf inzwischen vergilbte Stadtpläne.

Das Gymnasium erhob sich vor ihm, mächtig imposant und beinahe einschüchternd, überragend selbst die hohen Bäume der Schulpromenade, gewissermaßen die Würde des ihm innewohnenden Geistes abweisend und kühl repräsentierend. Schon das Portal: die schwere hölzerne Tür, gerahmt von säulenähnlichen Vorsprüngen und diese überwölbt von einem Überbau im ersten Stock, welcher den vorspringenden Erker des Lehrerzimmers mit Blickmöglichkeiten nach rechts und links auf die Promenade zu tragen hatte. Natürlich waren ihm, dem Sextaner, unbedarft wie er nun einmal war, solche Raffinements der kaiserlichen Architektur nach rechts und links durchaus unklar. Alles vielmehr schien ihm wenig einladend und eher warnend vor Autorität, Anstrengung und Entsagung, welche höhere Bildung nun einmal zu fordern haben würde. Nicht dass er das damals begriffen hätte - die abweisende Kühle jedoch, die ihn so empfing, weckte Bängnis und schwierige Ahnung. Freilich aber, und das soll durchaus nicht verschwiegen werden, setzte es binnen kurzem auch andere seelische Mechanismen in Gang, gewissermaßen zu Schutz und Selbstbehauptung sich eigenständig entwickelnd, nämlich einige Nachlässigkeit gegenüber den geforderten schulischen Aufgaben sowie manch alberne schülermäßige Heldentat gegen diese gebaute feierliche Würde und besonders gegen deren pädagogisches Personal, welches diese Würde zu vertreten und zu bewahren hatte. Von diesem, dem Personal also, aber erst später.

Vorerst überwältigte die Fassade, emporsteigend über drei horizontale Reihen von schlank nach oben weisenden Fenstern, diese wiederum jeweils geteilt in zwei große Quadrate und diese nochmals in je sechs kleinere. Ganz oben war die Aula, darunter besagtes Lehrerzimmer mit Blick nach rechts und links; die Klassenzimmer verteilten sich auf den Rest des Gebäudes. Es erweckte durchaus nicht wie heute üblich den Eindruck von nackter betonierter Zweckmäßigkeit, sondern eben doch den von einiger Würde und Verpflichtung zu humanem Geist. Natürlich - und das sei zugegeben - war da auch ein Anhauch von pseudo-barocker und spät-imperialer Pomposität des vergangenen Kaiserreiches zu spüren. Aber immerhin, eine Fortifikation des humanen Geistes, freilich schwach und unzulänglich, blieb es bis zum Schluß gegenüber dem, was da nun heraufzog.

Der würdig-bedrohliche Eindruck setzte sich fort im Inneren. Hell und lindgrün gehalten, öffneten sich eine Vorhalle und die Flucht nach rechts und links zu den Klassenzimmern. In der Halle selbst, überflüssig und schön, stiegen aus einem grün gekachelten Becken zwei kleine Fontänen. Linker Hand davon dann die breite steinerne Treppe mit einer verzierten Balustrade, in zwei Wendungen von je 90 Grad in die oberen Geschosse führend bis ganz oben in die Aula: feierlich holzgetäfelt etwas übermannshoch und angemessen den festlichen Anlässen des Schuljahres, die da jeweils zu begehen waren.

Allerdings muß nun an dieser Stelle, und einiges vorwegnehmend, eingeflochten werden, wie diese Aula sonderlich zu Beginn des ausbrechenden kriegerischen Tuns genutzt wurde, nämlich zu Ehren jener Primaner, Knaben beinahe noch, welche früh schon den heldischen Tod in siegreichen Schlachten auf dem Felde der Ehre hatten finden müssen. Der - ihr Tod nämlich - wurde auch vermeldet in dem städtischen Blättchen in immer winziger werdenden Einrückungen durch ihre Lieben, mitteilend in stolzer Trauer den heldischen Tod für Anführer, Volk und Vaterland auf eben diesem Felde der Ehre. Zahlreicher wurden sie, diese Einrückungen, Jahr um Jahr und immer kleiner wegen kriegsmäßig notwendiger, darum stets knapperer Zuteilung von Papier für das Blättchen; niemals fehlte jedoch in den Einrückungen das hehre Emblem des Kreuzes aus Eisen. Bald jedoch wurde das Gedenken in der Aula eingestellt - die Anlässe mehrten sich. Trauer, Beklommenheit und bange Furcht wuchsen, griffen um sich, ängstigten.

Diese Erläuterung der Funktion der Aula aber, so räumt er retardierend ein, ist eine zeitlich unziemende Vorwegnahme erst später sich ereignender Dinge, für welche Vorwegnahme um Verzeihung zu bitten ist, selbst wenn Anno Domini 1939 - eigentlich endgültig nicht mehr das Jahr des Herrn - bange Ahnungen das sanfte und bedeutungslose Treiben in der kleinen Stadt zu überschatten begannen, friedlich nach außen dieses noch immer oder schon wieder ungeachtet oben dargestellter Unordentlichkeiten - bis jener Tag des 1. September in eben diesem Jahre alles veränderte.

