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Frau Dr. Gudrun Fleischer, Enkelin des Stadtmüllers Fritz Müller, fand diesen Brief im Nachlass ihrer Eltern. Deren Freund Max Berndt berichtet darin im Frühjahr 1946 über sein Schicksal und was er über andere Lübener weiß. Viele bekannte und weniger bekannte Lübener werden erwähnt.
Eisenach, den 25.3.1946
Geehrte Familie Müller!
Heut erhielt ich mit Dank Ihre werte Karte.
Frau Prokop hatte schon mitgeteilt, daß Sie sich
nach meiner Adresse erkundigt hatten, und wir
erwarteten schon lange eine Nachricht. Gesundheit-
lich geht es uns gut, was wir auch von Ihnen
hoffen. Gerade beim Schreiben dieser Zeilen bekam
ich unverhofften Besuch, mein Schwager Rindfleisch,
kam aus Bayern, wo er sich mit seiner Familie
aufhält und hatte uns aufgesucht, auf der
Reise nach Berlin. Ob er hier wird in Arbeit gehen,
wenn sich etwas Passendes findet, ist noch
nicht aus.
Nun will ich Ihnen etwas von unserem Zigeuner-
leben schildern. Also in der Nacht vom 27./28.1.1945
sind wir aus Lüben geflüchtet, wo alles schon
um uns her brannte und der Flugplatz gesprengt
wurde. Um ½ 3 Uhr verließen ich und meine Frau
mit den Habseligkeiten auf dem Rodelschlitten
unsere schöne Heimat in Richtung Altstadt. Hier
staute sich alles schon. Ich hatte da unseren
Schmidt Robert aus der Gasanstalt getroffen
und zusammen fuhren wir mit vielen, vielen
Leidensgenossen über Groß- und Kleinkrichen in
Richtung Birke, welche wir bei Tagesgrauen
erreichten. Hier fand man schon viele Lübener
vor. Der Gertig-Bäcker saß ganz verdattert in
einer Ecke und wartete der Dinge, die da kom-
men sollten. Nach einem kleinen Imbiß ging es
wieder weiter in Richtung Haynau. Auf der Land-
straße regelte der Kreisleiter im Auto den Verkehr.
Es durfte niemand mehr über Kotzenau
weiter, weil die "Muna" gesprengt wurde.
Nachmittag 5 Uhr landeten wir in Haynau
auf dem Bahnhof, wo wir uns 2 Tage und
Nächte aufhalten mußten, um weitertranspor-
tiert zu werden. In Sabitz hatte sich Hinke*
aus der Gasanstalt uns angeschlossen.
Meine Tochter hatte ja schon am Freitag
mit Fräulein Hahn vom Arbeitsamt schon Lüben
verlassen. Endlich am zweiten Tage wurden
wir in einem neu aufgestellten Zuge weiter-
befördert, denn der Zustrom an Flüchtlingen
nahm immer mehr zu. Es ging nun so bis
Kohlfurt weiter, aber hier wurde wieder Halt
geboten. Niemand wußte wohin mit uns.
Kurz entschlossen haben wir unsere Sachen
wieder aufgeladen und wollten zu Fuß
nach Görlitz, wo wir uns verabredet hatten
zu treffen. Kurz hinter Kohlfurt trafen wir
* Richard Hinke (1879-1973)
ein Fuhrwerk von Gadebusch mit Dentist
Mayer und Lübener Arbeitern, welche noch Kinder
aus Altstadt geholt hatten, die ihre Eltern
zurückgelassen hatten. In Rothwasser wurden
wir von einer Eisenbahnerfamilie zum
Nachtquartier aufgenommen, um nächsten Tag
weiter zu ziehen. Aber leider konnten wir vor
Schneewehen nicht weiter und mußten wieder
da bleiben, wenn wir hatten ja Zeit. Auch andern
Tags ging es nicht weiter, denn da hatte
es gestaut. So sind wir mit der Kleinbahn
über Kohlfurt und Görlitz gekommen. Die
zurückgelassenen Sachen habe ich mir dann
geholt. Wir wurden bei unserer Verwandten
in Görlitz, welche eine Gastwirtschaft besaß,
gut aufgenommen, wo wir auch gedachten
hier zu bleiben. Nur drei Wochen sollte uns das
Glück beschieden sein. Am 28. Februar bekamen
wir die Aufforderung von der Partei, Görlitz zu
verlassen, widrigenfalls wir keine Lebensmittel
erhielten. So sind wir dann mit den Verwandten
und dem Dienstmädchen auf gut Glück
über Dresden, Riesa, Falkenberg, Halle in Eisenach
gelandet in unserer Tochter Wohnung in der
Panzerkaserne. Unsere Tochter hatte schon die
Wohnung mit Beschlag belegt, denn die andere
Tochter war mit ihren drei Kindern noch nicht
hier. Sie befand sich mit dem Treck vom
Dominium Ossig noch unterwegs, wo - wußten
wir auch nicht. Hier ging es ja vorläufig zum
Aushalten. Unsere Schwägerin Frau Schneidermstr.
