Dr. Erwin Vetter (1888-1967)
Letzter deutscher Direktor des Gymnasiums / der Oberschule Lüben
Paul Fiedler (1890-1957)














Die Lehrer des Gymnasiums Lüben Mitte/Ende 1930er
Von links, sitzend: Studienrat Heinrich Munderloh (Gittigitt), Studienrat Dr. Albert Krusche (Zassel), Studienrat Dr. Konrad Weisker (Bottel, Peff, Favour), Oberstudiendirektor Dr. Erwin Vetter (Chef, Direx), Oberlehrerin Margarete Leupold (Marta), Mittelschullehrerin Maria Schoen (Mia), Studienrat Dr. Martin Treblin (Trebbel); stehend: Studienrat Paul Fiedler (Spießer, Fifi, Collegio), Oberlehrer Friedrich-Wilhelm Halfpaap (Papen), Studienassessor Göbel, Studienassessor Erich Scheffler (Isidor), Studienrat Hans Schumann. Dank für das Foto an Hans-Werner Jänsch! Weitere Fotos!

Auszüge aus Erwin Vetters Personalakten

Die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) erforscht und bewahrt die deutsche Bildungsgeschichte. Die digitalisierten Personalunterlagen von Lehrerinnen und Lehrern an Volksschulen und höheren Schulen Preußens sind öffentlich einsehbar. Die hier vorgestellten Auszüge aus den Personalakten von Erwin Vetter sind auf der Website des BBF vollständig und in höherer Auflösung zu betrachten.