Da war er seit einem halben Jahr Schüler des Gymnasiums. Er würde es für beinahe fünf weitere Jahre noch sein. Zunächst jedoch stellte Routine nach und nach sich ein, banges Gefühl und Beklommenheit wichen, und neue Freunde, was immer die in diesem Alter bedeuten mögen, bewirkten neue Nähe und Vertrautheit. Ernsthaftigkeit gegenüber den Herausforderungen gymnasialer Bildung ließ zu wünschen übrig, was vielleicht eher als Bequemlichkeit, wenn nicht gar Gleichgültigkeit zu bezeichnen wäre. Er möchte hier wie anderswo jedoch freundlicherweise den Eindruck unziemlicher Härte im sprachlichen Ausdruck für sein Verhalten durchaus vermeiden und will also nur sagen, dass durch solches Betragen das gymnasiale Dasein sich erträglich, wenn nicht gar vergnüglich gestaltete. Er war damals schließlich weder Held, noch Tugendbold, noch sonstiges Musterbeispiel in Hinsicht auf verübte pädagogische Mühungen an seiner Person. Dies sei nur betont wegen des möglicherweise sonst sich einschleichenden Verdachtes, er habe sich betragen wie ein braver musterhafter Gymnasiast mit Fleiß und ohne Tadel. Diesem Eindruck müßte er entgegentreten, denn dem war leider nicht so. Aber auch das diametrale Gegenteil davon träfe nicht zu. Zuträfe eher stattdessen das Bild eines durchaus normalen Objektes pädagogischer Bemühung vonseiten der sich an ihm abarbeitenden Pädagogen, also eines Objektes mit allen Tugenden, Tücken, minimal notwendigem Fleiß und harmloser Gutwilligkeit. Und damit möge dies sein Bewenden haben - schließlich geht es nicht so sehr um ihn, sondern um anderes, Wichtigeres.

Um also zum Gymnasium und zu dessen Personal zurückzukehren: sogleich in der Sexta begegneten ihm Mia und Martha, stets frontal vor ihm am Pult verweilend und auf diese Weise ihre Lektionen erteilend. Beide waren gereifte, leider etwas verblühte freundliche Damen - wobei sogleich um Verzeihung gebeten wird für diese auf den ersten Blick nicht so sehr verehrende Darstellung, welche jedoch durchaus sympathisierend gemeint ist und beiden Damen keinerlei Abtrag tun soll. Beide jedoch besaßen unglücklicherweise die merkenswerte Fähigkeit, sich so zu kleiden, dass jedwede Andeutung weiblichen Charmes unter ihren flachen und dezent unfarbigen Gewändern absolut verborgen blieb, kaum dass eine Ahnung von Weiblichkeit überhaupt möglich wurde. Begreiflicherweise bedeuteten diese modischen Eigenheiten in seinem infantilen Alter noch kein sonderliches Problem für ihn, und darum bleiben nur die pädagogische Mühungen der beiden Damen an ihm zu würdigen. Es handelt sich also um die Fräuleins Maria Schoen und Margarete Leupold in ihren reiferen Jahren. Erstere schien wenig zu fürchten, ihre englischen Lektionen wurden ordentlich erteilt und gelernt, ohne Dramatik und Tohuwabohu - nicht sonderlich merkenswert also, wie das bei jeder Normalität leider und bedauerlich stets sich so verhält. Zutreffend dies so auf Mia.

Nicht jedoch auf Martha: ernstlich respektiert, gefürchtet beinahe, so möchte man meinen, führte sie ein in die Geheimnisse der höheren Mathematik bis hinauf in die mittleren Klassen des Gymnasiums - also nur bis in die mittleren Geheimnisse, um ehrlich zu sein. Es sei aber betont, um deren Bedeutung insoweit zu unterstreichen, als die Lehrer Lange und Strenn seines ehemaligen katholischen Lerninstitutes sich lediglich damit zu begnügen hatten, ihm bloßes Rechnen beizubringen - Martha zelebrierte hingegen Mathematik! Er fühlte sich gehoben dadurch und sehr wichtig, da so eingeführt in die hohen Sphären des Geistes. Aber leider - es sei durchaus nicht verschwiegen - pflegte Martha eine Marotte. Die Kriegsläufte nämlich erforderten tätige Erbauung auch an der pädagogischen Front, und Martha stand nicht an, das Ihrige hierbei zu leisten. Sogleich, je nach aktuellem Verlauf der militärischen Frontlage, ließ sie in ihrem mathematischen Unterricht angemessene Lieder einüben, dergestalt etwa, dass man Frankreich siegreich schlagen wolle oder dass man gen Engelland fahren müsse, mit metallenem Gerät unter Wasser und nicht nur spaßeshalber - wobei er aber, leider, reuig einräumt, dass das mit dem metallenen Gerät und dem Spaß ihm nicht von Martha eingelernt wurde, sondern als ein eher eigenmächtiger Zusatz unpassender Art zu sonst durchaus authentischem Liedgut gewertet werden muß. Und weiter immer noch rollten die Panzer in Afrika vor. Spätere patriotische Lieder allerdings sind nicht erinnerlich - vielleicht daß die Läufte des Krieges sich mählich nicht mehr wirklich zu patriotischer Erbauung eigneten oder dass Martha deren müde wurde. Er weiß es nicht zu sagen. Mathematik erhielt wieder Vorrang. Daß übrigens das ältliche Fräulein Martha jenes Abzeichen mit dem Kreuz und den Haken an allen vier Balkan an ihrer jede Weiblichkeit kaum ahnen lassender Kleidung trug, mag nach allem aber nicht verwundern, und in der Mathematik leistete sie Tüchtiges. Daß das Fräulein Mia hingegen zu den Anfangsgründen des Englischen verurteilt blieb, sei angemerkt. Mit patriotischen Liedern hatte sie ohnehin nichts im Sinn, vertrat stattdessen die Sprache des plutokratischen Feindes ohne Haß und Arg selbst unter den Augen des gerahmt und ernst über ihr an der Wand hängenden, wachsam in Zukunft und Sexta blickenden Staatslenkers unter Scheitel und Strähne.