Kühn vom Bleicherdamm hatte sich auch in
Görlitz angeschlossen. Hier merkte man noch
nichts vom Krieg, nur Tag und Nacht Flieger-
alarm. Noch eine gute Seele (?) aus Lüben traf
ich hier beim O.K.W.*, Herrn Rechtsanwalt
Müller-Osten, welcher von Berlin in unseren
Block* übergesiedelt war. Er staunte, daß
wir uns hier mußten wiedersehen. Am
6. April kamen dann die Amis, wiewohl sie
schon tagelang Eisenach umgangen hatten
in Richtung Erfurt. Aber in der Kaserne konnten
wir nicht mehr länger bleiben, denn das ganze
ausländische Volk plünderte, was es nur
habhaft werden konnte. Eine Wohnung
bekamen wir zugewiesen und so retteten
wir unseren Angehörigen die Möbel und
Sachen bis auf diejenigen, welche uns noch
gestohlen wurden. So haben wir dann gemeinsam
* Oberkommando der Wehrmacht
* Block: hier: Besatzungszone
gelebt, bis der Schwiegersohn aus Gefangen-
schaft kam und unsere Tochter mit Kindern
zurückholte aus Sachsen, wo sich der
Ossiger Treck niedergelassen hatte. Meine
Tochter hat wieder eine Stelle als Stenotypistin
und ich bin in einem Kohlengeschäft be-
schäftigt seit August, mit dem Schwieger-
sohn zusammen. Wir bewohnen jetzt zu 3
Personen ein möbliertes Zimmer im selben Hause.
In der Zwischenzeit im Herbst war ich auch
schon einmal in Görlitz, wo ich die Verwandte
zurückbrachte und 2x in Sachsen, bei Oschatz
wo Inspektor Hentschel-Ossig mit Familie
untergebracht ist, bei einem Gutsbesitzer.
In der Nähe sind auch Mallmitzer Besitzer
untergebracht. In Mügeln, Kr. Oschatz, war auch
Herr Grabmann, Zucker vom Raiffeisen und noch
viele Lübener. So hat man in dem verflossenen
Jahr viel, viel erlebt. Aber daß es so würde kommen,
haben wir bei unseren Unterhaltungen nicht
vorausgesehen, "Heut gehört uns Deutschland
und morgen die ganze Welt." Da wird wohl
Ihnen, Herr Nagel*, die braune Hose weiß geworden
sein. Wo ist denn Bell* geblieben, der
* ein Paul Nagel aus Lüben (geb. 1896) wird in der DRK-Liste der Zivil-Verschollenen genannt
* der Name Bell ist in den Unterlagen über Lüben nicht aufgetaucht.
doch auch mit Ihnen geflüchtet sein soll?
Dessen Schnurrbart wurde ja auch in der Nazizeit
immer länger vor lauter Siegeszuversicht.
Herr Fichtner, welcher bei Hoffmann Hugo, Turn-
platz wohnte und dann nach Posen an das
Finanzamt kam, schrieb mir heut, daß
Bäcker Gertig in Weimar eine Bäckerei inne
hätte und August Pfeiffer, Ihr früherer Nach-
bar sich dort als Kaufmann betätigte. Wie
weit es auf Wahrheit beruht, muß ich erst
nachprüfen, dann folgt die Abkühlung.
Zeilfelder Heinrich hatte sich ja auch einmal
hier sehen gelassen, bei seiner Kassiererin
als er aus Gefangenschaft kam. Den
hat man bald nicht mehr wieder erkannt. Wo er
jetzt ist, wissen wir augenblicklich nicht,
aber er wird schon wieder einmal auftauchen,
denn die ganze Familie Seeliger ist hier.
Auch Drogist Krüger von der Steinauerstr.
Mehwald Schmieds Familie ist in Ruhla.
Ihn selbst haben die Polen verschleppt. Bis
Dezember 1945 sind Mehwalds in Lüben gewesen,
weil er für die Polen gearbeitet hat.
Mit Rosenau, Eigert Bruno, Kube Hermann,
stehe ich in regem Briefwechsel. Wir tauschen
uns gegenseitig Neuigkeiten aus. Die Hoff-
männer haben ja wieder eine neue Einlegerei
bei Magdeburg gegründet und Münster-
Ewald ist da Aufkäufer, den ich einmal
in Chemnitz traf, wo er Moli (Dr. Molinski!) besucht hat,
der in Leisnig eine Praxis hat. Arbeit gibt es
hier genug. Heut nacht haben wir um 3 Uhr
angefangen, Kohlen auszuladen und gearbeitet
bis mittag ½ 1 Uhr. Mein Schwager Kühn
ist auch vom Volkssturm heimgekommen
in Leuna (?) und arbeitet als Schneider.
Seine Frau hat der Schlag gerührt und
meine Frau muß sie betreuen und die Krankheit
nimmt keine Besserung. Sie können sich denken
welche Arbeitslast auf meiner Frau lastet, wo
man noch nichts sein eigen nennen kann.
Die Thüringer sind ein toller Menschenschlag,
das können Sie sich nicht vorstellen, weil
sie nichts vom Krieg gespürt haben, aber man
darf sich nicht auf den Zehen herumtreten
lassen als 2 Sorten Menschen.
Aber es läßt sich hier unter dem Russen leben.
Es wird für Arbeit gesorgt, während der Ami
nichts unternommen hat.
So, meine Familie Müller, hätte ich Ihnen
wohl genügend erzählt und Sie dürften wohl
genügend wissen. Aber in Zukunft wenn
Sie wieder etwas wissen wollen, stehe ich
Ihnen gern bereit. Auch bezüglich Adresse.
Also bitte grüßen Sie Ihren Meister nebst
Frau und Familie Nagel.
Mit vielen Grüßen verbleibt Ihr
Max Berndt nebst Frau und Tochter
(15) Eisenach/Thüringen
Rennbahn 48/II
(beantwortet am 19.5.1946)
Max Berndt und Ehefrau Berta geb. Rindfleisch mit der gemeinsamen Tochter und ihren Kindern aus erster Ehe
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