Erinnerungen von Lübener Gymnasiasten an ihren Direktor Dr. Erwin Vetter

In memoriam Erwin Vetter
Leopold Beyl 1967 im Lübener Heimatblatt 15/1967

Im Gedenken an den verstorbenen Oberstudiendirektor i. R. Dr. Erwin Vetter, der am 19. Juli seinen 79. Geburtstag gehabt hätte, will ich über ein Schulerlebnis berichten, das zeigt, aus welchem Grunde er von seinen Schülern verehrt und geliebt wurde, obwohl er streng war, ihm durch Phrasendrescherei Kenntnisse nicht vorgetäuscht werden konnten und er sich - zu meiner Schulzeit wohl als einziger Lehrer - bei Klassenarbeiten nicht hinters Licht führen ließ. Er stellte sich nämlich so geschickt seitlich, daß er jeden Platz genau überblicken konnte und ein Abschauen nicht möglich war. Außerdem nahm sein gutes Gehör das leiseste geflüsterte Wort wahr, so daß es fast unmöglich war, sich unbemerkt mit dem Nachbarn oder Vordermann zu unterhalten.
Es war im Schuljahr 1928, Klassenlehrer der damaligen Unterprima des Lübener Realgymnasiums (Unter- und Oberprima waren noch Gymnasium, die übrigen Klassen bereits Oberschule), war Studienrat Dr. Erwin Vetter. Er hatte nicht, wie die anderen Lehrer, einen Spitznamen, sondern wurde von uns Schülern, wenn wir unter uns waren, nur bei seinem Vornamen "Erwin" genannt. Aus dieser Bezeichnung geht schon hervor, daß wir ihn im Unterbewußtsein als Freund und Kameraden betrachteten. Wir spürten, daß er im Herzen jung geblieben war und uns verstand.
Zu dieser Zeit waren in mehreren Klassen die Landkarten - in jedem Klassenraum hing eine andere - durch böse Bubenhände beschädigt worden, ohne daß es gelungen war, der Täter habhaft zu werden. Es wurde deshalb den Schülern jeder Klasse zur Pflicht gemacht, auf die Karten besonders aufzupassen.
Eines Tages bekamen wir heraus, daß unsere Landkarte für den Unterricht in einer anderen Klasse benötigt wurde. Offiziell wurden wir bzw. unser Klassenältester davon nicht unterrichtet. Da der Studienrat, der in der betreffenden anderen Klassen den Erdkundeunterricht gab - der Studienrat der WOTTE und TATTEN, bei dem man in der BIBBEL gutt Bescheid wissen mußte -, bei uns unbeliebt war, wollten wir ihm bei dieser Gelegenheit eins auswischen. Als Opfer war der arme Schulkamerad ausersehen, der die Landkarte holen mußte.
Wir kamen überein, den Holer der Karte als Kartendieb oder -beschädiger zu betrachten und ihn zu verprügeln. In der Pause vor der betreffenden Erdkundestunde hatten einige handfeste Kameraden in der Klasse das Opfer zu erwarten, während die anderen den Schulhof aufsuchen mußten.
Das arme Opfer, wer es war, weiß ich nicht mehr, wurde über eine Bank gelegt und durchgewalkt. Dabei wurde auch sein Füllfederhalter zerschlagen. Die Tinte beschmutzte die Kleidung (die Sachbeschädigung war nicht beabsichtigt, zumal zur damaligen Zeit ein Füllfederhalter ein kostbarer Besitz war; nur wenige besaßen dieses Schreibgerät). Nach der Tat verkrümelten sich die Täter schleunigst. Da sie dem Opfer wohl die Jacke von hinten über den Kopf gezogen hatten, blieben sie unbekannt. Die Aufregung war in der Schule riesengroß, vor allem bei den Lehrern. Der damalige Direktor Erich Tscharntke beauftragte den Klassenlehrer Studienrat Vetter mit der Untersuchung.
Als er fragte, wer der Täter gewesen sei, standen wie ein Mann alle 22 Unterprimaner einschließlich der Geschwister Irmgard und Robert Treutler auf, denen kein Lehrer diese schändliche Tat zugetraut hätte. Erstaunt redete er Irmgard an: "Auch Sie, Fräulein Treutler?", und als sie fest erwiderte: "Ja", blieb ihm die Spucke weg!
Diese Geschlossenheit der Klasse und das Einstehen aller für die Tat fand sein volles Verständnis. (Wir blieben natürlich bei unserer Behauptung, nur den Raub der Landkarte haben verhindern zu wollen.) Er muß sich danach für seine Klasse sehr eingesetzt haben, denn statt einer empfindlichen Strafe, die für einige sogar den Verweis von der Schule hätte bedeuten können, geschah nichts. Seit dieser Zeit liebten wir unseren "Erwin" noch mehr!


Nachsitzen cum laude
von Günther Grabmann im Lübener Heimatblatt 1/2000
Sohn des Inhabers der Eisenwarenhandlung ehem. Wildenhof in der Breiten Str. 2/3