Betonen muß er nun allerdings in dieser Erinnerung und spätestens an dieser Stelle, dass es ihm keineswegs darum geht, das gesamte ehrwürdige gymnasiale Lehrpersonal freundlich oder gar weniger freundlich abzuhandeln. Da seien Anstand und Sitte davor! Denn was wohl wäre aus ihm geworden ohne seine Lehrer - und er meint es ehrlich ohne Spott und sonstiges albernes Getu. Aufrichtig zu danken also hat er, und danken will er, ein Denkmal setzen gegen alle Vergessenheit und Verzeihung üben auch gegen alle Marotten - ohngeachtet, dass diese letzteren in der Summierung ihren Anteil hatten an dem, was da drohend heraufstieg zu einem schrecklichen Ende. Aber glücklich der, der in gewissermaßen zivilisierten Zeiten wie heute ohne Anführer und fordernde Alleinpartei seinen Idiosynkrasien leben darf, ohne Unheil auf sich und die Welt herabzurufen! Denn so verhielt es sich damals nun einmal, dass jener Staatslenker und zu allem ermächtigte Anführer samt seiner alleinigen Staatspartei starke Bekenntnisse abforderte und deutliches Tun im Sinne seines Willens, welcher ja, wie weiter oben dargetan, die reinste Inkarnation des Volkswillens verkörpere. Und besonders aufgerufen hier zu starkem Bekenntnis und aktiven Tun war das pädagogische Personal - der Verhinderung möglicher Verderbnis gefährdeter junger Seelen wegen. Und überhaupt, anderes als solche Verhinderung hätte sich nicht gehört und ward also nicht geduldet. Es sei stets zu verweisen durch das Personal, begeisternd und enthusiastisch, auf die allen voranflatternde Fahne mit dem Kreuz und den Balken samt Haken an allen vier Enden, welche schließlich mehr sei als der Tod. Ihr nur habe man zu folgen.

Soviel in gebotener Kürze zu dem pädagogischen Programm des Anführers und seiner Alleinpartei. Aber er selber, entronnen seit längerem all dem samt Sexta und künftig Schlimmeren, weiß ja, dass vom sichren Port neuer Zivilität und bürgerlicher Normalität gemächlich Urteilen ist. Niemand also möge hochmütig moralisieren und verkennen die damaligen Nöte, Zwänge und Ängste. Wer also würfe den ersten Stein - wissend dabei natürlich um eigenes zu erwartendes makelloses Heldentum auch in schwieriger Zeit?

Genug davon.

Stattdessen nochmals und in Kürze der Studienrat Munderloh - Heinrich Munderloh, um genau zu sein. Diesem also, der stets bedacht war, seine sonor-baritonale Stimme als erster in der von dem Geistlichen Rat und Erzpriester Otto Rust des sonntags feierlich zelebrierten heiligen Handlung zum Lobe Gottes zu erheben - ohngeachtet freilich des vielleicht unbewußten Störfaktors in dem andächtigen Geschehen, personifiziert durch den oben droben auf der Orgel präludierenden und mächtig jubilierenden Kantor Otto in disparater Funktion - diesem also, dem Studienrat Munderloh, wäre es schlechterdings wohl nicht möglich gewesen, in seinem pädagogischen Tun anderes zu verkünden als Menschenfreundlichkeit und human Verständiges. Sein Beiname schon, "Gittegitt", deutete Abscheu an gegenüber allem Unappetitlichen und Widerwärtigen, also auch der prädominierenden braunen Farbe und deren Voranflattern.

Oder aber, beispielsweise, der Doktor Konrad Weisker. Stets korrekt in Anzug und Weste gekleidet, schien er der Inbegriff des gentleman, wiewohl gerade dieser zu jener Zeit nicht opportun, eher anrüchig und verdächtig erscheinen mochte. Sein Englisch also lehrte er, gentlemanlike, ohne Verzerrung und schiefe Verfälschung, obwohl es sich doch um die Sprache eines dem gerahmt und ernst exakt auch über dem Dr.Weisker in die Zukunft blickenden Anführer sehr feindlich gesonnenen Volkes handelte.

Der Dr. Weisker blieb korrekt und unbeirrt.

Er selber aber, der Kleine und so noch ziemlich Harmlose, der sich hier erinnert an die inzwischen untergegangenen Verhältnisse der kleinen Stadt Lüben in der preußischen Provinz Schlesien, will sich freilich davor bewahren, ein Bild zu zeichnen, welches den Dingen nicht gerecht würde, diese gar glorifizierte und emporstilisierte zu gloriosem Heldentum. Dem also soll durchaus so nicht sein, und früher schon war ja die Rede von dem unansehnlich flach gekleideten Fräulein Margarete Leupold, genannt Martha, und ihrem tüchtigen, wenn auch bedenklichen Unterricht in Mathematik mit kämpferisch patriotischen Liedern, gerichtet gen Engelland sowie zeitweilig gen Frankreich, ganz zu schweigen von den Panzern in Afrika.

Denn da war außerdem noch der Dr. Tötschlin, Karlmann Tötschlin oder auch einfach "Töppel", wie er schülermäßig intim und nicht ohne Sympathie geheißen war. Deutsch dozierte er wie auch Geschichte, und das nicht ohne Neigung, Verständnis und Einfühlung. Letzteres, betrüblicherweise, auch für die Zustände, will sagen: die neueren Zustände. Eher kränkelnd und beileibe nicht strotzend vor Gesundheit, hegte er neidende Bewunderung für das Starke, Heldische und Heroische. Solches zelebrierte er in seltsam anmutenden Formen des bereits Vergangenen, Überholten. Wandervogelartig und jugendbewegt kleidete er sich tagaus, tagein in Kniebundhosen, Wanderjacke mit offenem Schillerkragen - und dazu dann aber, unpassend und anachronistisch irgendwie, das neumodische runde Bekenntnis zu der Alleinpartei am Revers - samt Kreuz aus Balken mit Haken an allen vier Enden. Ging es also, beispielsweise, um die heroische Kampfzeit gegen das weimarische "System" der abgetanen Republik und überhaupt also um Deutsches, loderte ältliche Begeisterung flammend in jugendbewegten Augen. Um es so zu sagen: er war dennoch eher ein schwarz-weiß-roter monarchischer Revisionist und weniger ein glühender Anhänger der neuen Alleinpartei - trotz des demonstrierten Bekenntnisses zu ihr am Revers. Das Unheil freilich predigte er dennoch herbei, sah es aber natürlich nicht kommen.

Und er selber aber, der hier des Dr. Tötschlin einigermaßen ehrfürchtig gedenkt, muß nun bekennen, dass solches Tun und solch lodernde Vermittlungsmethoden des nationalen Gutes leider auch ihre Schwächen hatten dergestalt, dass sie einigermaßen erfolglos blieben - will sagen: sie waren einigermaßen langweilig. Und dennoch - so ist eben der Widersinn des Lebens - der Dr.Tötschlin war ein Pädagoge, der sich um die Schüler sorgte, wie er es verstand. Im übrigen erwarb er sich Verdienste um die historische Erforschung des Lübener Landes.

Und überhaupt, das möchte er hier einflechten, ist es so - und das auf fürchterliche Weise - dass es sich bei denen, die tätig Anteil nahmen an den Geschicken der kleinen und provinziellen Stadt Lüben in Schlesien bis zu deren unheilvollem Ende, dass es sich also bei diesen kaum um Böswillige, Verquere oder - um schlimmere Worte zu vermeiden - gar um Bedenkliche handelte, sondern eher um Gutgläubige, Wohlmeinende und Vertrauende. Gerade hierin aber liegt das Fürchterliche, das Entsetzliche - liegt die Schuld: Gläubigkeit und Vertrauen als Bedingung des Unheils zu katastrophalem Untergang

Zu gedenken hingegen ist, beispielsweise, des Oberstudiendirektors Karl Hassel - ein Widerbild zu Übungen in gläubig-frommer Begeisterung der vielen. Oberstudiendirektor - diesen Titel trug er, die Schule aber, die er hätte leiten müssen, war ihm genommen. Im Stil des damals Militärischen: degradiert war er zum simplen Lehrer für Mathematik und Physik am Realgymnasium zu Lüben, nun benannt als Oberschule ohne antiquiertes humanes Brimborium; seinen Titel, leer nun und ohne Funktion, durfte er immerhin behalten. Er hatte nämlich einen Fehler begangen, einen Fauxpas im Sinne des Verständnisses der neueren Umstände, sich also einst engagiert zu haben in freimauernder Aktivität zwecks Beförderung des Wohles der Menschheit besonders und der Humanität im allgemeinen. So etwas aber behagte dem Anführer nicht sonderlich und ebenso nicht seiner braunfarbenen Alleinpartei. Also war so etwas nicht länger tunlich und Hassel nicht länger erträglich. Denn Anführer wie Partei hielten es eher mit den Rassen, den tieferen und höheren nämlich. Hier wäre wieder zu erinnern an die bereits genannten Philippsberg und Engel, nicht zu vergessen Hirsch und dessen inzwischen arisierte Destille am Ring. Weil er dieses aber und auch Ähnliches nicht schätzte, hatte der Oberstudiendirektor seine Schule zu quittieren. Degradiert erteilte er nun Mathematik und Physik und hatte achtsam zu sein vor Alleinpartei und Anführer.

Er aber, der Kleine, inzwischen aufgestiegen zwar in die mittlere Stufe des Gymnasiums - Oberschule nunmehr - wenn er also etwas begriffen hätte damals von Distanz und Eleganz des Oberstudiendirektors Karl Hassel, hätte wohl bei einer an sich einfachen Episode wie der folgenden, belanglos gewiß und dennoch jene Zeit beispielhaft erhellend, ein weniger perplex unbegreifendes Gesicht gezogen, wie er es eben zog, weil er wirklich nichts begriffen hatte. Aus diesen Gründen also muß ein solch perplex unbegreifendes Gesicht erklärt und sogleich auch Verzeihung dafür erbeten werden.