Der letzte Leiter der Lübener "Städtischen Oberschule für Jungen" (so die ab 1937 geltende amtliche Bezeichnung), Oberstudiendirektor Dr. Erwin Vetter, war ein gar gestrenger Pädagoge. Dass er dazu noch die Position des in diesen autoritären Zeiten allgewaltigen Schulchefs innehatte, steigerte unseren Respekt vor ihm weit über das gebotene Maß hinaus. Je nach psychischer Einzelkonstitution zeigten sich bei dem (der) einen oder anderen der ihm anvertrauten Herde sogar schon mal Anzeichen panischer Angst. In seinen Unterrichtsstunden pflegte Totenstille zu herrschen. Da hätte sich keiner auch nur zu räuspern gewagt. Und dann durfte ausgerechnet ich, der ich eher der Gruppe der Verängstigten zuzurechnen war,- eine Erfahrung machen, die ich nicht für möglich gehalten hätte; so sehr hatte sich bei mir die in der Furcht vor dem Gestrengen gründende Meinung über seine Unnahbarkeit bereits verfestigt. Diese Erfahrung ließ mich unseren "Chef" fürderhin jedoch mit ganz anderen Augen sehen.
Und das kam so: Wegen eines "Verstoßes gegen die Schulordnung", wie es so schön hieß (ob es wirklich einer war, entzieht sich meiner Erinnerung), diktierte der Unerbittliche mir drei Strafstunden zu, die ich am Exekutionstag von  14 bis 17 Uhr in der Schule abzusitzen hatte; natürlich nicht tatenlos, o nein! Erwin gab mir ein gesalzenes Aufsatzthema, bevor er in sein Allerheiligstes entschwand und mich meinem Schicksal überließ. An Verweigerung oder auch nur laxe Ausführung des Auftrags wagte ich nicht eine Sekunde zu denken. Im Gegenteil! Mit sklavischem Eifer machte ich mich unverzüglich ans Werk, ängstlich darauf bedacht, Erwins Unmut nicht noch zu steigern. Außerdem verging beim schöpferischen Werken ja die Zeit auch rascher.
Kurz bevor die Uhr des nahen Kirchturms 17 Uhr anzeigte, war die Arbeit getan, die Reinschrift, ordentlich in Schriftbild und Inhalt, wie ich meinte, lag vor mir auf dem Schreibpult. Doch ich wagte zunächst nicht, mich vom Fleck zu rühren, der hohe Herr konnte je jeden Augenblick erscheinen! Erst als die Uhr längst geschlagen hatte und sich immer noch nichts rührte, glaubte ich, mir am Fenster ein paar tiefe Züge frische Luft genehmigen zu dürfen. Da ging die Tür auf und sofort prasselte ein furioses Donnerwetter auf mich herab: "Was fällt Ihnen ein, hier faul herumzustehen, anstatt die Arbeit zu erledigen, die ich Ihnen aufgetragen habe?" Was sonst noch folgte, erreichte mein Ohr in der Betroffenheit über den ungerechten Tadel und in der sofort wieder in mir aufkeimenden Angst kaum noch, mein mit dem Mut der Verzweiflung gestammelten Einwand: "Herr Direktor, es ist schon fünf nach fünf, ich habe wirklich bis zur letzten Minute gearbeitet", wurde nicht zur Kenntnis genommen. "Erwin" nahm die säuberlich aufgeschichteten Blätter an sich und verließ, ungnädig grollend, das Klassenzimmer. Das erlösende: "Sie können gehen!" erreichte mich gerade noch vom Flur aus.
Am nächsten Vormittag geschah dann das Wunder, das mich so überraschte, weil es mir den von mir (und vielen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler) so gefürchteten Schulleiter plötzlich als warmherzigen Menschen offenbarte, der nicht nur fehlbar war wie alle Menschen, sondern sich auch nicht scheute, seine Fehlbarkeit gegenüber einem unbedeutenden Schüler einzugestehen. Als wir nämlich von der Hofpause kommend auf der Treppe unseren Klassenzimmern zustrebten, ging Erwin plötzlich wie zufällig neben mir. Er zupfte mich leicht am Ärmel und sagte leise zu mir: "Grabmann, ich habe Ihnen gestern Unrecht getan. Sie waren doch recht fleißig. Wäre das ein Klassenaufsatz gewesen, hätten Sie darauf eine gute "Zwei", vielleicht gar eine "Eins" bekommen."
Dieses Erlebnis hat mich tief beeindruckt, ja geradezu beglückt, weil damit an die Stelle meiner beklemmenden Angst bewundernde Hochachtung für unseren gestrengen Chef trat. Mit der Schilderung dieses Geschehens, das nun 56 Jahre zurückliegt, möchte ich dem verdienten Schulmann, der heuer 112 Jahre alt geworden wäre, meine ungebrochene Verehrung bekunden. Ich bin überzeugt, dass es der Mehrzahl der Ehemaligen, die ihn als Lehrer erlebt haben, keine Überwindung kosten wird, sich ihr anzuschließen.