Es war nämlich so: Karl Hassel, degradiert zu bloßer Mathematik und Physik, erteilte ihm, dem inzwischen in die mittleren Höhen gymnasialen Daseins vorgerückten Eleven, einen Auftrag, der ihn aus dem Klassenzimmer führte - wohl weil Hassel aus professoraler Vergesslichkeit eben wegen dieser Vergesslichkeit etwas vergessen hatte - korrigierte Hefte vermutlich oder dergleichen, um diese herbeizubringen. Es sei angemerkt: Aufträge dieser Art durften damals durchaus erteilt werden. Es traf ihn, den bereits zu mittleren gymnasialen Bildungshöhen Aufgerückten. Also erhob er sich aus seiner Bank, wandte sich zu der Tür, drehte sich um und, wohlerzogen wie er war und staatstragend im Sinn der Alleinpartei, hob er den rechten Arm zu jenem Gruße, den die Alleinpartei zum Heile des Anführers verbindlich für alle ersonnen hatte.

So weit, so schlecht und nicht außergewöhnlich. Und Karl Hassel, am Fenster seitwärts stehend, wandte sich ihm zu, feixte - soweit ein degradierter Oberstudiendirektor feixen durfte - irritierend und fragte schließlich durchaus freundlich, ob denn der so Beauftragte etwa nicht vorhabe, mit den Heften in das Klassenzimmer zurückzukehren. Er selber, der immerhin und noch immer Kleine, weiß jedenfalls deutlich, dass er angesichts der seltsamen Frage kein sonderlich intelligentes Gesicht gehabt haben müsse, sondern eher eines, welches auf das Gegenteil schließen ließ, ein perplexes eben und ein völlig unbegreifendes. Hilflos meinte er, dass er natürlich zurückkehren wolle. Und Hassel nur: wenn das so sei, brauche es doch nicht diesen Gruß, der so nach endgültigem Abschied ohne Wiederkehr klinge. Mehr war da nicht. So ging er dann, nicht mit erhobener Hand freilich, sondern eben perplex und mit Verwirrung im Kopf, holte die Hefte und kehrte, noch immer verwirrt, zurück.

Was sollte ihm diese lächelnde und freundliche Belehrung über den Gruß zum Heil des Anführers der Alleinpartei? Er wusste keine Antwort, noch lange keine, blieb also verwirrt, begann zu überlegen. Er hätte es nicht tun sollen. So nämlich schlich das unruhige Gift des Zweifels sich in seine kindliche Seele, nahm alle Sicherheit: ob es denn mit den Dingen, wie sie eingerichtet waren zum Heile des Anführers, alles seine Richtigkeit habe.

Karl Hassel, das spürte er, schien nicht einverstanden damit.

Hier sollen nun, wie schon betont, beileibe nicht alle Persönlichkeiten der Pädagogik an dem Realgymnasium zu Lüben, inzwischen also Oberschule, abgehandelt und durchgehechelt werden. Beileibe nicht! Aber er kommt nicht darum herum, einige Anmerkungen zu machen zu dem Sportpädagogen und Oberlehrer Gustav Zingel, genannt "Gustav". Auch zu wenigen anderen nicht - das sei sogleich zerknirscht, da die Geduld des Lesers strapazierend, eingeräumt. Gustav also, ein herzensguter Mensch, pensioniert längst, aber reaktiviert in Zeiten des Krieges und des pädagogischen Notstandes. Er war ein alter Mann und darum versehen mit geringer Autorität gegenüber den stets leicht aufsässigen Objekten erzieherischer Bemühung. Darüber allerdings soll hier nicht referiert werden, sondern nur, wie er solche Aufsässigkeiten zu bewältigen trachtete. Diese, naturgemäß, waren läppisch, kindisch und mitleidslos wie immer in diesem dummen Alter, und Mühungen zu ihrer Bewältigung, wie zu erwarten, blieben hilflos, verzweifelt. Gustav erregte sich leicht. Und in einer solchen, nicht weiter steigerbaren Erregung brach es aus ihm heraus, fäusteschüttelnd, wutentbrannt, schreiend: "Ihr Bolschewistenkinder!" - Bolschewistenkinder! Unerhört, beleidigend, entwürdigend diese fäusteschüttelnd wutentbrannte Verfluchung! Sie ziemte sich nicht, war überhaupt unmöglich und gewissermaßen gar verboten in Zeiten brüderlicher Feindschaft von Anführer, Scheitel rechts, Strähne links, und hartem Herrscher, finster und mit Revolutionsattitüde, aus den unendlichen Weiten des Ostens. Brüder nämlich im Geiste waren sie, mochten sich jedoch nicht, so führten sie Krieg miteinander. Und Gustav Zingel hatte das auf befremdliche Weise verinnerlicht - er wusste seine Feinde zu benennen.

Und trotz alledem - er blieb ein gutmütiger, hilfsbereiter, herzlicher, freilich auch staatsfrommer Mann. Seine Schüler mochte er, und sie dankten es ihm nicht, tobten sich aus mit ihren läppischen und mitleidslosen Streichen und glaubten, Mannhaftigkeit und Selbstbewusstsein zu demonstrieren. So fügte es sich für Gustav beinahe gnädig, dass er 1943, in einem Jahr schon längst nicht mehr des Herrn, von dieser Welt und von dieser Schule abberufen ward - das Erleben der Katastrophe, nicht zuletzt auch durch solch fromme Staatsgläubigkeit herabgerufen, blieb ihm gnädig erspart.

Nun noch - Verzeihung vorsorglich sei erbeten - der Studienrat Walter Kosmiensky; dieser ohne sonderlichen Beinamen, wie immer das auch zu erklären sein mag. Erstes Erinnern an ihn - belanglos natürlich wie ebenso alles andere hier Beschriebene - ist ein außerordentlicher pädagogischer Misserfolg des Studienrates, verübt an ihm, der in der zweiten Bank in englischer Lektion aufmerksam - dies in Grenzen wenigstens - vor jenem hockte. Es handelte sich hierbei um Vermittlung und Einprägung des irrealen Bedingungssatzes in dieser mittels großen Fleißes zu erlernenden Sprache. Der Kundige wird darum sogleich verstehen, welche Schwierigkeit, gepaart mit Interesselosigkeit, solches Anliegen des Studienrates bei den vor ihm Hockenden erwarten ließ. Das Problem des Irrealen sei dem Verständigen kurz umrissen: der Nebensatz, beginnend mit "if" und notwendigem Konjunktiv in dessen Prädikat, bedarf notwendigerweise des folgenden Hauptsatzes im Konditional. Dies, es sei betont, ist einfach, klar und einleuchtend und dem grammatikalisch Denkenden einigermaßen selbstverständlich und logisch. Jedoch, der Mißerfolg hier war einzigartig und im Ergebnis durchaus mangelhaft, um es gewissermaßen notenmäßig auszudrücken. Es sei aber nun ferne, hierfür dem Studienrat Kosmiensky allein und vor allem Schuld zuzuweisen - dies wäre durchaus nicht fair und sehr unanständig. In großer Aufrichtigkeit nämlich sei bekundet, dass schließlich mäßiges Interesse an Konjunktiv und Konditional als legitimes Mittel des Protestes gegen pädagogische Zumutungen selbst unter Bedingungen des Notstandes zu den vornehmen Rechten jedweden Objektes eben solcher Zumutungen anzusehen ist. Also wäre ein "Mangelhaft" sozusagen als gerecht und in Ordnung zu betrachten und der Studienrat als exkulpiert. Dies muß hier festgestellt werden. Denn weiter hatte dieser, der Studienrat eben, die andere Hälfte seiner pädagogischen Tätigkeit dem Sport zu widmen, und hier besonders dem zu Härte und Zukunft erziehenden Boxkampf. Und weil es um Härte und Zukunft ging, erteilte er dabei auch gleich treffende Lektion zu der Härte des sich wendenden Krieges. Man stand also im Kreis auf dem Schulhof um ihn herum, mächtig dick gefütterte Handschuhe bedrohlich an den Fäusten und flaue Angst im Magen. Inzwischen nämlich waren keineswegs mehr frohe Lieder zu siegreichem Vormarsch in alle Himmelsrichtungen wie einst im tüchtigen mathematischen Unterricht zu erlernen, sondern im Gegenteil, die Fronten des jüdisch-bolschewistischen Feindes, in perfider Verschwörung mit den plutokratisch und ebenfalls jüdisch versippten Angelsachsen widernatürlich verbunden, näherten sich allseits und bedenkliche Angst einflößend den Grenzen des Reiches. Nicht länger also ging es um frohe Lieder, sondern eher um einleuchtende Lektion und Erklärung zu allseits heranrückenden Fronten. Jedoch sei eingeräumt, dass solche umfassenden strategischen Überlegungen dem Studienrat durchaus ferne lagen; er beschränkte sich stattdessen auf das Nächstliegende, unmittelbar Drohende, also auf das gewissermaßen bloß Taktische, nämlich auf die also sehr einleuchtende Lektion, dass doch die Rücknahme der eigenen Soldaten in Richtung Heimat eigentlich von größtem militärischen Vorteil sei, verkürze sie doch die Nachschublinien um Erkleckliches, und die für den Endsieg rollenden Räder würden erheblich geringer beansprucht.

Er möchte nun aber sagen, dass eine derartige taktische Lektion ihm durchaus willkommen war, ging davon doch die Zeit ab, welche eigentlich bestimmt war für schmerzhaftes Aufeinanderschlagen mit den mächtig dick gefütterten Handschuhen und flauem Magen. Freilich, die nun eigentlich logisch folgende notwendige Frage, warum man denn dann überhaupt soweit voranmarschiert sei, wurde nicht gestellt, und das Boxen nahm seinen geboten schmerzhaften Verlauf.

Heute aber hegt er die beinahe zwingende Vermutung, dass der Studienrat Kosmiensky überhaupt keine Lektion erteilen wollte auf Kosten des Boxens, sondern dass er vielmehr Trost suchte für sich vor dem Herannahenden und den eigenen Ängsten und dass er die boxenden Eleven nur benutzte als Staffage und Vorwand, sich selbst zu beruhigen und zu besänftigen angesichts der heranrückenden Katastrophe. Soweit nämlich war es gekommen mit dem Widersinn der Zeit, und der Studienrat Walter Kosmiensky war zerrissen zwischen seinen irrealen Bedingungssätzen, dem gebotenen Boxen und der herannahenden Weltverschwörung aller böswilligen Feinde.