Aus einer Artikelserie "Von der Lateinschule bis zum Gymnasium Lüben"
von Hans-Werner Jänsch, Lübener Heimatblatt 2015

... Trotz gewisser Bedenken habe ich mich entschlossen, hier nun über eine Episode zu berichten, die sich an einem Samstagabend Ende Oktober oder Anfang November 1942 zugetragen hat. Die Bedenken sind nicht nur dem Umstand geschuldet, dass ich sie nicht schildern kann, ohne die (allerdings allseits bekannt gewesene) Schwäche unseres verehrten Schulleiters für einen guten Tropfen zur Sprache zu bringen, sondern weil ich auch nicht umhinkomme, mein eigenes zweifelhaftes Verhalten bei diesem Vorkommnis zu offenbaren. Dazu sei erwähnt, dass das Stammlokal unseres Direx das Hotel Grüner Baum war (das erste Haus am Platze). Sein fast täglicher Hin- und Heimweg führte durch das schmale etwas düstere Kirchgässchen. Unter uns Schülern kursierte deshalb unausrottbar, weil ständig an die nächste Generation weitergegeben, das geflügelte (abgewandelte) Schiller-Wort: "Durch diese hohle Gasse muss er kommen, es führt kein andrer Weg ... zum Grünen Baum."
Ich stelle meine Bedenken nach reiflicher Überlegung aber aus zwei Gründen zurück. Einmal, um eine Vermutung zu äußern, die sich mir erst beim Schreiben dieser Zeilen aufgedrängt hat. Die Vermutung nämlich, dass, wenn ich seinen völkischen Werdegang, seine Vaterlandsliebe, seinen Idealismus und sein untadeliges redliches Verhalten bedenke, die Alkoholexzesse, denen er sich neuerdings hingab, ihren Grund durchaus darin gehabt haben könnten, dass ihm plötzlich bewusst geworden ist, sein Vertrauen einem Scharlatan geschenkt zu haben, der nun dabei war, das Vaterland menschenverachtend in einem barbarischen ungewinnbaren Krieg zu ruinieren. Zum andern aber auch, damit Leser dieser Zeilen, die nicht zur Erlebnisgeneration gehören, einen Einblick in die aus heutiger Sicht obskuren Zustände erhalten, die damals in dem vom Krieg gebeutelten Nazistaat herrschten.
Alsbald nach Hitlers Machtübernahme sollte nämlich nach Absprache zwischen der Reichsjugendführung und der Führung der SS in der Hitlerjugend reichsübergreifend ein "HJ- Streifendienst" eingerichtet werden und zwar im Bereich jedes Bannes (in der Regel räumlich identisch mit den kreisfreien Städten und Landkreisen) als geschlossene Sonderformation in Gefolgschaftsstärke (etwa 45 bis 50 Mitglieder). Seine Aufgabe sollte zunächst sein, das Auftreten der Jugendlichen in der Öffentlichkeit zu überwachen, unkorrekte Uniformierung zu beanstanden, Alkoholgenuss und unerlaubten Lokal-, Kino- und Theaterbesuch zu unterbinden, Ordner- und Wachdienste bei Großveranstaltungen zu übernehmen sowie auf Ordnung und Sauberkeit in den HJ-Heimen zu achten. Polizeiliche Befugnisse sollte er allerdings nicht haben.