Das Erinnern aber ufert aus, läuft aus dem Ruder - er weiß es. Kaum traut er sich, wiederum um Verzeihung zu bitten, fürchtet er doch, es möchte nochmals sich wiederholen. Allzu viel Ersuchen nämlich stumpft ab, wirkt wenig glaubwürdig und verärgert jene, deren geneigtes Wohlwollen er doch heftig ersehnt. Aber es hilft nichts, denn es muß noch gedacht werden des schon genannten Studienrates Paul Fiedler aus der ebenfalls schon genannten Dragonerstraße. Auch darf nicht vergessen werden, abschließend ein Wort zu sagen zu dem Oberstudiendirektor Erwin Vetter aus dem Direktorenwohnhause nebenan. Dann aber soll und muß definitiv Schluß sein mit der Abhandlung des pädagogischen Personals des städtischen Realgymnasiums, nunmehr Oberschule, zu Lüben in der preußischen Provinz Schlesien des Deutschen Reiches. Definitiv soll Schluß sein damit. Ohnehin neigt sich alles dem katastrophalen Ende zu: diese Geschichte wie auch Ruhm und Ansehen des Anführers. Die feindliche Weltverschwörung näherte sich bedrohlich, die Städte sanken in Trümmer, die Zahl der Toten stieg und stieg, die nackte Existenz wurde schwierig und unerträglich. Eilfertig herausgegebene Anordnungen und Befehle zu retten, was zu retten war - vorzüglich wohl auch das Leben des Anführers und seiner Paladine - und bedrohende Forderungen zu heftigster Anstrengung diesbezüglich zeigten nicht länger Wirkung. Das Ende nahte unerbittlich, das Menetekel schrieb sich an die Wand.

Paul Fiedler also. Erwähnung fand er schon als neuer Nachbar schräg gegenüber in der Dragonerstraße bei dem Einzug des kleinen Erdenbürgers aus dem Augustaheim - oder sollte es eher umgekehrt gewesen sein, dass er, der Kleine von dort, vielleicht der neue Nachbar wäre? Wir wollen das dahingestellt sein lassen und großmütig derartige Status- und Protokollfragen als hier unergiebig beiseitelegen. Es genüge, dass Nachbarschaft bestand zwischen ihm und Paul Fiedler seit frühester Jugend. Nicht, dass es da Beziehungen gegeben hätte - dafür war er selbst nach eigener Einschätzung noch viel zu unbedeutend, als dass Paul Fiedler hätte von ihm Notiz nehmen können. Solches ergab sich erst später, im Gymnasium nämlich, in welchem Paul Fiedler das strenge Lateinische und andere sprachliche Fächer, aushilfsweise gar Musik wegen des längst eingetretenen pädagogischen Notstandes, zu unterrichten pflegte. Letztere, die Musik, ereignete sich freilich in wenig theoretisch, mit Notenschlüsseln aus Kreide an der Tafel und vielen Tonleitern gleichermaßen. Kein affektives Klangerlebnis aus Harmonie, Polyphonie oder auch Kontrapunkt war zu erleben - auch hier primär des pädagogischen Notstandes wegen. Und so blieb der Musikunterricht ohne begeisternden Erfolg. Im übrigen pflegte er ein leicht skurriles Erscheinungsbild, und das gab Anlaß zu manch spöttischem Beinamen, einerseits zutreffend eben wegen des Bildes, das er bot, andererseits aber dumm und sehr ungerecht angesichts der Persönlichkeit, die er war - besonders in jener Zeit war. Zutreffend zunächst wegen seines gewohnten Anzugs: irgendwie konfirmandenmäßig mit engen dunkelblauen und etwas knappen Röhrenhosen und gleichfarbigem Jackett eng über der Brust und unvermeidbar stetem Spazierstock in der Rechten. Er wollte sich durchaus nicht fügen in das Bild vorherrschender "Zackigkeit" mit den vielen Uniformen und viel brauner Farbe. Er schien anachronistisch wie die seinerzeit längst geschlossene katholische Bildungsanstalt und also in den Augen der stets Angepassten spießerhaft - darum auch sein Übername. Er traf aber nicht. Denn Paul Fiedler war, neben Karl Hassel, einer von denen, die sich nicht hatten vereinnahmen lassen von dem herrschenden Geist der Zeit, einer von den wenigen, die ihre geistige Freiheit bewahrt hatten.

Ihm selber, dem Knaben vorgerückt der Jahre wegen in die mittleren Gymnasialklassen, ist auf irritierende Weise Folgendes erinnerlich: mehrfach begegnete man dem Studienrat bei seinem Spaziergang in der Breiten Straße - verwiesen hier sei wiederum auf vergilbte Stadtpläne zwecks stadtgeographischer Orientierung. Man grüßte ihn - Zeitgeist wie Zackigkeit erforderten es - ehrerbietig mit ausgestrecktem rechten Arm zum Heile des Anführers und seiner Alleinpartei.

Das war politisch höchst korrekt.

Dieser aber, der Studienrat Paul Fiedler, zu größter Überraschung verzog degoutant sein Gesicht, hob mit müde angewiderter Miene seinerseits den rechten Arm, übergab den gewohnten Spazierstock jedoch keineswegs dem linken, sondern ließ ihn mit der Krücke am rechten Daumen hängen, so dass sein Dankesgruß eben ausreichte, die Hand samt Stock angewinkelt gerade noch bis zur Höhe der Brust unter dem engen Konfirmandenanzug zu heben und keineswegs bis zu gebührlicher und angemessen ausgestreckter Höhe des Armes. Dazu verzog sich, wie gesagt, das Gesicht in degoutantem Widerwillen.

Das war politisch höchst inkorrekt.

Was also dachte der Studienrat? Man weiß es freilich nicht, kann nur mutmaßen. Gedachte er, möglicherweise gar auf lateinisch, der Gladiatoren in der Arena und ihres der Neuen Zeit des Anführers so sehr ähnelnden Grußes: "Ave, Caesar! Morituri te salutant!" - also auf deutsch und sozusagen in dem Sprachduktus des Anführers: "Heil Dir, Kaiser! Die dem Tode Geweihten, sie grüßen Dich!"