Die Realisierung dieses Vorhabens klappte freilich nur schleppend, und wenn, dann überhaupt nur in den größeren Städten. Dort, wo solche Sonderformationen des HJ-Streifendienstes entstanden, wurden sie ab 1938 zu Nachwuchsorganisationen der SS erklärt und mit weitergehenden Befugnissen betraut, sowie zur Zusammenarbeit mit Polizei, Gestapo und SD verpflichtet. In Lüben jedenfalls ist es zur Bildung einer solchen Sondereinheit nie gekommen. Hier waren lediglich ein paar ältere und körperlich robuste HJ-Angehörige zum Streifendienst eingeteilt und zu diesem Zweck mit einer weißen Armbinde mit der Aufschrift "HJ-Streifendienst" ausgestattet. Eine Einweisung in ihren Aufgabenbereich gab es nicht.
Nachdem im Lauf der Zeit alle Angehörigen des Lübener HJ-Streifendienstes zum Kriegsdienst einberufen worden waren, musste der für den Kreis Lüben zuständige HJ-Bannführer eine Lösung finden. Unter den gegebenen Umständen blieb ihm nichts anderes übrig, als auf "zuverlässige systemtreue" jüngere HJ-Angehörige zurückzugreifen.
Und dabei fiel (sicher illegitim, wie ich heute vermute) seine Wahl auch auf mich, obwohl ich doch trotz meines Alters von 17 Jahren formal noch Angehöriger des "Jungvolks" war und dessen Uniform trug. Darüber machte ich mir damals freilich keine Gedanken, da waren Befehle einfach zu befolgen. In meiner naiven Eitelkeit fühlte ich mich sogar geehrt. Und wie der Zufall es so wollte, befand er auch meinen gleichaltrigen Cousin, der bereits der eigentlichen Hitlerjugend angehörte, als für diesen Sondereinsatz geeignet und ordnete ihn mir als Streifenpartner zu.
So zogen wir denn naiv, dafür umso großspuriger, vorwiegend an den Samstagabenden los. Dabei beschränkte sich unser Agieren vor allem auf die Überwachung der beiden Lübener Kinos, um zu unterbinden, dass Jugendliche unter achtzehn hineingelangten, die sich nicht in Begleitung eines Erwachsenen befanden. Außerdem -pro forma - auch auf die Beobachtung der Jugendlichen, die nach altem Brauch täglich so ab 16 Uhr den Ring getrennt nach Geschlecht in gegenläufiger Richtung zu umrunden pflegten, sich dabei gegenseitig neckend und Kontakte anbahnend.
Und damit nun - wie oben angekündigt - zu besagtem Samstagabend. Nach einem Kontrollbesuch in Schusters Lichtspielhaus Deli in der Bahnhofstraße, es mag gegen 20:30 Uhr gewesen sein, wollten wir noch einen Blick auf den Ring werfen und wählten dafür den Weg durch das Gässlein, das von der Bahnhofstraße über die Faulhaberstraße, vorbei an Alumnat und Penne, zur Kirchgasse führte. Jahreszeitlich bedingt - und weil aufgrund der seit Kriegsbeginn geltenden Verdunkelungsanordnung auch weder Laternen brannten noch aus irgend einem Fenster ein Lichtstrahl fiel - war es stockdunkel. Kaum hatten wir in der engen Kirchgasse den Bogengang, der Kirche und Kirchturm verbindet, unterquert, hörten wir ein Stöhnen und konnten in der Dunkelheit eine Person erkennen, die halb auf der Straße liegend, mit dem Oberkörper an der Kirche lehnend vor sich hinröchelte.
Der Weg vom Hotel Grüner Baum zum Direktorhaus