Wie gesagt, man weiß nicht, was er dachte, muß also mutmaßen. Abwegig aber wäre solche Mutmaßung nicht. Was denn sonst hätte er wohl denken sollen bei soviel Zackigkeit und Heilgerufe und caesarischer Ähnlichkeit? Natürlich, man muß dazu des Lateinischen mächtig sein, der Verständlichkeit wegen. Aber der Studienrat war dessen mächtig, berufsmäßig schon und auch sonst.

Er selber aber, seinerseits so grüßend und nun betroffen von der Asymmetrie zwischen Gruß und Dank, verharrte irritiert, perplex und wieder nichts begreifend. Später erst und um einiges klüger geworden, sah er die Parallelität zwischen dem einst verwehrten Gruß des Oberstudiendirektors Karl Hassel und der müden Dankesgeste des Studienrates Paul Fiedler. Beide hatten wenig im Sinn mit den Marschkolonnen und den Uniformen und den Fahnen und mit deren Macht sowieso.

Er begriff das aber, wie angedeutet, erst später.

Es bleibt der Oberstudiendirektor.

Es wird eingeräumt: Erwin Vetter hatte kämpferisch sich engagiert bei der braungefärbten Partei des Anführers schon lange vor dem Ableben des greisen Reichspräsidenten. Zu Erinnerung: jener Tag unendlichen Regens, der naß und schlapp an die Häuserwände klatschenden Trauerfahnen. Und zuvor: die Betrauung des anderen, des Anführers also, mit verfassungsmäßiger Macht im Reiche durch diesen Präsidenten. Wahlen ein letztes Mal noch - dann abgeschafft, der Abneigung des neuen Anführers wegen; er hielt nichts davon. Ein letztes Mal also noch - danach die Inkarnation des reinsten Willens des Volkes in den voluntaristischen Wöllungen des Anführers. Und Erwin Vetter engagierte sich für den Anführer. Das muß eingeräumt werden - bedauerlicherweise.

Er wurde also Direktor am Gymnasium zu Lüben, demnächst Oberschule. Am Revers trug er wie selbstverständlich das runde Abzeichen mit dem Kreuz samt Haken an allen vier Balken. Dies scheint bedenklich, betrachtet von heute.

Doch blieb er widersprüchlich.

Er besaß nämlich Autorität, persönliche, genoß Respekt und Achtung, wirkte ohne Lautheit und Strafen. Des Zeichens am Revers hätte es nicht bedurft. Er selber, der halbwegs um Bildung Beflissene in der oberen Tertia - Höheres, wie schon früher angemerkt, würde es ja bald nicht mehr geben - erinnert sich der lateinischen Lektionen des Oberstudiendirektors: "de bello Gallico" als einigermaßen vormoderne Lektion in früher PR-Technik des Militärischen, deshalb und gerade darum interessant angesichts gegenwärtiger Umstände. Pauken, unerbittlich und zäh, ließ er die Grammatik, den AcI, den Ablativus Absolutus, Gerundium und Gerundivum und besonders die unregelmäßigen Verben. Man mag die Methode kritisieren, nachhaltig und auf Dauer angelegt jedenfalls wirkte sie, und er selber, höchst persönlich sozusagen, möchte eigentlich Dankbarkeit bekunden, dass das alles seinem Hirn noch heute gegenwärtig ist. Das Lateinische nämlich findet er schön, biegsam im Ausdruck und logisch im Durchdenken menschlicher Existenz. Dankbar also sei der, dem solches einst vermittelt wurde sogar in Zeiten des eigentlich Inopportunen.

Erwin Vetter, beeindruckend und widersprüchlich, vielleicht sogar gefährdet, äußerlich sichtbar schon: von Nikotin gelblich verfärbte Finger, des öfteren nicht zu übersehende Müdigkeit im Unterricht, ein Bein gesetzt auf dem Stuhl hinter dem Pulte, den Arm abgeknickt auf dem Knie ruhend mit aufgestütztem Kinn. War es so, dass hinter der Fassade von Parteizugehörigkeit und Pflichterfüllung sich eine Spannung verbarg, die, wie so oft, besonders von intellektuell bestimmten Menschen nicht aufzulösen ist? Die vor ihm Sitzenden begriffen es ohnehin nicht, ahnten allenfalls das Inkongruente der Person, konnten aber keine Antwort darauf finden.

Jedoch achteten sie den Oberstudiendirektor Erwin Vetter, ahnten vielleicht etwas von der Ambivalenz in ihm. Und übrigens: wer von den heute Lebenden besäße nicht ebenfalls etwas von jener Ambivalenz? Glücklich aber diese Heutigen, denen Beherrschung und Bewältigung solcher Zweideutigkeit erspart ist wegen der Gnade ihrer späten Geburt.

Er selber jedenfalls hält den Oberstudiendirektor Erwin Vetter in Achtung und gutem Gedächtnis. Zehn Jahre später, als German Assistant Teacher an der Colfe´s Grammar School in der großen Stadt London trat er in brieflichen Kontakt mit ihm, aus Dankbarkeit sozusagen, und der Oberstudiendirektor antwortete ihm mit der Anrede: "Lieber Herr Kollege!"

Das gefiel ihm.