Mein vorausgehender Cousin beugte sich über die Person, richtete sich erschrocken wieder auf und raunte mir völlig verdattert zu: "Mensch, Dein Chef!". Mir fuhr ein Schreck in die Glieder und hektisch begann ich zu überlegen, was am besten zu tun sei. Meine pulsierenden grauen Zellen produzierten ein Wirrwarr von Möglichkeiten. Schließlich obsiegte (leider) die Überlegung, dass dem Gestrauchelten wohl am besten gedient sei, wenn ihm die Peinlichkeit erspart bleibe, von einem Schüler in diesem desolaten Zustand bei der Ehefrau abgeliefert zu werden und dem Kerl dann wohl oder übel auch noch Dank zu schulden. Also entschied ich mich für die uns einfachste und bequemste Variante: "Komm", sagte ich, "lass uns abhauen." Gesagt getan, das immerhin aber mit schlechtem Gewissen. Und selbst nachdem ich mich am darauffolgenden Montag davon überzeugen konnte, dass der Herr Schulleiter durchaus imstande war, seinen Unterricht - augenscheinlich unversehrt - abzuhalten, ließ es sich nicht beschwichtigen. Und das bis zum heutigen Tage nicht!


Nach so vielen anrührenden Erinnerungen abschließend einige Informationen über den Lebensweg von Erwin Vetter, zusammengestellt aus einer Vielzahl von Artikeln des Lübener Heimatblattes zwischen 1958 und 1996.
Der letzte Oberstudiendirektor und Leiter der Oberschule zu Lüben, Dr. Erwin Vetter, wurde am 19. 7. 1888 in Lauban geboren, legte 1908 sein Abitur dort ab und studierte von 1908 bis 1914 an den Universitäten Göttingen, Berlin und Halle Germanistik, Geschichte und alte Sprachen. Im April 1914 legte er das 1. Staatsexamen ab. Der Vorbereitungsdienst führte ihn an das Gymnasium in Gleiwitz. Von 1914 bis 1918 nahm er am 1. Weltkrieg teil und kehrte als Leutnant der Reserve heim. Während dieser Zeit war er Referent der Presseabteilung Ost. Nach Kriegsende war er am Reform-Realgymnasium in Görlitz und legte dort Juni 1919 seine 2. Staatsprüfung ab.
Am 1. September 1919 kam er als Studienassessor an das Realgymnasium nach Lüben. Am 29. September des gleichen Jahres heiratete er seine, ebenfalls aus Lauban stammende Frau Hanna, die viel zu früh, am 28. Januar 1955 verstarb. Aus dieser Ehe sind die beiden Töchter Edeltraut und Ilse hervorgegangen.
Am 1. April 1926 wurde Dr. Erwin Vetter zum Studienrat ernannt und am 14. März 1935 übernahm er die Leitung der Oberschule zu Lüben mit gleichzeitiger Ernennung zum Oberstudiendirektor.
Nebenamtlich war Erwin Vetter vielseitig tätig. So stellte er sich während der Abstimmung in Oberschlesien zur Verfügung, er gründete mit anderen den VDA (seit 1933 Volksbund für das Deutschtum im Ausland), er interessierte sich für die Aufgaben des Heimatschutzbundes. Bis 1933 war er Schriftführer des Bürgervereins. Nachdem die Nazis den langjährigen Lübener Bürgermeister Hugo Feige 1933 aus dem Amt gejagt hatten, wurde Erwin Vetter kommissarischer Bürgermeister der Stadt Lüben. Das Referat Promenaden führte er von 1929 bis 1933 als Ratsherr. Dass nur er und sein Kollege Dr. Martin Treblin auf dem Foto oben das Parteiabzeichen der NSDAP tragen, beweist nichts weiter, als dass er sich zu einem Zeitpunkt für die falschen Ideale engagiert hat, als noch die wenigstens ahnten, in welche Verbrechen dieses System Deutschland und die Welt stürzen würde. In welche Konflikte Erwin Vetter geriet, hat Hans-Werner Jänsch angedeutet.
Sein Fluchtweg führte ihn übers Riesengebirge nach Flinsberg, bis er 1946 ausgewiesen wurde. Er fand mit seiner Familie in Emmerstedt eine Bleibe, wo er sich sofort wieder für das Allgemeinwohl einsetzte. Sehr vielen Schicksalsgefährten half er, so auch als Ortsvertrauensmann für die Schadensfeststellung. In seiner Umgebung genoß er bald das Vertrauen der Menschen und war von 1952 bis 1953 Gemeinderatsmitglied und stellv. Bürgermeister. Auch am Aufbau des "Lübener Heimatblattes" beteiligte er sich trotz nachlassender Gesundheit mit Rat und Tat. Am 3. Januar 1967 verstarb Erwin Vetter in Hillerse, wo er bei einer Tochter seinen Lebensabend verbracht hatte.


Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muß man es aber vorwärts. Søren Kierkegaard